Niederlande: Streik- und Protestwelle im öffentlichen Dienst

In den Niederlanden wächst der Widerstand gegen die unsoziale Politik der etablierten Parteien und auch der Gewerkschaften. Seit Beginn dieses Jahres gab es mehr Streiks als im gesamten letzten Jahr, das mit 32 Arbeitsniederlegungen bereits den höchsten Stand seit 1989 erreicht hatte. Im Zentrum der Proteste stehen die Grundschullehrer.

Seit über einem Jahr haben wiederholt Tausende von ihnen gestreikt und gegen ihre niedrige Bezahlung und steigende Arbeitsbelastung protestiert. Der größte Protest fand am 5. Oktober letzten Jahres mit 60.000 Lehrern in Den Haag statt, dem Sitz von Regierung und Parlament. In den Niederlanden leben rund 17 Millionen Menschen. Ein Jahr danach, am Dienstag den 2. Oktober, wollen die Lehrer – diesmal gemeinsam mit anderen Beschäftigten im öffentlichen Dienst – erneut in Den Haag demonstrieren.

Die Grundschule umfasst in den Niederlanden die ersten acht Klassen. Eingeschult werden die Kinder mit dem vierten Lebensjahr, bis zum Alter von zwölf Jahren besuchen sie dann die sogenannte „Basisschool“. Rund 20 Prozent der Grundschullehrer leiden unter Burnout-Symptomen, wie eine nationale Studie ergab, die zwischen 2011 und 2015 vom Zentralen Statistikamt (CBS) durchgeführt wurde. In keiner anderen Berufsgruppe ist die Zahl der chronisch Überarbeiteten so hoch.

Auch die Bezahlung der Grundschullehrer liegt weit unter dem Durchschnitt. Mit einem Ausgangsgehalt von monatlich 2.346 Euro verdienen sie rund 30 Prozent weniger als der durchschnittliche Akademiker. Das führt dazu, dass immer weniger sich für diesen Beruf entscheiden. Für den Grundschulsektor werden in den nächsten zehn Jahren fast 11.000 unbesetzte Stellen vorhergesagt.

Die anhaltenden Proteste haben jedoch zu keiner erheblichen Verbesserung der Situation geführt. Die Gewerkschaften haben einen ab September geltenden neuen Tarifvertrag für Grundschullehrer ausgehandelt, der lediglich ein Gehaltsplus von 2,5 Prozent und eine Einmalzahlung von 750 Euro vorsieht. Die niederländische Regierung wies darauf hin, dass sie zusätzliche 270 Millionen Euro in die Gehälter investiere. Die Grundschullehrer hatten jedoch 1,4 Milliarden Euro mehr verlangt.

Das erneute Anschwellen der Streik- und Protestbewegung entzündete sich an der Ankündigung der Regierung, die Dividendensteuer für Finanz- und Großkonzerne abzuschaffen. Diesen werden so jedes Jahr zwischen 1,4 und 2 Milliarden Euro in den Rachen geworfen. Schon jetzt gelten die Niederlande als Steuerparadies. Gleichzeitig soll die vergünstigte Mehrwertsteuer, die z. B. auf Medizin und Lebensmittel erhoben wird, von 6 auf 9 Prozent erhöht werden. Die allgemeine Mehrwertsteuer beträgt schon jetzt 22 Prozent.

Die Regierung stützt sich auf vier Parteien: Die neoliberale VVD von Regierungschef Mark Rutte, die Christdemokraten (CDA), die ehemals linksliberale D66 und die kleine christlich-konservative Partei CU.

Die soziale Ungleichheit nimmt in den Niederlanden seit Jahren zu. Von den insgesamt 4,8 Millionen Haushalten mit zwei oder mehr Personen zählen 112.000 zu den Millionärsfamilien. Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung kontrollieren 68 Prozent des gesellschaftlichen Vermögens oder 726 Milliarden Euro, während die ärmsten 10 Prozent Schulden von 65 Milliarden Euro haben. Mehr als eine Million Menschen leben offiziell in Armut. Im Jahr 2017 lieferte die „Food-bank“, ein Sozialprogramm für die Ärmsten, fast 40.000 Lebensmittelpakete pro Woche an Bedürftige aus. Rund 132.500 Menschen waren von diesem Programm abhängig.

Die realen Löhne stagnieren oder sinken. Fast jeder Fünfte (19 Prozent) arbeitet in einer Branche, in der die durchschnittliche Kaufkraft im letzten Jahr geringer war als im Jahr 2000. Auch in diesem Jahr werden die Verbraucherpreise stärker steigen als die meisten nominalen Lohnerhöhungen, nämlich um 2,1 Prozent. Das prognostizierte das Zentrale Statistikamt erst kürzlich. Ein Hauptgrund dafür sind, wie in vielen anderen Ländern auch, die steigenden Hauspreise und Mieten, insbesondere in großen Städten wie Amsterdam, Rotterdam, Den Haag und Utrecht. Dort stiegen die Hauspreise im zweiten Quartal dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr zwischen 11,9 und 14,4 Prozent.

Gleichzeitig sind in den letzten zehn Jahren rund 80.000 Wohnungen jährlich zu wenig gebaut worden. Innenministerin Kajsa Ollongren von der ehemals linksliberalen D66 hat angekündigt, in den nächsten zehn Jahren 70.000 Wohnungen pro Jahr zu bauen, was das grundlegende Problem aber nicht lösen wird. In der Zwischenzeit verkaufen große Sozialwohnungsunternehmen den größten Teil ihrer Immobilien und investieren das Geld an den Börsen – oder in die hohen Gehälter ihrer Geschäftsführer und Vorstände.

Besonders für junge Erwachsene und in Teilzeit oder befristet beschäftigte Arbeiter wird es immer schwieriger, einen Hauskredit zu bekommen. Die Zahl flexibler Verträge über Zeitarbeitsfirmen hat stark zugenommen, immer mehr Menschen arbeiten in zwei oder drei Teilzeitstellen. Nirgendwo auf der Welt war der Anstieg der niedrig bezahlten Zeitarbeitsplätze so hoch wie in den Niederlanden.

Diese Entwicklung, die sich nach der Weltfinanzkrise 2008 beschleunigte, hat dazu geführt, dass die sozialdemokratische Partei PvdA (Partij van de Arbeid) und die Gewerkschaften zusammengebrochen sind. Die Organisationen, die jahrzehntelang im Rahmen des mit dem Vertrag von Wassenaar Ende 1982 begründeten „Poldermodells“ den sozialen Ausgleich gepredigt und den Sozialabbau organisiert hatten, sind nahezu kollabiert. Waren 1960 noch vier von zehn Arbeitern Mitglied einer Gewerkschaft, waren es im Jahr 2017 weniger als zwei von zehn.

Bei den niederländischen Wahlen im März 2017 verlor die PvdA 29 ihrer 38 Mandate. Sie ist nur noch mit neun Abgeordneten im neuen Parlament vertreten. Bei den nur eine Woche später stattfindenden Kommunalwahlen erhielt die PvdA lediglich etwa 7 Prozent der Stimmen.

Während die Arbeiterklasse nach einem Ausweg aus dem ständigen sozialen Niedergang sucht, ist das gesamte politische Establishment nach rechts gerückt. Dazu zählen auch die Ex-Maoisten der Sozialistischen Partei (SP), die im Wahlkampf die nationalistische und ausländerfeindliche Stimmung unterstützten.

Seit Dezember 2017 leitet die 32-jährige Tochter des langjährigen Vorsitzenden Jan Marijnissen die SP-Fraktion im niederländischen Parlament. Lilian Marijnissen hat ausdrücklich erklärt, dass sie mit einer rechten Kampagne Wähler der rechten Partei PVV von Geert Wilders „zurückholen“ wolle. Den Migranten schrieb Marijnissen ins Heft: „Wenn du hier lebst, hast du dich nach den niederländischen Umgangsformen zu richten. Da machen wir keine Zugeständnisse.“ Der SP-Parteivorsitzende Ron Meyer, erklärte, die Partei werde aktivistischer, oppositioneller und nationaler.

Unter diesen Bedingungen haben sich Aktionskomitees gegründet, die die Proteste und Streiks organisieren.

Am Anfang stand „PO in Actie“, eine Initiative, die sich aus inzwischen rund 44.000 Lehrerinnen und Lehrern der Grundschulen zusammensetzt. Mittlerweile haben sich auch Lehrer der Sekundarschulen (VO in Actie), der Mittel- und Berufsschulen (MBO in Actie), der höheren Schulen (HBO in Actie) und der Universitäten (WO in Actie) gegründet. Sie alle fordern mehr Personal, weniger Arbeitsbelastung und höhere Löhne.

Doch über den Weg, wie diese Forderungen erfüllt werden können, wird in den sozialen Netzwerken heiß debattiert. Die „PO in Aktion“ der Grundschullehrer hatte zuletzt eine gemeinsame „Front“ (PO-Front) mit den christlichen und sozialdemokratischen Gewerkschaftsdachverbänden (CNV und FNV), der Lehrergewerkschaft Aob und den Schulleitungen gebildet. Für den Protest am 2. Oktober hat nun ein Bündnis aus über 21 Organisationen – auch hier Aktionskomitees und Gewerkschaften gemeinsam – ihre Mitglieder und auch andere Beschäftigte im öffentlichen Dienst zur Teilnahme aufgerufen, darunter die Beschäftigten des Gesundheitssektors, aber auch der Polizei und des Militärs.

Während Polizisten ohnehin nicht teilnehmen wollen – sie stehen am 2. Oktober auf der anderen Seite – sind auch die Angehörigen des Militärs nicht die „Verbündeten“ der Lehrer. Während die Lehrer mit einer 2,5-prozentigen Lohnerhöhung abgespeist wurden, erhalten die Militärangehörigen und Soldaten bereits ab Anfang des Jahres 4 Prozent mehr Gehalt. Das niederländische Militär erhält einen Zuschuss von 1,5 Milliarden Euro, die vornehmlich in die Instandsetzung und in Personal investiert werden sollen. 2500 neue Stellen sollen entstehen.

Bislang zählen keine Parteien zu den Unterstützern der Proteste. Doch zum Protest der Grundschullehrer in Den Haag im Juni letzten Jahres waren auch die weithin verhassten Parteien eingeladen worden. Dabei durften nicht nur die Sozialdemokraten der PvdA ihre verlogenen Forderungen verbreiten, sondern selbst die rechte Wilders-Partei PVV.

Um die Forderungen der Lehrer und letztlich aller Arbeiter in den Niederlanden nach auskömmlichen Löhnen, Gehältern, Renten und angemessenen Sozialleistungen durchzusetzen, müssen Aktionskomitees gegründet werden, die völlig unabhängig von den offiziellen Parteien und den Gewerkschaften sind. Diese müssen über die notwendige politische und soziale Ausrichtung ihres Kampfs diskutieren. Denn letztlich sind die mehr als berechtigten Forderungen nur durchzusetzen, wenn den Unternehmen und dem Staatsapparat die Verfügungsgewalt über den gesellschaftlichen Reichtum streitig gemacht wird – d.h. mit einem sozialistischen Programm.

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