Das »niederländische Modell«

Das »niederländische Modell« - Wie Regierung, Gewerkschaften und Unternehmer die Umverteilung hinter den Deichen organisieren

Politiker Europas wie der SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder und ebenso US-Präsident Bill Clinton loben es in den höchsten Tönen, Gewerkschaftsmagazine widmen ihm begeisterte Artikel, Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer nennt es »vorbildlich für ganz Europa«: das »niederländische Modell«! Mit ihm sei erreicht worden, »die Zahl der Arbeitslosen innerhalb der letzten 15 Jahre zu halbieren«. Grund genug für unsere Redaktion, es für unsere Leser genauer unter die Lupe zu nehmen.

Dietmar Henning und Wolfgang Weber reisten in die Niederlande, um Akteure und Mechanismen des »niederländischen Modells« kennenzulernen, um herauszufinden, wer seine Nutznießer und wer seine Opfer sind. Sie interviewten Kommunalpolitiker, Soziologen und Arbeitslosenorganisationen in Amsterdam, sprachen mit Betriebsräten und Beschäftigten im größten Krankenhaus der Niederlande und besuchten streikende Hafenarbeiter in Rotterdam.

Die Ergebnisse ihrer Recherchen liefern einen Einblick in den sozialen und politischen Hintergrund der niederländischen Parlamentswahlen am 6. Mai 1998.

Was die Bankiers und Politiker Europas als »niederländisches Modell« für die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit verkaufen, wird in den Niederlanden selbst »Polder-Modell« genannt. »Polder (deutsch: Koog), das dem Meer von der Küstenbevölkerung zum Zwecke von Ackerbau, Industrieanlagen oder Siedlungen durch Eindeichung abgerungene Marschland.« - So steht es im Lexikon. »Wie beim Bau eines Polders müssen alle zusammenarbeiten und gemeinsam Opfer bringen, um die Flut der Massenarbeitslosigkeit zurückzudrängen und die niederländische Gesellschaft wieder in eine blühende, beschauliche Landschaft zu verwandeln.« - So oder ähnlich stand es in den Erklärungen der Regierung, der Gewerkschaften und Konzernvorstände, als die Tarifparteien Ende 1982 den »Vertrag von Wassenaar« unterzeichneten, die Geburtsurkunde des »Polder-Modells«.

Auf den ersten Blick - die offizielle Arbeitslosenrate liegt heute bei 6 Prozent, das wirtschaftliche Wachstum bei 3 Prozent - scheint dieses Modell funktioniert zu haben. Damals, vor fünfzehn Jahren, stieg die Zahl der Arbeitslosen monatlich um 10 000, 1984 lag sie mit 800 000 amtlich registrierten Arbeitssuchenden bei 14 Prozent. Insgesamt - d. h. einschließlich aller nicht mehr registrierten und aller in Umschulungsmaßnahmen, Vorruhestand und anderen sozialen Maßnahmen versteckten Arbeitslosen - lag sie laut OECD aber fast doppelt so hoch: bei 27 Prozent.

Was war der Inhalt des Vertrags von Wassenaar, der heute noch bei den niederländischen Gewerkschaften und Parteien in aller Munde ist?

Die Gewerkschaften verpflichteten sich auf Jahre hinaus zur Lohnzurückhaltung, die Unternehmer ihrerseits versprachen, sich mehr als bisher um die Schaffung von Jobs zu kümmern. Bald stellte sich heraus, was darunter zu verstehen war: eine gemeinsame Politik zur größten Umverteilung der Einkommen hinter den Deichen seit dem Zweiten Weltkrieg!

Die Einkommens- und Körperschaftssteuern für Unternehmer wurden rigoros gesenkt, und zwar nach dem Prinzip »je höher der Gewinn, desto niedriger die Steuer«. Unternehmen mit mehr als umgerechnet 225 000 Mark Jahresgewinn werden nur mit 35 Prozent Körperschaftssteuer belegt, weisen sie weniger Gewinn aus, müssen sie 40 Prozent zahlen.

Das verfügbare Realeinkommen von Arbeitnehmerhaushalten hingegen war bereits in den Jahren 1982 und 1983 infolge der Rezession um 10 Prozent, das von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern noch stärker zurückgegangen. 1984 und 1985 sanken die Reallöhne dann durchschnittlich weiter um jeweils 9 Prozent, nachdem die Gewerkschaften alle bisherigen Tarifvereinbarungen über eine automatische Angleichung der Löhne an die Inflation annulliert hatten. Der gesetzliche Mindestlohn wurde abgesenkt und damit auch die Höhe der Sozialhilfe, die für eine vierköpfige Familie 100 Prozent und für eine alleinstehende Person 70 Prozent des Mindestlohns entspricht. 1981 lag dieser im Wert noch bei 64,4 Prozent des durchschnittlichen Arbeitnehmer-Reallohns, 1990 nur noch bei 54,4 Prozent. Heute ist er sogar auf etwa 50 Prozent gefallen.

Und was geschah mit den Arbeitslosen? Tatsächlich ist die erwerbstätige Bevölkerung seit 1983 von 5,5 Millionen Menschen bis heute auf 6,8 Millionen gestiegen, aber 75 Prozent dieser wunderbaren Stellenvermehrung sind auf die Ausdehnung von Teilzeitarbeit und Zeitarbeit (Leiharbeit) auf Kosten von Vollstellen zurückzuführen. Die Folge davon war die Ausdehnung von Armut auch unter arbeitenden Lohnempfängern.

Diese Umverteilung der Arbeitsplätze kam allein den Unternehmern und öffentlichen Arbeitgebern zugute: Arbeitsplätze, die ihnen zu teuer und »unproduktiv« waren, wurden durch Teilzeitarbeitsplätze ersetzt, auf denen mit größerer Intensität und Qualifizierung und gleichzeitig geringerer Bezahlung gearbeitet wird. Im internationalen Vergleich der Arbeitsproduktivität schoben sich die Niederlande auf diese Weise immer weiter nach vorne an die Spitze der Weltstatistik und schon bald, ab Mitte der 80er Jahre, boomten Produktion, Handel und Profite wieder.

Als Reaktion auf die zunehmende Globalisierung der Produktion und die Forderungen transnationaler Konzerne wie Unilever, Akzo, Philips und Shell kam es Ende der 80er Jahre zu einem weiteren scharfen Kurswechsel. Bereits der Vertrag von Wassenaar war im wesentlichen von wirtschaftspolitischen Forderungen einer Nationalen Kommission inspiriert worden, die unter dem Vorsitz des Vorstandsvorsitzenden von Royal Dutch Shell, Gerrit Wagner, getagt hatte. Jetzt, 1989/90, forderten die Arbeitgeberverbände immer lauter nicht nur Kürzungen der Sozialleistungen wie bisher, sondern einen grundlegenden »Umbau des Sozialstaates«. Sozialhilfeempfänger sollten als billige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Vor allem sollte es nicht mehr möglich sein, auf Grund eines ärztlichen Attest bis zum Rentenalter Leistungen der Erwerbsunfähigkeitsversicherung WAO in Anspruch nehmen und so dem Gang zum Arbeitsamt und Sozialamt ausweichen zu können. Diese Regelung, von der damals über 900 000 Arbeitnehmer Gebrauch machten, war ähnlich wie der Vorruhestand in Deutschland für die Firmen zu einer billigen Methode des Arbeitsplatzabbaus geworden.

Obwohl sie die Wahlen von 1989 gewonnen hatte, erwies sich die bisher regierende Koalition aus Christdemokraten (CDA) und Liberalen als unfähig, dies durchzusetzen. Die sozialdemokratische PvdA trat an Stelle der Liberalen in die Regierung ein, um gemeinsam mit den Gewerkschaften, aber mit verteilten Rollen diese Aufgabe energisch anzupacken. Ihr Vorsitzender war Wim Kok, der als Vorsitzender des Gewerkschaftsdachverbandes FNV 1982 den Vertrag von Wassenaar unterschrieben hatte. Jetzt übernahm er mit den Finanzen das Schlüsselministerium für die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Premierminister blieb der Großunternehmer Ruud Lubbers (CDA).

Den ersten großen Schlag führte die CDA/PvdA-Koalition im Sommer 1991 mit der weitgehenden Einschränkung der WAO. Alle Leistungsempfänger mußten sich in den folgenden Jahren erneut medizinisch untersuchen lassen. Zigtausende von ihnen wurden nach neuen Kriterien ganz oder teilweise erwerbsfähig geschrieben, so daß sie sich plötzlich am Arbeitsamt und wenig später beim Sozialamt wiederfanden.

Die Gewerkschaften übernahmen die Aufgabe, die wachsende Wut und Empörung in der Arbeiterklasse aufzufangen - und dann im Sande verlaufen zu lassen. Sie organisierten eine Protestdemonstration in Den Haag, mit 250 000 Teilnehmern die größte Demonstration gegen die Regierung seit dem Zweiten Weltkrieg. Damit, so erklärten sie, hätten sie alles getan, was in ihrer Macht stehe, und überließen alles weitere der parlamentarischen Gesetzgebung, d.h. ihren sozialdemokratischen Parteifreunden in der Regierung.

Angesichts der großen Opposition in der Bevölkerung griff die PvdA zu einem Propagandatrick. Zusammen mit den Liberalen setzte sie im Parlament gegen die christdemokratischen Koalitionspartner die Einrichtung einer Allparteienkommission unter Vorsitz des sozialdemokratischen Politikers Flip Buurmeijer durch. Mit öffentlichen, vom Fernsehen übertragenen Anhörungen inszenierte diese eine beispiellose Hetzkampagne gegen den Sozialstaat. Die Empfänger von Leistungen wurden als Schmarotzer, die Verwalter der verschiedenen Institutionen als Betrüger, die Sozialpolitiker der Vergangenheit als »verantwortungslose Volksbeglücker« hingestellt. Die Schlußfolgerung der Buurmeijer-Kommission: ein radikaler und sofortiger Sozialabbau sei notwendig.

Ein Jahr später wurde die Sozialhilfe für Jugendliche (bis 23 Jahre) abgeschafft bzw. auf ein halbes Jahr nach dem Ende der Schul- oder Hochschulausbildung beschränkt. Wer in diesen sechs Monaten keinen Job gefunden hat, bekommt von den Kommunen einen Arbeitsplatz zugewiesen, dessen Entlohnung nicht höher als 20 Prozent über dem Sozialhilfesatz liegen darf und mit zunehmenden Alter des Jugendlichen absinkt.

Gleichzeitig wurden eine Reihe von Trainings- und Beschäftigungsprogrammen für ältere Langzeitarbeitslose eingeführt oder ausgedehnt. Einen großen Umfang hat dabei das Programm der staatlichen Lohnsubvention für die Einstellung von Langzeitarbeitslosen angenommen. Unternehmer können sich damit nach Bedarf für eine geraume Zeit fast kostenlose Arbeitskräfte beschaffen und sie nach Ablauf der Subventionen wieder zum Arbeitsamt schicken. Die Anzahl der auf diese Weise aus der Statistik entfernten Arbeitslosen ist von 75 000 im Jahr 1983 auf 120 000 ein Jahrzehnt später gestiegen und liegt heute bei rund 170 000. Für staatliche Behörden und Kommunen wurden sogenannte Arbeitspools geschaffen, in denen 25 000 Langzeitarbeitslose die Arbeit von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes zum gesetzlichen Mindestlohn leisten müssen und so den Kommunen Geld sparen.

Anfang 1994 folgte der nächste Streich: der »Umbau der Krankenversicherung« zu einer reinen Arbeitnehmerversicherung auf freiwilliger Basis. Die Krankenversicherungsbeiträge der Arbeitgeber wurden vollständig abgeschafft. Jede Krankmeldung kostet seitdem einen Urlaubstag, und die Kosten der gesetzlichen Lohnfortzahlung - 70 Prozent Lohnes nach zwei Karenztagen - wurden für die ersten sechs Wochen vollständig den Arbeitgebern übertragen. Diese sind daher aus aus Kostengründen zu strengen Gesundheitsprüfungen bei der Einstellung und einer systematischen Jagd auf Kranke im Betrieb übergegangen.

Von allen Sozialversicherungsbeiträgen bringen seit diesen Reformen 80 Prozent allein die Arbeitnehmer auf und nur noch 20 Prozent die Arbeitgeber«, rechnet der Amsterdamer Politologe Ruud Vlek vor, der gerade mit einer Arbeit1 über die Sozialpolitik in den Niederlanden von 1974 bis 1994 promoviert hat.

Dieses Trommelfeuer sozialer Attacken erschütterte die Regierungsparteien schwer. Der PvdA liefen in diesen Jahren ein Drittel ihrer 90 000 Mitglieder und bei den Parlamentswahlen 1994 ein Viertel ihrer Wähler davon. Ihr Stimmenanteil sank von 32 auf 24 Prozent. Noch schwerer wurde der Koalitionspartner CDA gebeutelt: er verlor ein Drittel der Wähler und sackte von über 35 auf 22 Prozent der Stimmen ab. Zusammen verloren die beiden »Volksparteien« 32 ihrer einst 103 Parlamentssitze und damit die absolute Mehrheit unter den insgesamt 150 Abgeordneten.

Doch als Ergebnis dieser Wahl, bei der die Wähler der Politik des Sozialabbaus eine so unmißverständliche Abfuhr erteilt hatten, kam unter Wim Kok als Premierminister eine Regierung an die Macht, die genau diese Politik noch energischer und rücksichtsloser vorantrieb. Die rechten liberalen Parteien VVD und D66, die ihren Stimmenanteil von zusammen 22 auf 35 Prozent erhöhen konnten, traten mit fünf bzw. vier Ministern in die Regierung ein. Die PvdA stellt in dieser Koalition bis heute außer dem Regierungschef noch fünf Minister, darunter Ad Melkert für Arbeit und Soziales.

Das »Polder-Modell« wurde jetzt beschleunigt durchgesetzt, und die Gewerkschaften waren dafür weiterhin ein wichtiger Hebel. Bereits im Dezember 1993 hatten sie mit den Arbeitgeberverbänden einen neuerlichen Pakt mit dem Namen »Ein neuer Kurs« geschlossen, in dem weitere Schritte zu einer allgemeinen Absenkung und Flexibilisierung der Löhne sowie zur Ausdehnung von Zeit- und Teilzeitarbeit vereinbart worden waren. Dazu gehörte auch, daß Verhandlungen über Löhne, Arbeitsplätze und Teilzeitarbeitsplätze, über Privatisierungen und Sozialpläne künftig nicht mehr zentral, sondern weitgehend branchenorientiert und auf betrieblicher Ebene geführt werden sollten. Den Betriebsräten wurden dazu nach deutschem Vorbild weitergehende Mitbestimmungsrechte eingeräumt, um die Ausarbeitung und Durchsetzung »konkreter Lösungen vor Ort« zu erleichtern.

In Absprache mit der Regierung wurden außerdem in alle Tarifverträge neue Vereinbarungen über einen sogenannten »Einstiegslohn« für Berufsanfänger oder sogenannte »Zielgruppentarife« wie für Langzeitarbeitslose eingeführt, deren Höhe sich kaum vom gesetzlichen Mindestlohn bzw. Sozialhilfesatz unterscheidet.

Die Ernte dieses »neuen Kurses« konnten die Unternehmer bald einfahren. Nach jüngsten Erhebungen werden heute zwischen 8 und 10 Prozent2 aller Beschäftigten nach diesen niedrigsten Tarifen bezahlt. Das nominelle Lohnniveau insgesamt stagnierte, die Reallöhne sanken.

Am meisten aber profitierten die Arbeitgeber von der Flexibilisierung der Arbeitszeit. Von den 300 000 neuen Jobs, die in den Jahren 1994 bis 1996 entstanden, waren die Hälfte flexible Verträge mit Zeitarbeitsfirmen (Leihfirmen), 40 Prozent Teilzeitstellen und nur 10 Prozent Vollzeit-Arbeitsplätze. Rund 3 Prozent des gesamten Arbeitsvolumens (in Deutschland: 0,6%) werden heute im Rahmen von Zeitverträgen erledigt, und der Anteil der Teilzeitarbeit an den insgesamt 6,8 Millionen Beschäftigungsverhältnissen beläuft sich mit über 2,5 Millionen inzwischen auf fast 37 Prozent - eine Rekordhöhe in ganz Europa. Und nicht zu vergessen: Gut 300 000 davon sind lediglich Minijobs mit Minilöhnen für weniger als 12 Stunden Arbeit in der Woche.

Um diese Entwicklung voranzutreiben, schlossen die Gewerkschaften im Mai 1996 ein weiteres Abkommen, genannt »Flexibilität und Sicherheit«. Sie stimmten darin unter anderem einer Lockerung des gesetzlichen Kündigungsschutzes und einer Verlängerung der Probezeit für reguläre Vollzeitbeschäftigte zu sowie der Abschaffung von festen Ladenschlußzeiten und von Zulagen für Wochenend- und Feiertagsarbeit.

Inzwischen sind diese Vereinbarungen nicht nur als Gesetz im Parlament verabschiedet worden, sondern auch zur Richtschnur für die praktische Abwicklung von Massenentlassungen geworden. Beispielhaft sei dafür nur der sogenannte »Keks-Pakt« angeführt: Als mehrere Keks- und Kuchenfabriken letztes Jahr die Entlassung von zusammen 11 000 Beschäftigten ankündigten, schlossen die Gewerkschaften einen Vertrag, wonach die betroffenen Arbeiter direkt dem größten Zeitarbeitskonzern Ranstad (Jahresumsatz: 4,5 Millliarden Mark) zugeführt werden. Dieser vermittelt ihnen Zeitverträge für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren.

Kein Wunder, daß angesichts solcher lukrativen Geschäfte in den letzten Jahren Zeitarbeitsfirmen in ganz Holland wie Pilze aus dem Boden schossen und mit ihren unzähligen Filialen in Amsterdam, Rotterdam, Utrecht und anderen Städten inzwischen wie der Zeitungskiosk oder der Bäcker zum Straßenbild gehören. Sie vermitteln dabei nicht nur in den für Zeitarbeit traditionellen Berufen Jobs - für Sekretärinnen, Telefonistinnen, Schlosser, Bauarbeiter usw. -, sondern auch für Krankenschwestern, Zahnarzthelferinnnen, Computerfachleute, Techniker, Betriebswirte.

Von Regierungsseite wurden die staatlichen Billiglohn-Programme ausgeweitet. Für Langzeitarbeitslose, Angehörige von ethnischen Minderheiten wie Surinamesen, Türken, Marokkaner, Schulabbrecher und andere schwer vermittelbare Jugendliche wurden eine Art ABM-Stellen, die nach dem Sozialminister benannten 40 000 »Melkert-Jobs« geschaffen. Die Betroffenen müssen dort, wenn sie den Mindestlohn bzw. Sozialhilfe weiterbekommen wollen, volle Zeit und volle Kraft arbeiten, kosten den Unternehmer jedoch infolge von verschiedenen Subventionsmaßnahmen nur wenig Geld.

Nach den Berechnungen Ruud Vleks sind es insgesamt rund 220 000, nach anderen Angaben3 knapp 300 000 Menschen, die durch solche staatlichen Beschäftigungsprogramme zu Niedrigstlöhnen arbeiten, und höchstens 10 Prozent von ihnen finden am Ende eine feste Anstellung.

Zusammen mit den 400 000 registrierten Arbeitssuchenden, etwa 100 000 statistisch nicht erfaßten Arbeitslosen und den noch knapp 800 000 Leistungsbeziehern der WAO umfaßt das Heer der Arbeitslosen in den Niederlanden laut Ruud Vlek somit in Wirklichkeit etwa 1,5 Millionen, nach jüngsten Berechnungen der OECD sogar 1,7 Millionen Menschen. Das sind nicht 6 Prozent aller erwerbstätigen Menschen, wie bei den Lobeshymnen auf das »niederländische Modell« verkündet, sondern laut OECD wie vor 15 Jahren - 27 Prozent.

Was die soziale Lage derjenigen betrifft, die auf dem Arbeitsmarkt in einen Zeit- oder Teilzeitjob rutschten, so ist sie nicht viel besser, als die der offiziellen und versteckten Arbeitslosen. 75 Prozent aller Teilzeitstellen sind von Frauen besetzt, die damit das knappe Familieneinkommen aufbessern oder eine eigene Existenz aufbauen wollen. 17 Prozent von ihnen arbeiten sogar weniger als 12 Stunden in der Woche.

Alle diese Hungerjobs halfen nicht nur die offizielle Arbeitslosenstatistik, sondern auch Konjunktur und Bilanzen der Unternehmen verbessern. Das Ergebnis: Während die Gewinne der Unternehmer, Börsenkurse und Dividenden der großen Konzerne auf immer neue Rekordhöhen klettern und die Zahl der Millionäre auf über 150 000 gestiegen ist, müssen etwa eine Million der 6,6 Millionen Haushalte mit einem Einkommen an oder unter der Armutsgrenze auskommen.

Das »niederländische Modell« entpuppt sich somit schlicht als »Modell« zur systematischen Bereicherung der Reichen auf Kosten der Arbeiter und Armen. Es hat ein soziales Pulverfaß geschaffen, das jederzeit zu explodieren droht. Insofern ist es kein »niederländisches«, sondern ein »europäisches Modell«. Bereits in den letzten Jahren ist es immer wieder zu großen Streik- und Protestbewegungen gekommen: 1991 die Massendemonstration in Den Haag gegen die Regierung, Proteste gegen die Stillegung der Fokker-Werke, ein massiver Bauarbeiterstreik im Jahr 1995 und in den letzten Wochen die Streiks unter den Rotterdamer Hafenarbeitern gegen Arbeit auf Abruf und weitere Lohnsenkungen.

Wie in vielen anderen Ländern Europas hatte auch in den Niederlanden der Rechtsruck der Sozialdemokratie ein Anwachsen der faschistischen Partei, der sogenannten Centrumsdemokraten, zur Folge. Vor allem in den ehemaligen sozialdemokratischen Hochburgen wie Rotterdam verzeichnen sie hohe Stimmengewinne, 1994 zogen sie mit 3 statt bisher einem Abgeordneten ins nationale Parlament ein.

Am linken Rand der parlamentarischen Landschaft drückt sich die Opposition gegen das »Polder-Modell« in der Unterstützung für GroenLinks und die Sozialistische Partei (SP) aus. GroenLinks, hervorgegangen aus der untergegangenen stalinistischen KP und Ablegern der kleinbürgerlich-radikalen Bewegung der 70er Jahre, ist den Grünen in Deutschland vergleichbar. Sie verfügt in der Zweiten Kammer, dem Parlament, über fünf Sitze, spielt aber ihre Hauptrolle auf kommunaler Ebene, wo sie überall bestrebt ist, in der Gemeindeverwaltung »Verantwortung zu übernehmen« und die sozialen Brennpunkte in den Städten unter Kontrolle zu halten.

Die SP, 1972 als maoistische Organisation gegründet, tritt mit radikaleren Worten und populistischen Parolen gegen die Regierung auf, gegen Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau. Meinungsumfragen sagen ihr für die Parlamentswahlen im Mai eine Verdoppelung oder Verdreifachung ihrer zwei Abgeordnetensitze voraus. Bereits bei den Kommunalwahlen am 4. März dieses Jahres konnte sie ihren Stimmenanteil auf 6 Prozent, die Zahl ihrer Kommunalabgeordneten von 145 auf 190 steigern. In vier Städten ist sie zur stärksten Partei geworden, in der alten Industriestadt Oss (65 000 Einwohner) in Nordbrabant bildet sie zusammen mit den Sozialdemokraten die Stadtregierung.

Auf die Frage, worin die SP sich am stärksten von der PvdA oder auch von GroenLinks unterscheide, antwortete ihr Vorsitzender in Amsterdam, Wim Paquay, spontan: »In der Ausländerpolitik. Wir sind für eine strikte Anwendung der bestehenden Gesetze gegen illegale Einwanderung. Linke PvdA- und GroenLinks-Politiker hingegen wollen oft eine Art Amnestie oder Ausnahmeregelungen für Problemfälle. Ein solches Vorgehen würde jedoch noch mehr Ausländer anlocken, viel mehr, als auf natürliche Weise in die niederländische Gesellschaft integriert werden könnten.«

So wie sie nach der Polizei ruft, um die Probleme im Inneren unter Kontrolle zu halten, tritt sie nach Außen für Handelskriegsmaßnahmen ein wie zum Beispiel für Strafzölle, »wenn Konkurrenten den sozialen und ökologischen Standard der Niederlande und Europas zu untergraben drohen.«4 Nicht anders als GroenLinks will die SP den Nationalstaat stärken als Antwort auf die Globalisierung und ihre sozialen Folgen.

Beide Parteien stellen daher gegenüber der sozialdemokratischen PvdA keine Alternative im Interesse der arbeitenden Bevölkerung dar, sondern dienen als Sicherheitsdeiche im nationalen »Polder-Modell«.

Siehe auch:

»Ich kenne viele, die sehr unzufrieden sind«

»Die meisten sind zufrieden«

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