Politische Nachbeben in der Türkei

Die Empörung breiter Schichten der einfachen Bevölkerung in der Türkei über den Staat nach dem verheerenden Erdbeben, dem schlimmsten in der Geschichte des Landes überhaupt, schlägt nach wie vor hohe Wellen. Regierung, Staatspräsident und Armeeführung haben darauf mit einer Mischung aus verächtlicher Arroganz und Nervosität reagiert. Schlagartig ist die tiefe Kluft sichtbar geworden, die das Establishment von der Bevölkerungsmehrheit trennt.

So groß ist die Krise der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, dass ein türkischer Kommentator sie bereits mit den letzten Tagen des - oberflächlichen Geistern ebenfalls bis dahin als übermächtig erscheinenden - stalinistischen Regimes in der Sowjetunion verglich. Diese Systemkrise haben jedoch früh auch Kräfte erkannt, die aus ganz entgegengesetzten Gründen als die türkische Bevölkerungsmehrheit mit der bestehenden Ordnung unzufrieden sind und deren berechtigte Wut in reaktionäre Kanäle zu lenken versuchen.

So ist es auffällig, dass gerade für alles andere als fortschrittliche Geisteshaltung bekannte Medienorgane - wie die konservativ-nationalistischen Hürriyet und Sabah - sich an die Spitze einer regelrechten Medienkampagne gegen die Unfähigkeit und Korruption des Staates gestellt haben. Die internationalen Medien werden ebenfalls nicht müde, die unfähigen und korrupten staatlichen Behörden sowie die skrupellosen Bauunternehmer in der Türkei an den Pranger zu stellen. Meist nur zwischen den Zeilen kann man erkennen, welche bösartigen politischen Tendenzen sich hinter dem Schwall wort- und tränenreicher Berichte und der demonstrativ zur Schau gestellten "Empörung" und "Betroffenheit" verbergen. Man sollte nicht vergessen, dass die gleichen Medien gerade erst ähnliche Emotionen benutzten, um die Verwüstung eines anderen Landes - Jugoslawiens - durch die Bomben und Raketen der NATO zu rechtfertigen. Politische Vorsicht ist deshalb angebracht.

Besonders in den türkischen Presseberichten fiel zweierlei auf: Erstens stellten sie mit Vorliebe das "Versagen" und die "Ineffektivität" des Staates der "Privatinitiative aus der Bevölkerung" gegenüber. Zweitens hoben sie die "großzügige und rasche" Hilfe v.a. der EU-Staaten, der USA und Japans hervor. Die Milliyet betonte, dies hätte gezeigt, dass die Interessen der Türkei "im Westen" lägen und sie an diesen angebunden werden müsse. Zustimmend zitierte sie die führende spanische Zeitung El Pais, die meinte, die EU müsse nun die Krise der Türkei nutzen, um sie stärker an sich heranzuziehen.

Überschwänglich priesen türkische Regierung und Medien, die schon lange auf eine Vollmitgliedschaft in der EU hoffen, denn auch die "Hilfsbereitschaft" der westlichen Regierungen. Diese nimmt sich freilich bei Licht betrachtet recht bescheiden aus: Ein bis zwei Millionen Mark sagten die meisten dieser Länder zunächst zu, später dann auch etwas mehr. Deutschland etwa brüstet sich mit der "gewaltigen" Summe von 5 Millionen Mark; das gleiche Land, das vor ein paar Jahren der türkischen Armee kostenlos Panzer und anderes militärisches Gerät im Wert von Milliarden DM zur Unterdrückung des Bürgerkrieges in der mehrheitlich kurdischen Südost-Türkei geliefert hatte.

An einer ernsthaften Hilfe für die Türkei ist der Westen aber auch gar nicht interessiert. Worum es den internationalen Banken und Konzernen ebenso wie einem einflussreichen Teil des türkischen Kapitals geht, machte bereits ein Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen vom 21. August hinreichend deutlich:

"Ungerührt hat dieser Staat bisher vorgegeben, selbst Erdbeben und dessen Folgen unter Kontrolle zu haben. Zentralistisch regiert er von Ankara aus das Land bis in den letzten Winkel und meint, seinen unmündigen Bürgern auch dann nicht trauen zu können, wenn es auf schnelles Handeln ankommt. Dem bekannten Industriellen Rahmi Koc platzte jetzt der Kragen. Es gehe nicht an, rief er aus, dass die Privaten immer nur Geld gäben: ,Wir wollen auch etwas zu sagen haben.‘"

Noch weitaus deutlicher wurde der britische Guardian am darauffolgenden Tag:

"Der Hintergrund der Ereignisse ist das gewaltige wirtschaftliche Wachstum, das die Türkei seit den achtziger Jahren durchmachte, in einem Versuch durch die Entfesselung des privaten Unternehmertums der Stagnation und Rückständigkeit zu entkommen.... Viele sind schnell reich geworden, viele auf unsaubere Art. Aber die Türkei hat große, taumelnde Schritte hin zur ,Moderne‘ unternommen, hin zur ungeschützten freien Marktwirtschaft, zu der die Europäische Union die Nationen nötigt, die ihr beitreten wollen.

Ist es also die ,neue Klasse‘ der Türkei aus nur auf schnelles Geld bedachten Unternehmern mit zwielichtigen politischen Beziehungen, die schuld ist? So einfach ist es nicht. So seltsam es klingt, diese Leute sind gleichzeitig auch diejenigen, in denen das Potential für einen Wandel zum Besseren nach der Katastrophe steckt... Aber in der Türkei klammert sich immer noch eine überkommene und diskreditierte politische Clique an der Macht fest, obwohl die türkische Gesellschaft sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert hat.

Es ist nicht schwer zu begreifen, dass die Türkei eine altmodische, demokratische Revolution der Mittelklasse braucht, in der diese neuen sozialen Kräfte die politische Macht ergreifen würden, die ihnen zusteht... An das Erdbeben von 1999 würde man sich dann als einen neuen Anfang, und nicht nur als Tragödie erinnern."

Die "demokratische Mittelklasse", von welcher der Guardian spricht, erweist sich bei näherem Hinsehen als selbstsüchtig, rücksichtslos und organisch feindlich gegenüber der Demokratie, sofern man darunter die Kontrolle der breiten Masse der Bevölkerung über die Gesellschaft versteht.

Die Entstehung dieser Schichten hat in der Tat vor zwanzig Jahren begonnen. Damals verlangten der Internationale Währungsfonds und die internationalen Banken von der Türkei, ihre am Boden liegende Wirtschaft zu deregulieren, d.h. staatliche Beschränkungen ungehemmten Profitstrebens zu lockern, die Wirtschaft dem internationalen Kapital stärker zu öffnen und den Lebensstandard der Arbeiter erheblich zu senken. Dies ließ sich nur durch systematischen faschistischen Terror gegen die Arbeiterbewegung und die Machtübernahme der Militärs 1980 durchsetzen. Wie in anderen Ländern erwies sich auch in der Türkei, dass das "freie Unternehmertum" umso freier wirken kann, je unfreier die Bevölkerung ist.

Aber in einem Staat, in dem eine kleine Minderheit sich ungehemmt, geschützt durch den Terror faschistischer Banden, von Militär und Polizei auf Kosten einer immer weiter in Armut versinkenden Mehrheit bereichern kann, gedeihen schnell Korruption, Vetternwirtschaft und Gangstertum. Sie bieten die beste Möglichkeit, an die begehrten Fleischtröge von Macht und Einfluss zu kommen. Dies ist die Grundlage für die enge Verflechtung von Staatsmacht, Mafia und Rechtsradikalismus in der Türkei, die in der Tatsache, dass der "politische Arm" der faschistischen Mafia-Banden - die MHP oder "Grauen Wölfe" - mit in der Regierung sitzt, ihren höchsten Ausdruck gefunden hat. Dieser Klüngel ist den neureichen Aufsteigern aber auch ein lästiges Hindernis für die vollständige Plünderung der Gesellschaft und ihren totalen Ausverkauf an die internationalen Banken und Konzerne.

Daher der Ruf nach einer "demokratischen Revolutionen der Mittelklasse", wie ihn der Guardian erhebt. Es gibt in der jüngsten Geschichte genügend Beispiele für solche Revolutionen - die jüngste fand eben erst in Indonesien statt. Ein Regime, das jahrzehntelang eine verlässliche Stützen des Imperialismus war, dessen parasitäres Verhältnis zur nationalen Wirtschaft im Zeitalter der Globalisierung aber zu einem Hindernis für die Bewegungsfreiheit des internationalen Finanzkapitals geworden ist, wird im Namen der "Demokratie" durch ein anderes ersetzt, das gegenüber den Ansprüchen des internationalen Kapitals wesentlich aufgeschlossener ist. Die soziale Lage der Massen verändert sich nicht, und wenn, dann zum Schlechteren. Am Moloch Staat werden vor allem die kümmerlichen, verbliebenen Sozialleistungen beschnitten, die Herrschaftsstruktur bleibt intakt.

In der Türkei ist das traditionelle, sich auf die Ideologie von Staatsgründer Kemal Atatürk berufende Establishment der wichtigste Garant für das Fortbestehen der gesellschaftlichen Ordnung. Dass nun auf einmal sichtbar geworden ist, wie verhasst die Regierung aus Sozialdemokraten, Konservativen und Faschisten in den Augen der Bevölkerung ist, sehen die etwas weitsichtigeren Teile des türkischen und internationalen Kapitals als ernsthafte Gefahr an. Deshalb wenden sie sich den Islamisten zu, die in den letzten Monaten mit viel oppositioneller Demagogie einen beträchtlichen Zulauf gewonnen und sich gleichzeitig mit ihrer Zustimmung zu dem vom IWF diktierten "Reformpaket" kurz vor dem Erdbeben als staatstragende und wirtschaftsfreundliche politische Kraft präsentiert haben.

So rief die Turkish Daily News in einem Leitartikel vom 20. August zu einer "Regierung der nationalen Einheit" auf und verlangte ein Ende der "Diskriminierung gläubiger Moslems". Anstelle des sinnlosen Konflikts zwischen Säkularisten und Islamisten solle eine "gemeinsame Anstrengung" zur Lösung der Probleme des Landes dienen. Am 24. August erhielt das Blatt Schützenhilfe von der britischen Financial Times.

Fest steht, dass die Auswirkungen des Erdbebens die politische Krise des türkischen Kapitalismus verschärft haben. Aber ein fortschrittlicher und wirklich demokratischer Ausweg aus dieser Krise ist nur möglich, wenn die Masse der arbeitenden Bevölkerung eine Partei aufbaut, die mit allen Flügeln der türkischen Bourgeoisie - ob kemalistisch oder islamistisch - bricht und sich eine sozialistische Neugestaltung der Gesellschaft zum Ziel setzt. Verbündete werden sie dabei nicht unter den westlichen Mächten finden, die eben erst Jugoslawien in Grund und Boden gebombt haben, sondern in der internationalen Arbeiterklasse.

Siehe auch:
75 Jahre Republik Türkei - eine Bilanz des Kemalismus
(7. November 1998)
Der Kampf für Demokratie in Indonesien
( 27. Mai 1998)
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