Steigende Armut in Schleswig-Holstein

Landesarmutsbericht: Vor allem Kinder leiden

Zahlen über Armut und Reichtum in Deutschland sind rar. Nur ungern werden Berichte darüber veröffentlicht, vor anstehenden Wahlen schon gar nicht. Denn deren Inhalt ist stets eine Anklage an die bestehende Gesellschaft. So auch der Ende Juli vorgelegte Landesarmutsbericht Schleswig-Holsteins.

Das Institut für Soziologie der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz ist im vergangenen Jahr beauftragt worden, einen Armutsbericht unter besonderer Berücksichtigung der Situation von Kindern und Jugendlichen und deren Familien zu erstellen. Die Gutachter beziehen sich in ihrem Armutsbericht nicht nur auf die Einkommensarmut, die zwar den Kern der Armut darstelle, sondern untersuchen anhand weiterer Daten sowie eigener Befragungen und Interviews auch Armut im weiteren Sinne, d. h. die jeweilige Lebenslage auf dem Sektor der Bildung, der Erwerbsarbeit, des Wohnens, der Gesundheit und der sozialen Integration.

Bei der Ermittlung der Einkommensarmut waren die Sozialwissenschaftler auf die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahr 1993 angewiesen. Neuere Zahlen liegen nicht vor. Man darf jedoch vermuten, dass sich nach jahrelangen Nullrunden bei Löhnen und Gehältern, Steuer- und Abgabenerhöhungen, Kürzungen der Arbeitslosenhilfe usw. die Einkommensarmut nicht verringert, sondern eher erhöht hat. Doch lassen wir die Vermutungen beiseite. Schon vor sechs Jahren sprachen die Fakten eine klare Sprache.

Im Jahr 1993 mussten ca. 22 Prozent aller privaten Haushalte im nördlichsten Bundesland von einem Niedrigeinkommen leben, also weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens beziehen. 11 Prozent aller Haushalte lebten in Armut (weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens). In "strenger Armut" (weniger als 40 Prozent des Durchschnittseinkommens) lebten immerhin noch 3,8 Prozent aller Haushalte. Die hauptsächlich Betroffenen sind kinderreiche Familien, Arbeitslose, gering Qualifizierte, Alleinerziehende, Kinder und Ausländer.

Die Haushalte von Arbeitslosen waren 1993 zu 39,5 Prozent arm. Dieses Armutsrisiko war etwa dreieinhalb mal so groß wie das der Durchschnittshaushalte. Alleinerziehende waren 1993 mit einem Armutsrisiko von 34,9 Prozent ebenfalls mehr als dreimal so häufig arm wie der Bevölkerungsdurchschnitt. Kinder und Jugendliche tragen - insbesondere, wenn sie in kinderreichen Haushalten leben - ein hohes Armutsrisiko. 1993 waren exakt 30 Prozent aller Haushalte mit drei oder mehr Kindern (unter 18 Jahren) arm. Fast 11 Prozent der schleswig-holsteinischen Haushalte mit drei und mehr Kindern lebten sogar unter strenger Armut. Nur 3 Prozent dieser Haushalte hatten mehr als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens. Anders ausgedrückt: Wird man in eine Familie mit mindestens zwei Kindern - z. B. als drittes Kind - hinein geboren, wächst man mit nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit in einer armen oder armutsnahen Familie auf.

Bei Familien mit zwei Kindern lag der Armutswert 1993 bei 17,3 Prozent, bei Familien mit einem Kind bei 12,6 Prozent.

Kinder im Alter bis zu sieben Jahren waren 1995 von allen Altersgruppen der Einwohner Schleswig-Holsteins am häufigsten arm, nämlich mehr als jedes fünfte Kind dieser Jahrgänge. Jedes zehnte dieser Kinder bezog schon drei oder mehr Jahre lang Sozialhilfe.

Am dramatischsten kann man die Steigerung der Armen und Sozialhilfeempfänger unter den Einwohnern ohne deutschen Pass sehen. Deren Anteile an den Armen und Sozialhilfeempfängern waren 1995 und 1997 dreimal so hoch wie die der deutschen Bevölkerung. Dies, so der Hinweis der Gutachter, vor allem wegen der rigorosen Einsparungen bei Hilfen wie etwa dem Asylbewerberleistungsgesetz 1994, nach dem ganze Teile von Flüchtlingen nur noch Sachmittel erhalten.

Da die Definition von "strenger Armut", "Armut" und "Niedrigeinkommen" zwar in der Soziologie und verwandten Sozialwissenschaften anerkannt ist, aber vornehmlich von Politikern immer wieder betont wird, dass das Durchschnittseinkommen in Deutschland ständig steige, diese Definition daher nicht mehr adäquat sei, nahmen die Wissenschaftler auch die Sozialhilfestatistik zu Hilfe. Wie zu erwarten, bestätigten diese die relativen Armutserhebungen.

Die Zahl der Sozialhilfeempfängerinnen und -empfänger hat sich in den Jahren von 1980 bis 1997 etwa verdreifacht. Alleinerziehende Mütter wiesen die höchste Quote der Sozialhilfeabhängigkeit aller genannten Risikogruppen auf. Sie bezogen in Schleswig-Holstein zu 29,3 Prozent Sozialhilfe. Auch "Arbeitslose sind von Sozialhilfebedürftigkeit in stark gewachsenem Ausmaße betroffen", so die Landesregierung in ihrer Stellungnahme.

Ein erstaunlicher Fakt in diesem Kapitel des Armutsberichts ist jedoch folgender: Ein noch geringer, aber nennenswerter Teil der Sozialhilfeempfänger war vollzeiterwerbstätig. 1997 waren 2,9 Prozent (4,3 Prozent der Männer und 2,0 Prozent der Frauen) trotz Vollzeit-Job auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen. "Solche Fälle treten vor allem in Familien auf, in denen nur ein Elternteil in gering qualifizierter Stellung erwerbstätig ist, und so das Einkommen nicht reicht, um die Familie ,ernähren‘ zu können." Sozialhilfebezug infolge von niedrigen Löhnen aus Teilzeitjobs betraf vor allem alleinerziehende und alleinstehende Frauen (7,5 Prozent der weiblichen, 2,9 Prozent der männlichen, gesamt 5,9 Prozent der Hilfeempfänger).

In einem eigenen Kapitel befassen sich die Wissenschaftler mit den Auswirkungen von Armut auf Kinder und ihre Familien. Da keine ausreichenden Daten dazu vorhanden waren, sind diese Daten im vergangenen Jahr eigens erhoben worden, durch schriftliche Befragungen armer und armutsnaher Familien mittels eines Fragebogens, mündlichen Befragungen mittels Intensivinterviews sowie Expertengesprächen mit Vertretern von Wohlfahrtsverbänden, Sozialämtern und der Sozialarbeit.

Sie fanden heraus, dass jede zehnte befragte Familie sich in sog. "Ausgabenarmut" befand: Sie hatten höhere fixe Ausgaben als Einnahmen, drehen also ständig an ihrer "Schuldenspirale". Nur 40 Prozent nannten keine Wohnungsunterversorgung. Nahezu 8 Prozent lebten in Notunterkünften. In Wohnungen, die weniger Fläche aufweisen, als der Minimalstandard des sozialen Wohnungsbaus in Schleswig-Holstein vorsieht, lebten über 30 Prozent der befragten Familien.

Jeder zehnte Befragte war dauerhaft krank oder pflegebedürftig. Weitere 15 Prozent lebten mit kranken und pflegebedürftigen Angehörigen zusammen. "Armut führt häufig zu psychischen und/oder physischen Beeinträchtigungen."

Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen litten unter der Armut. Über 16 Prozent gaben an, keinerlei enge Freunde zu haben. Fast 20 Prozent, die zumindest einen Freund oder eine Freundin haben, gaben an, sie sähen diese seltener als einmal im Monat.

Zudem hatten die Wissenschaftler nach der Schul- bzw. Ausbildung gefragt. Jedes elfte befragte Elternteil hatte die Schule ohne Abschluss beendet oder nur einen Sonderschulabschluss erworben. Fast 25 Prozent verfügten über keine Berufsausbildung. Diese beiden Zahlen des Armutsberichts zeigen selbstverständlich das hohe Armutsrisiko von nicht oder schlecht ausgebildeten Menschen. Doch anders herum gesehen zeigt sich noch etwas weiteres: Armut trifft nicht nur Menschen ohne Bildung und Ausbildung. Denn immerhin hatten offensichtlich drei Viertel der befragten Armen eine Ausbildung. In der Einleitung des Berichts bestätigen die Gutachter dies indirekt, indem sie schreiben: "Immer mehr Menschen, auch aus den mittleren Schichten unserer Gesellschaft, leben (z. B. infolge Überschuldung) in Armut, obwohl der äußere Anschein dem nicht entspricht."

Die Folgen der Armut zeigten sich für knappe zwei Drittel in umfassenden, für das andere Drittel in teilweisen Konsumeinschränkungen. Dies betraf Alleinerziehende mehr als Ehepaarfamilien. "Gespart wurde in erster Linie an Urlaub und selbst an kleineren Reisen, dann am Besuch von Gaststätten etc., an Wohnungseinrichtungen, Hobbies und Kleidung. An Kinderbekleidung, Kinderspielzeug und Essen wurden die wenigsten Einschränkungen vorgenommen. Allerdings musste sich die Hälfte der einkommensarmen Familien selbst bei Kinderbekleidung und -spielzeug und ein Viertel bei Ausgaben für das Essen einschränken." Die Kinder besaßen bei den armen Familien die höchste Priorität. Die eigenen Bedürfnisse sind von den Eltern zugunsten der Kinder zurückgestellt worden. Dennoch konnten sie ihre Kinder häufig vor belastenden Ausgrenzungserfahrungen im schulischen und außerschulischen Bereich nicht bewahren.

Das Leben innerhalb der Familie wurde selbstverständlich auch in Mitleidenschaft gezogen. Mit den Sorgen um Geld und Auskommen schwinden die Nerven und es kommt zu Auseinandersetzungen. "Konflikte wurden in den betroffenen Familien durch Armut weniger erzeugt als an die Oberfläche gebracht." Fast jede dritte Familie ist der Meinung, dass ihre derzeitige finanzielle Situation im Vergleich zu vor fünf Jahren "viel schlechter" sei.

Abschließend stellt das Gutachterteam auch Handlungsempfehlungen auf. Diese sind ein bunter Blumenstrauß von teilweise naiven und altbekannten Forderungen ("Bildungsoffensive", "Weiterbildung", "gezielte Hilfen für bestimmte Gruppierungen", "Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs", usw.)

Die Landesregierung kann ob der Gehaltlosigkeit der Vorschläge diesen nur zustimmen, auch wenn die Regierung die Intention der Wissenschaftler ein ums andere Mal ins Gegenteil verkehrt. So bringt die Landesregierung den Vorschlag, den öffentlichen Nahverkehr auszubauen, um den Armen eine Arbeitsaufnahme zu erleichtern, mit ihrer Forderung nach der "Bereitschaft der Arbeitslosen zu mehr Flexibilität und Mobilität" zusammen. So kann Ministerin Moser behaupten: "Sie [die Handlungsempfehlungen] lesen sich in großen Teilen wie eine Bilanz und Fortschreibung schleswig-holsteinischer Sozialpolitik".

Auch die Einschätzung des Berichts durch die Landesregierung ist nicht dem Bericht selbst entnommen. Weil beim Vergleich der Armutszahlen Schleswig-Holsteins mit Westdeutschland das nördliche Bundesland meist besser abgeschnitten hat, lautet der erste Satz in einer Pressemeldung der Landesministerin Moser (SPD) vom 23. Juli 1999: "Armutsbekämpfung in Schleswig-Holstein greift besser als im übrigen Bundesgebiet." Natürlich müsse noch etwas getan werden. Die bisherige Politik soll daher intensiver weiterverfolgt werden. Die anschließende Darstellung der bisherigen Politik, die intensiviert werden soll, kann von den Armen nur als Warnung verstanden werden. Denn diese Politik hat vorrangig zum Ziel, die Sozialhilfeempfänger in niedrig bezahlte Voll- und Teilzeitbeschäftigungen zu drängen.

So verweist die Landesregierung in einer Stellungnahme stolz auf ein Modellprojekt in Elmshorn, in dem die Einführung eines Kombilohns erprobt wird. Damit werden vor allem Sozialhilfeempfänger in Arbeit gedrängt, während gleichzeitig der entsprechende Betrieb, der die Hilfeempfänger beschäftigt, großzügige finanzielle Unterstützung erhält.

Beschäftigungsgesellschaften, in denen vor allem Jugendliche "geparkt" und aus der Arbeitslosenstatistik herausgeholt werden, "sind in Schleswig-Holstein nahezu flächendeckend tätig", berichtet die Landesregierung. "Daneben werden z. B. Dienstleistungsagenturen öffentlich gefördert, da speziell in diesem Sektor zusätzliche einfach strukturierte Arbeitsplätze für Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger angeboten werden können."

Ferner werden in einer Art "Benchmarking" die Sozialämter bei ihrer Leistungsvergabe verglichen. "Ziel des Projektes ist es, den Wettbewerb der örtlichen Sozialhilfeträger um bessere Lösungen in der Sozialhilfe durch systematische Leistungsvergleiche zu fördern und einen systematischen Informationsaustausch zwischen den Sozialhilfeträgern zu installieren." Die örtlichen Sozialämter werden sich zukünftig in den Methoden, den Armen Leistungen vorzuenthalten, überbieten.

Es sei noch darauf hingewiesen, dass die Landesregierung in einem Punkt ganz und gar nicht mit den Soziologen übereinkam. Zwar sehe sie wie der Gutachter "im Rückgang des inländischen Erwerbspersonenpotentials und in der Alterung der deutschen Gesellschaft zwei von zahlreichen Faktoren, die bei einer Entscheidung über die Höhe zukünftiger Zuwanderung maßgeblich sind. Da es derzeit aber noch an Datenmaterial für eine verantwortliche umfassende Entscheidung über den zukünftigen Bedarf an Zuwanderung fehlt, wird die Auffassung des Gutachters, diese Faktoren zwängen nachhaltig eine über die Aufnahme von Flüchtlingen hinausgehende Zuwanderung, nicht geteilt."

Nach all diesen - menschliche Tragödien verschleiernden - nüchternen Zahlen wäre es interessant, etwas über den angehäuften Reichtum am anderen Ende der Gesellschaft zu erfahren. Denn der oben angesprochene Einwand gegen die Definition der "relativen Armut" ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Die durchschnittlichen Einkommen und Vermögen der Bundesbürger steigen bekanntlich ("durchschnittlich" hat z. B. jeder Haushalt in Deutschland ein Vermögen von 389.000 DM!). Der Landesarmutsbericht von Schleswig-Holstein hat trotzdem bewiesen, dass eine immer größer werdende Zahl von Menschen in Armut absinkt. Dass bedeutet aber gleichzeitig (bei steigenden Durchschnittseinkommen), daß am anderen Ende der sozialen Leiter der Reichtum immens gewachsen sein muss. Genauere Zahlen liegen allerdings nicht vor. Doch in der Stellungnahme der schleswig-holsteinischen Landesregierung heißt es: "Die neue Bundesregierung plant, eine Armuts- und Reichtumsberichterstattung in die Wege zu leiten." Wir sind gespannt.

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