In Deutschland sind 4,4 Millionen Kinder arm

In Deutschland sind 4,4 Millionen Kinder von Armut betroffen. Das erklärte der Vorsitzende des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB), Heinz Hilgers, am 22. August. Die Bundesregierung hatte offiziell eine Zahl von 3 Millionen armen Kindern mitgeteilt. Im Jahr 2017 lebten in Deutschland ungefähr 13,4 Millionen Kinder und Minderjährige unter 18 Jahren.

Wie Hilger erläuterte, haben „konservative Berechnungen“ seiner Organisation die deutlich höhere Zahl ergeben. Er sagte: „Die Verschleierungsmethoden der Ministerien funktionieren gut.“ Hilger kritisierte Regierung und Behörden scharf und warf ihnen indirekt vor, die Menschen durch abschreckende Bürokratie davon abzuhalten, Leistungen zu nutzen, auf die sie Anspruch haben.

Die vom DKSB beschriebenen Verhältnisse sind gravierend. Sie betreffen die Kinder von mittellosen Familien, die durch Lohnkürzungen, Sozialabbau und öffentliche Sparmaßnahmen immer tiefer in Not und Perspektivlosigkeit getrieben werden. Auf seiner Website erklärt der Kinderschutzbund, wie seine Schätzung einer zusätzlichen Dunkelziffer von 1,4 Millionen zustande kam:

Die Zahl von drei Millionen, die die Regierung zugrunde legt, entspricht der Zahl der Kinder, denen der Staat Sozialleistungen zahlt, um ihr Existenzminimum zu sichern. Allerdings gibt es zehntausende Familien, die zwar Anspruch auf Hartz IV, Kinderzuschlag oder Wohngeld haben, dies alles aber nicht oder nur teilweise in Anspruch nehmen. Berücksichtigt man auch diese, dann ist die Zahl der in Armut lebenden Kinder deutlich höher.

Auf eine Kleine Anfrage der Grünen vom 18. Juni 2018 im Bundestag gab die Regierung bekannt, dass nur etwa 50 Prozent der Berechtigten ergänzende Leistungen nach Hartz IV in Anspruch nehmen, um bei einer schlecht bezahlten Erwerbstätigkeit „aufzustocken“. Das allein wirkt sich auf etwa 850.000 Kinder unter 18 Jahren aus, die bisher in keiner Armutsstatistik auftauchen. Hinzu kommen nach Berechnungen des Kinderschutzbundes zusätzlich 190.000 Kinder, deren Eltern nicht erwerbstätig sind und ebenfalls keine Leistungen beanspruchen.

Hinzu kommt, dass außerdem bis zu 70 Prozent derjenigen, die Anspruch auf Kinderzuschläge haben, auch diese nicht in Anspruch nehmen. Der DKSB zitiert den Familienreport 2017 des Bundesfamilienministeriums, demzufolge nur 30 bis 40 Prozent der Berechtigten den ihnen zustehenden Kinderzuschlag abrufen, was weitere 350.000 Kinder unter 18 Jahren betrifft.

Nach Hilgers‘ Ansicht wirken sich auch nicht abgerufenes Wohngeld und nicht beantragte weitere Sozialleistungen auf die Armut der Kinder aus. „Zählen wir alles zusammen, kommen wir konservativ gerechnet auf eine Dunkelziffer von 1,4 Millionen Kindern“; heißt es auf der DKSB-Website. „Alle diese Kinder sind offiziell nicht arm, doch sie fallen durch das Raster unseres Sozialstaates, weil der Dschungel der Leistungen für viele Eltern undurchdringlich ist.“

Diese Situation und die damit verbundenen Zahlen sind der Bundesregierung zweifellos bekannt. Hilger weist darauf hin, dass Methode dahinter stecken könnte. Er fordert die Regierung auf, „energisch“ Abhilfe zu schaffen, „wenn sie sich nicht dem Verdacht aussetzen will, die nicht in Anspruch genommenen Leistungen schon im nächsten Haushaltsplan fest einzukalkulieren – auf der Habenseite“.

Die rasch wachsende Armut von Kindern und Jugendlichen hat potentiell revolutionäre Konsequenzen. In den USA ergab die jüngste Gallup-Umfrage, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen den Sozialismus dem Kapitalismus vorziehen. In Europa ergab 2017 eine Befragung von fast einer Million jungen Erwachsenen, dass die allermeisten Jugendlichen kein Vertrauen mehr in die bestehenden Institutionen haben, und dass sich eine Mehrheit von etwa 60 Prozent an einem „großen Aufstand“ beteiligen würde.

Die Bertelsmann-Stiftung, die bei deutschen Studien zur Kinderarmut tonangebend ist, warnt die Politiker in einer aktuellen Studie vor den Gefahren, die daraus erwachsen könnten, dass jeder dritte Jugendliche arm aufwächst. In ihrer diesjährigen Studie, „Aufwachsen in Armutslagen“, schreiben die Autoren: „Dies birgt die Gefahr, dass sie sich aufgrund ihrer Perspektivlosigkeit von der Gesellschaft abkoppeln – mit weitreichenden Folgen (…) Je niedriger der sozioökonomische Hintergrund, desto geringer die Wahlbeteiligung. Gerade in Zeiten einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft sollte dies ein Warnsignal sein.“

Die Bertelsmann-Stiftung arbeitet bei ihren Studien eng mit dem staatlichen Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zusammen und verwendet dessen statistisches Material. Das IAB berät sowohl die Bundesagentur für Arbeit als auch Regierungsstellen, darunter das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Zu seinen Aufgaben gehört es, frühzeitig vor sozialen Verwerfungen zu warnen und Strategien zu entwickeln, um Konflikte ideologisch zu entschärfen.

Die Bertelsmann-Stiftung tritt im Gewande eines Anwalts der in Armut lebenden Kinder auf. Beispielsweise beschreibt die Stiftung in der Studie „Aufwachsen in Armutslagen“, wie arme Kinder auf vielfältige Weise benachteiligt sind. Während die Autoren dabei betonten, dass ein zentraler Einflussfaktor die Frage sei, ob die Mütter Arbeit haben, erwähnen sie jedoch mit keinem Wort die Lohnsenkungen der vergangenen Jahre. Dabei hat diese allgemeine Zerstörung der Lohnstruktur dazu geführt, dass heute vierzig Prozent der abhängig Beschäftigten weniger als vor zwanzig Jahren verdienen.

Seit Jahrzehnten haben wechselnde Regierungen aller etablierten Parteien die Lohnstruktur und den Lebensstandard der Arbeiterklasse systematisch unterhöhlt. Das begann schon mit der Wiedereinführung des Kapitalismus im Osten, als die SED, die Vorläuferin der PDS und der heutigen Linkspartei, mit dem Aufbau der Treuhandanstalt die Zerschlagung und Privatisierung tausender volkseigener Industriebetriebe einleitete.

Auf dieser Grundlage organisierte die CDU-geführte Regierung unter Helmut Kohl, gestützt auf SPD, Gewerkschaften und SED-Nachfolgepartei PDS (später Die Linke) die massivste Lohnsenkung der Nachkriegszeit. Auf die schändlichen Tarifabschlüsse der IG Metall und der ÖTV folgten die Einführung der Pflegeversicherung, das Gesetz zur Änderung der Arbeitszeitordnung und weitere Gesetze zur Abschaffung sozialer Errungenschaften der Arbeiterklasse.

In einem Artikel der Neuen Arbeiterpresse vom 18. März 1994 hieß es dazu: „Dem Ziel, die Arbeiter politisch zu lähmen und Regierung und Unternehmen Schützenhilfe bei ihren Angriffen zu leisten, dient auch das systematische Spalten der Arbeiter in Ost und West, von Betrieb zu Betrieb, von Industriezweig zu Industriezweig und von Land zu Land.“ Die Neue Arbeiterpresse war die Zeitung des damaligen Bunds Sozialistischer Arbeiter (BSA), des Vorläufers der Sozialistischen Gleichheitspartei.

Als der Widerstand gegen die CDU-FDP-Koalition 1998 zum Regierungswechsel führte, übernahm die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) das Ruder. Sie führte mit der Agenda 2010 und den Hartz IV-Gesetzen eine besonders skrupellose Attacke gegen die Arbeiterklasse aus. Parallel dazu ermöglichte sie den ersten Auslandseinsatz der Bundeswehr.

Darauf konnte die Koalition aus CDU/CSU und SPD aufbauen, die seit fünf Jahren eine massive außen- und sicherheitspolitische Wende vollzieht. Um ihr militaristisches Großmachtprogramm durchzuführen, setzt sie innenpolitisch die schärfsten Angriffe auf die Arbeiterklasse seit den 1930er Jahren durch.

Wie der Deutsche Kinderschutzbund festgestellt hat, ist den Bundespolitikern das wahre Ausmaß und die rasche Ausbreitung von Kinderarbeit sehr wohl bekannt. Die Regierung hat sie selbst gezielt herbeigeführt. Hilger schreibt: „Diese Zahlen könnte die Bundesregierung auch klar nennen, aber das will sie offenbar nicht.“

Weshalb beschönigt die Bundesregierung die tatsächlichen Verhältnisse? Es geht ihr um eine bewusste Verschleierungspolitik, um die Arbeiterklasse einzulullen und vom Kampf abzuhalten. Gleichzeitig beweist die enge Zusammenarbeit von Politik und Staat mit der AfD, dass sie im Hintergrund fieberhaft diktatorische Herrschaftsformen vorbereiten.

Keine der im Bundestag vertretenen Oppositionsparteien ist bereit, dagegen offen aufzutreten. Bezeichnend für die Haltung der Grünen zur Kinderarmut ist ein Kommentar ihrer Heinrich-Böll-Stiftung zum CDU/SPD-Koalitionsvertrag, in dem lapidar festgestellt wird: „Die fehlenden Ambitionen beim Kampf gegen Kinderarmut lassen befürchten, dass auch in den kommenden vier Jahren die Situation armutsbetroffener Kinder und Familien nicht verbessert werden kann.“

Die Linke hat, wie auch die Grünen, die Einführung einer Kindergrundsicherung über 328 Euro vorgeschlagen. Das sind halbherzige Reformen, die nicht von den Forderungen derselben Parteien nach massiver Polizeiaufrüstung zu trennen sind. Darauf zu hoffen, dass der Kapitalismus, dieses auf privaten Profit ausgerichtete Wirtschaftssystem, eine 180-Grad-Wende vollziehen und der jüngsten Generation eine sichere Zukunft bieten werde, ist eine gefährliche Illusion.

Sowohl das Kinderhilfswerk als auch der Kinderschutzbund haben eine politische Gesamtstrategie gefordert und argumentieren, dass Einzelmaßnahmen wie eine Erhöhung des Kindergelds, ein Kindergeldzuschlag oder andere Leistungen nicht mehr zielführend seien. Eine grundlegende Lösung kann allerdings nur eine Arbeiterregierung herbeiführen, die die Gesellschaft nach den Bedürfnissen der arbeitenden Menschen organisiert und sozialistische Verhältnisse schafft.

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