Unmut steigt bei Amazon – auch gegen Verdi

Bei Amazon-Deutschland wurde kurz vor und nach Ostern und zuletzt am 2. Mai wieder gestreikt. An den Arbeitsniederlegungen beteiligten sich an fünf der neun Standorte – Bad Hersfeld, Leipzig, Rheinberg, Werne und Koblenz – mehrere Hundert Arbeiter. Mit Slogans wie „Amazon macht krank“ machten sie auf die gnadenlose Ausbeutung beim weltgrößten Versandhändler aufmerksam.

„Relentless“ („unerbittlich“, „gnadenlos“), so sollte der Name des Konzerns ursprünglich lauten. Und wer heute „relentless.com“ in seinen Browser eintippt, der landet noch immer bei Amazon, dem Versandhandelskonzern im Besitz des Multimilliardärs Jeff Bezos.

Den jüngsten Zahlen zufolge verdient Bezos in jeder einzelnen Minute fast so viel wie ein Amazon-Arbeiter im Jahr (um die 25.000 Dollar). Vor kurzem wurde der Multimilliardär zur zweitreichsten Person der Welt (hinter Bill Gates) erklärt. Sein Vermögen übersteigt mit über achtzig Milliarden Dollar jenes sämtlicher Beschäftigter in allen Amazon-Büros und Lagerhäusern zusammengenommen.

Amazon hat bisher Versandzentren in 31 Ländern eingerichtet, und in jedem dieser Zentren hat Bezos ein wahrhaft gnadenloses Ausbeutersystem errichtet, um den größtmöglichen Profit aus den Arbeitern zu pressen. So auch in Deutschland, wo der Konzern bisher neun Versandhäuser mit rund 12.000 Beschäftigten betreibt, die Zeitarbeiter für das Weihnachtsgeschäft nicht mitgerechnet.

Die Arbeit ist in allen Amazon-Zentren auf der ganzen Welt praktisch gleich organisiert und streng überwacht. Sie verteilt sich auf die zwei Bereiche inbound und outbound. Zum inbound gehört die Entladung von LKWs, das Erfassen der Ware mit dem Scanner (receive) und das Verstauen im Lager (stow). Im outbound werden die Waren nach Kundenbestellung aus den Regalen geholt (pick), die Pakete verpackt (pack) und in den Lastwagen auf die Reise geschickt (ship).

In den langen Schichten müssen die Arbeiter strenge Mindestnormen erfüllen. Ihre Wegezeiten werden nicht bezahlt und fallen in die kurzen Pausenzeiten. Als Picker legen die Arbeiter täglich bis zu zwanzig Kilometer lange Strecken zurück, um die Bestellungen zusammenzutragen. Über einen Scanner wird jeder Schritt, jeder Handschlag – auch jede Verschnaufpause – erfasst und registriert.

Mit einem Einstiegs-Stundenlohn von 10,30 Euro verdienen die Amazon-Mitarbeiter so wenig, dass die meisten auf die Prämien für überdurchschnittliche Leistungen angewiesen sind. Für Unmut sorgt besonders ein Bonussystem mit Gesundheitsprämie, das sich nach der ganzen Gruppe richtet. Das System soll bisher in fünf Logistikzentren Anwendung finden.

Wie die Süddeutsche Zeitung aufdeckte, müssen Amazon-Arbeiter, um die Prämie von maximal zehn Prozent des Bruttolohns zu erhalten, zunächst eine Höchstleistung erbringen (vier Punkte). Die restlichen sechs Punkte sind an die Gesundheit geknüpft: Hat man selbst keine Fehlzeiten wegen Krankheit (drei Punkte), kann man den maximalen „healthbonus“ trotzdem nur erreichen, wenn auch das ganze Team, in dem man arbeitet, keine oder wenige Fehlzeiten aufweist.

Mit dem System werden Arbeiter unter Druck gesetzt, sich auch dann auf die Arbeit zu schleppen, wenn es ihnen schlecht geht und sie sich eigentlich auskurieren müssten. Die Maßnahme spielt die Beschäftigten gegen einander aus und trägt dazu bei, das Arbeitsklima zu vergiften. Sie drängt besonders ältere und chronisch kranke Kollegen ins Abseits.

Das Management hat die Maßnahme mit dem Krankenstand begründet, der bei Amazon-Deutschland ungewöhnlich hoch sei, hat selbst jedoch keine Zahlen genannt. Laut der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi liege der Krankenstand zeitweise bei zwanzig Prozent, normal seien um die vier Prozent.

In Wirklichkeit ist der Grund für den hohen Krankenstand natürlich die extrem harte, Kräfte zehrende Arbeit. Die ständige Hetze, der Arbeitsdruck und die permanente Kontrolle erschöpfen auf Dauer die physische und psychische Gesundheit.

Die Amazon-Arbeiter haben jedes Recht und allen Grund, gegen diese Ausbeuterbedingungen auf die Straße zu gehen und zu streiken. Die von Verdi organisierten Mini-Streiks dienen jedoch einem völlig anderen Zweck. Der DGB-Gewerkschaft geht es weder um die Verbesserung der Löhne, noch um Schutz und Sicherheit für die Beschäftigten. Ihr geht es im Wesentlichen darum, in einer explosiven sozialen Situation die Kontrolle zu bewahren.

Seit Mai 2013 hat Verdi immer wieder ein- bis zweitägige Streiks und Proteste organisiert, um einen Branchentarifvertrag durchzusetzen. Das ist seit mittlerweile vier Jahren ihre Hauptforderung. Damit will sie erreichen, dass Amazon die Gewerkschaft als Partner auf Augenhöhe akzeptiert, um den Betrieb in Deutschland zu kontrollieren.

Verdi hat sich erst fünf Jahre nach Einrichtung der ersten Amazon-Hallen eingeschaltet, als ein Fall krasser Ausbeutung die Schlagzeilen der Presse bestimmte. Im Jahr 2013 wurden ausländische Leiharbeiter bei Amazon so mies behandelt und erniedrigt, dass der Ausbruch wilder Streiks unmittelbar bevorstand. Da begann Verdi, Streiks zu organisieren, um auf kontrollierte Weise Dampf abzulassen.

Seither erhebt die Gewerkschaft ihre Hauptforderung eines Branchentarifvertrags nach dem Modell des deutschen Einzel- und Versandhandels. Dieser würde nur wenige Cent über den Löhnen liegen, die die Amazon-Mitarbeiter heute verdienen. Das Amazon-Management in Deutschland hat sich der Forderung bisher strikt verweigert. Gleichzeitig hat es argumentiert, wenn überhaupt, käme nur der Logistik-Tarifvertrag in Frage, der sogar unterhalb der jetzigen Löhne bei Amazon liegt.

Mittlerweile gibt es an allen deutschen Amazon-Standorten Betriebsräte, und sie werden meist von Verdi-Funktionären organisiert. In Bad Hersfeld sitzt Verdi seit August 2014 sogar im Aufsichtsrat. Ein Gerichtsurteil des Landgerichts Frankfurt hat Amazon aufgrund der Größe der dortigen Lagerhäuser dazu verpflichtet, einen zwölfköpfigen, paritätisch besetzten Aufsichtsrat zu gründen. Neben vier Vertretern der Belegschaft sitzen darin offiziell zwei Verdi-Funktionäre.

Verdi geht es darum, mit den alten Modellen der gewerkschaftlichen Mitbestimmung zu verhindern, dass die Arbeiter sich unabhängig organisieren. Unter den Bedingungen der Globalisierung und weltweiten Konkurrenz wird die Gewerkschaft so zum Interessenvertreter der Unternehmer am deutschen Standort, der jeden selbständigen Arbeitskampf unterdrückt. Das hat sich schon hundertmal erwiesen, in letzter Zeit auch im Einzelhandel, bei der Abwicklung von Neckermann, Quelle und Karstadt. Das jüngste Beispiel sind die Streiks an den Berliner Flughäfen vor wenigen Wochen, die mit Hilfe von Verdi abgewürgt wurden.

Bei Amazon hat Verdi zuletzt eine neue Taktik eingeschlagen. Nach eigenen Angaben führt sie die Streiks jetzt als „unberechenbare Rein-Raus-Arbeitsniederlegungen“. Dieses Vorgehen zielt eindeutig darauf ab, die Arbeiter zu ermüden und zu demoralisieren.

Vor allem spaltet Verdis rein nationale Forderung den gemeinsamen Kampf der weltweiten Amazon-Belegschaft. Die Beschäftigten an deutschen Standorten werden dadurch von ihren Kollegen in Frankreich, England, Polen und Tschechien isoliert und gegeneinander ausgespielt. Dabei gibt es wohl keinen zweiten Konzern, der so international aufgestellt ist wie Amazon.

Das Vorgehen der Amazon-Direktion macht einen international koordinierten, politischen Kampf der Arbeiter unmittelbar notwendig. Der Konzern reagiert auf die Situation in Deutschland, indem er die klassische Lagerung und Verteilung mehr und mehr in Billiglohnländer wie Polen und Tschechien verlagert. Gleichzeitig setzt er in seinen neuen Zentren in Deutschland immer stärker auf Vollautomatisierung und Computer-gestützte Technik.

In Polen sind seit dem Spätsommer 2014 drei Amazon-Häuser errichtet worden. Eins steht in Sady bei Poznan, und zwei in einer Sonderwirtschaftszone in der Nähe von Wroclaw, wo Amazon staatliche Subventionen kassieren konnte. Die Zentren in Polen bedienen die westeuropäischen Märkte, vor allem den deutschen Markt.

Viele Arbeiter in Polen verdienen mit einem Stundenlohn von umgerechnet 4 Euro weniger als die Hälfte ihrer deutschen Kollegen. Mit diesem Geld ist es auch in Polen unmöglich, vernünftig zu leben und eine Familie durchzubringen. Auch die polnischen Kollegen arbeiten – wie überall bei Amazon – unter großem Druck. Auch sie sind kampfbereit.

So hat die Belegschaft in Poznan ihre Bereitschaft zur Solidarität mit den internationalen Kollegen schon deutlich unter Beweis gestellt: 2015 hat sie es während Streikaktionen in Deutschland rundheraus abgelehnt, Überstunden zu schieben, und in dieser Zeit einen Bummelstreik organisiert.

Die WSWS und die Sozialistische Gleichheitspartei rufen die kampfbereiten Amazon-Arbeiter auf, mit der nationalistischen und prokapitalistischen Politik von Verdi Schluss zu machen und sich unabhängig von den Gewerkschaften zu organisieren. Um einem globalen Konzern wie Amazon entgegenzutreten, ist es notwendig, dass die Arbeiter international zusammenarbeiten. Die Verteidigung der Löhne und menschenwürdigen Arbeitsbedingungen erfordern eine sozialistische Perspektive und eine internationale Strategie.

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