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Der Große Lauschangriff--eine historische Zäsur

Verfassungsänderung in Deutschland hebt grundlegende Bürgerrechte auf

Im Februar dieses Jahres ist vom Bundestag und Bundesrat in Deutschland mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Artikel 13 des Grundgesetzes weitgehend abgeschafft worden. Dies bedeutet eine historische Zäsur in der politischen Entwicklung Deutschlands nach 1945, ähnlich der Verabschiedung der Notstandsgesetze vor 30 Jahren.

Damals, während der ersten großen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, wurde rechtlich geregelt, wie in Zeiten von Bürgerkrieg, Revolution und Krieg die Verfassung »verfassungsgemäß« außer Kraft gesetzt werden soll. Die jetzt von der Bonner Koalition und der SPD beschlossene Verfassungsänderung, genannt Großer Lauschangriff, hebt gleich eine Reihe wesentlicher Grundrechte überhaupt, d.h. auch ohne Notstandserklärung auf.

Künftig dürfen Polizisten und Verfassungsschützer ohne vorherige richterliche Erlaubnis Abhörgeräte und Videokameras in Wohnungen und anderen Privat- und Geschäftsräumen installieren, um Bewohner, Besucher und Beschäftigte auszuspionieren. Als Vorwand genügt dafür die Vermutung, von den observierten Personen, ihren Bekannten oder Verwandten werde eine Straftat geplant.

Außer diesem »präventivem Lausch- und Spähangriff« wird auch der »strafverfolgende Lauschangriff« erlaubt: Ermittler dürfen demnach die Wohnungen der von ihnen Verdächtigten verwanzen und auch alle anderen Räume, in denen diese sich aufhalten könnten, also auch Büros völlig unbeteiligter Bürger. Für diesen Lauschangriff ist eine richterliche Erlaubnis vorgeschrieben, für die freilich noch nicht einmal ein dringender Verdacht des Rechtsbruchs vorliegen muß, sondern wiederum Vermutungen der Ermittlungsbehörden ausreichen.

Als Begründung für diese Verfassungsänderung wird der Kampf gegen die »organisierte Kriminalität« angeführt. Aber selbst Kriminal- und Strafrechtsexperten wie der Trierer Rechtsprofessor Hans-Heiner Kühne weisen darauf hin, daß, sofern man »organisierte Kriminalität« überhaupt klar definieren und statistisch erfassen könne, die von den Generalstaatsanwaltschaften dazu vorgelegten Zahlen nicht nur stagnieren, sondern rückläufig und die angeführten hohen Schadenssummen, die das »organisierte Verbrechen« verursache, frei erfunden sind, weil es keinerlei objektive Schadensberechnung gibt. Man muß auch kein Polizeiexperte sein, um sich denken zu können, daß gerade für den Kampf gegen organisierte Verbrecher die mit der Grundgesetzänderung legalisierten technischen Mittel völlig untauglich sind, weil diese, so sie denn tatsächlich organisiert sind, sich mit ebenso modernen Techniken dagegen schützen können.

Daß der »Kampf gegen das organisierte Verbrechen« nur der Vorwand für die Einschränkung demokratischer Rechte ist, geht auch aus dem Ausführungsgesetz hervor, das gleichzeitig mit der Änderung des Artikels 13 des Grundgesetzes im Bundestag beschlossen worden ist. Nicht der »organisierte Verbrecher«, sondern jeder einzelne Bürger wird ins Visier genommen. Ist im Wortlaut des neuen Artikels 13 noch von »besonders schweren Straftaten« die Rede, die einen Lauschangriff rechtfertigten, so reicht nach dem Ausführungsgesetz die Vermutung von Bagatelldelikten aus. Der vermutete Ladendiebstahl eines Jugendlichen genügt, um das Abhören der Eltern oder des Freundeskreises zu erlauben.

Natürlich fanden auch bisher schon Lausch- und Spähangriffe statt. Die Polizeigesetze der meisten Bundesländer hatten sie bereits vor Jahren legalisiert. Und dort, wo die Gesetze formal noch dagegen standen, wäre es völlig verfehlt zu glauben, daß Verfassungsschutz, Staatsanwälte, Richter und Polizisten sich sonderlich darum gekümmert hätten. Nach offiziellen Angaben ist von 1990 bis 1996 die Zahl der jährlichen Anordnungen zur Telefonüberwachung von 2494 auf 6428 gestiegen, von denen am Ende gut eine Million Telefonbenutzer betroffen waren. Computer, ISDN- und andere Telekommunikationsgeräte können durch elektronische Befehle von außen in Abhörstationen verwandelt werden. Und was Wohnungs- und Redaktionsdurchsuchungen insbesondere bei politisch unbequemen oder mißliebigen Personen und Medien betrifft, so sind deutsche Staatsanwälte und Polizisten dabei bekanntlich nie zimperlich gewesen.

Aber die jetzige Grundgesetzänderung befreit die staatlichen Behörden von den letzten Hemmschwellen, unterbindet jede Möglichkeit, gegen staatliche Übergriffe oder auch gegen entsprechende Polizeigesetze und Verordnungen gerichtlich vorzugehen. Sie hebelt gleichzeitig eine ganze Reihe anderer demokratischer Rechte und Freiheiten aus. So werden außer dem Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung auch die Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung unterhöhlt. Niemand wird es mehr wagen, mit Informationen über Korruptionsfälle, Steuerhinziehungen oder andere kriminelle Machenschaften von Politikern, hohen Beamten oder Managern zur Presse zu gehen, wenn er damit rechnen muß, abgehört, identifiziert und dann auf irgendeine Weise erledigt zu werden. »Dem Enthüllungsterror der Nachrichtenmagazine muß ein Ende gesetzt werden«, erklärte einer der juristischen Berater der CDU/CSU, Professor Josef Isensee.

Auch in der Strafprozeßordnung werden wichtige demokratische Prinzipien über den Haufen geworfen, so der Grundsatz der Unschuldsvermutung, nach dem bisher die Polizei verpflichtet war, einen Verdächtigen vor der ersten Vernehmung über seine Rechte zu belehren und keine Mittel anzuwenden, die den freien Willen des Beschuldigten einschränken. Das Prinzip, daß niemand gezwungen werden darf, sich selbst zu belasten, wird mit dem Lauschangriff ohne viel Federlesen aus den Angeln gehoben, ebenso das Zeugnisverweigerungsrecht von Ehepartnern, Verlobten, Verschwägerten und anderen engeren Verwandten.

Die französische Tageszeitung Libération sieht sich »an die Gestapo und die Stasi« erinnert, und die Berliner Rechtsanwaltskammer äußerte die Befürchtung, daß »die Bundesrepublik sich einem Zustand nähert«, der »dem Überwachungs- und Schnüffelstaat DDR« gleicht.

Umso bemerkenswerter die Einmütigkeit, mit der sämtliche Parteien im Bundestag und auch die Gewerkschaften die jüngste Verfassungsänderung entweder offen oder stillschweigend mit ihrer Passivität unterstützten.

Die SPD hat bereits vor 5 Jahren mit der Abschaffung des Asylrechts bekundet, daß sie von allen demokratischen Traditionen gebrochen hat. Gingen in den 60er Jahren noch viele ihrer Abgeordneten und Funktionäre gegen die Notstandsgesetze auf die Straße, bemühten sie sich diesmal noch nicht einmal, den Anschein zu erwecken, als lägen ihnen demokratische Rechte am Herzen. Otto Schily, der in den 70er Jahren als Strafverteidiger von RAF-Angeklagten noch gegen das Abhören der Gespräche von Rechtsanwälten mit ihren Mandanten protestiert hatte, zog heute bei der Grundgesetzänderung die Fäden.

Bremens Bürgermeister Henning Scherf, der früher im Ruf eines Linken stand, hätte auf Grund der knappen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat mit seinem Nein das ganze Projekt zu Fall bringen können. Er stimmte mit Ja. Die Verbesserungen an den Ausführungsgesetzen, die er sich dafür hatte zusichern lassen, sind dann tatsächlich im Bundestag gegen Widerstand der Koalitionsführung mit den Stimmen einiger FDP-Politiker um Genscher beschlossen worden. Aber sie beschränken sich darauf, den Kreis der vor Lauschangriffen geschützten Berufsgruppen von Parlamentsabgeordneten und Priestern auf Ärzte, Rechtsanwälte, Hebammen und Journalisten auszudehnen. Zustandegekommen ist diese leichte Abmilderung der Verfassungsänderung ohnehin nur, weil im letzten Augenblick Journalisten, Medien wie der Spiegel und Medienverbände scharf dagegen protestiert hatten, daß ursprünglich Journalisten vom Lausangriff nicht ausgenommen sein sollten. Dies hätte praktisch die Aufhebung der Pressefreiheit bedeutet.

Auch die Grünen trugen ihr Scherflein bei. Sie unterstützten Scherf in seiner Taktik, die den Weg für die Grundgesetzänderung freimachte.

Was geht in der Gesellschaft vor, daß derart massive Einschränkungen demokratischer Freiheiten vorgenommen werden? Daß alle in den Parlamenten vertretenen Parteien sich so einträchtig und eilig um den Staat und seine Spitzel- und Unterdrückungsapparate sammeln?

Der vielfach geäußerte Vergleich mit dem Regime der stalinistischen SED und Stasi in der DDR ist hier nicht so abwegig. Je mehr die Entfremdung und Isolation der herrschenden politischen Kaste gegenüber der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung ans Tageslicht traten, um so mehr wurde die Stasi zu einem gigantischen Apparat ausgebaut, der die Bevölkerung unter Kontrolle halten und einschüchtern sollte.

Genau dasselbe läßt sich jetzt wieder beobachten.

Jahrelang hat die Kohl-Regierung systematisch die Massenarbeitslosigkeit hochgetrieben und den Sozialabbau verschärft. Und alle anderen Parteien im Bundestag, die SPD, die Grünen, die PDS und die Gewerkschaften haben daran nach Kräften mitgewirkt. Jetzt spüren sie alle die tiefe, unüberbrückbare Kluft zwischen sich und dem Rest der Gesellschaft, empfinden die Feindschaft der arbeitenden Bevölkerung als Bedrohung - und flüchten sich in die Arme des Staats.

Man muß ihnen zugestehen: eine für sie passende und konsequente Art und Weise, den 150. Jahrestag der Revolution von 1848 zu feiern! Aus Furcht vor den Arbeitern und deren weitergehenden sozialen Forderungen gaben damals die deutsche Bourgeoisie und ihre kleinbürgerlichen Politiker nach monatelangen Kämpfen von sich aus alle demokratischen Forderungen zugunsten von »Ruhe und Ordnung« auf und unterwarfen sich freiwillig der preußischen Monarchie und ihrem Militärstaat.

Seitdem galten der herrschenden Klasse in Deutschland demokratische Rechte stets nur als vorübergehende Zugeständnisse und Gnadenerweise des Staats, nicht als unveräußerliche Rechte und unverletztliche Freiheitsräume des Einzelnen gegenüber dem Staat.

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