Rußland nach acht Jahren kapitalistischer Reformen

Eine soziale Krise "ohne Parallelen"

Die Augustkrise vom vergangenen Jahr hat den letzten Illusionen und Hoffnungen den Boden entzogen, die kapitalistischen Reformen in Rußland würden irgendwann zu einem Aufblühen von Wirtschaft und Lebensniveau führen. Die soziale Lage hat sich inzwischen drastisch verschlechtert.

Die Schuldenpyramide, mit der die Jelzin-Regierung verzweifelt versucht hatte, ihren Balanceakt zwischen den Interessen der einfachen Bevölkerung, der Finanzoligarchen (den russischen Neureichen, die einen Großteil des Finanzkapitals kontrollieren) und des internationalen Kapitals zu finanzieren, war am 17. August wie eine Seifenblase geplatzt. Der Rubel verlor innerhalb weniger Tage zwei Drittel seines Wertes, und Milliarden Dollar ausländischen Kapitals flossen in kürzester Zeit außer Landes.

Bereits vorher war die russischen Wirtschaft im Rahmen der Reformpolitik, die die Regierung seit der Auflösung der Sowjetunion verfolgt hatte, um nahezu 50 Prozent geschrumpft. Das Lebensniveau der einfachen Bevölkerung war dramatisch gesunken. Die Lebenserwartung für Männer betrug nur noch 55 Jahre, womit sich Rußland unter den Ländern der Welt hinter Platz 100 katapultiert hatte. Permanente Streiks, Protestbewegungen und Verzweiflungstaten hatten die "Reformperiode" geprägt.

Die Hoffnungen auf eine Veränderung richteten sich auf die neuen Mittelschichten, die - konzentriert vor allem auf Moskau und Petersburg - aus Bankangestellten, Unternehmern, Kleinhändlern und Spekulanten bestehen. Sie sollten die Stützpfeiler der neuen Ordnung und wegweisend für das ganze Land sein. Die 1997 erstmals um 0,5 Prozent gewachsene Wirtschaft und die auf unter 20 Prozent gesunkene Inflationsrate galten als ökonomischer Beleg für den kommenden Umschwung.

Die Augustkrise hat nun auch diesen Hoffnungen den Boden entzogen. Allein 200.000 bis 400.000 Bewohner Moskaus haben seitdem ihren Arbeitsplatz verloren. Die Mehrzahl von ihnen war in Banken, im Handel und den unzähligen neu entstandenen Dienstleistungsunternehmen beschäftigt. Nur noch die wenigsten hoffen, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Statt dessen kämpfen sie sich mit Gelegenheitsjobs durch den Alltag. So ist die Anzahl der Banken seit Anfang 1998 von 1700 auf derzeit 1476 zurückgegangen. Weitere 700 stehen jetzt schon vor dem Aus. Reisebüros, private Baufirmen, Anwaltskanzleien und Finanzberatungen, die mit ihnen aufs engste verbunden waren, wurden mit in den Abgrund gezogen.

Die Kaufkraft ist mit der Rubelabwertung rapide gesunken. Kostete eine DM vor der Krise 3,60 Rubel, muß man jetzt 13 Rubel dafür bezahlen. Importprodukte sind unerschwinglich geworden. Der Anteil der unter der Armutsgrenze Lebenden stieg nach offiziellen Angaben sprunghaft um 8 auf 30 Prozent. Der monatliche Durchschnittslohn von DM 200 sank auf DM 70, die Durchschnittsrente fiel von DM 90 auf DM 30. Das gilt für diejenigen, die ihre Bezüge überhaupt bekommen. Lehrer erhalten in Moskau DM 50, in der Provinz noch weniger.

Ebenso verheerend stellt sich das Bild in den Bereichen dar, die vom Staatshaushalt abhängen. Ganzen Regionen wie Kamtschatka, dem fernen Osten oder Teilen Sibiriens fehlt es in diesem Winter an Lebensmittel- und Heizmaterialvorräten. In unzähligen Ortschaften fielen Heizungen und Stromversorgung aus, weil die maroden Anlagen nicht mehr in Stand gehalten werden können oder das Brennmaterial zu Ende gegangen ist.

Auch die Krise des Gesundheitswesens hat sich weiter verschärft. Im Haushaltsentwurf für 1999, der die einschneidendsten Kürzungen seit zehn Jahren vorsieht, sind gegenüber dem Vorjahr 10 Prozent weniger Mittel für den Gesundheitssektor eingeplant. Der Anteil von 2,3 Prozent am Staatshaushalt ist europaweit ohnehin schon der mit Abstand geringste. In den USA liegt er bei 14 Prozent.

Die Gehaltsschulden gegenüber dem medizinischen Personal beliefen sich Ende 1998 auf über 4 Milliarden Rubel, umgerechnet über DM 300 Mio., die Zahlungsrückstände teilweise auf sechs bis acht Monate. Aus Geldmangel werden in mehr als einem Duzend Moskauer Kliniken seit August keine Patienten mehr aufgenommen, die älter als 65 Jahre sind.

Nach der Zerschlagung eines Großteils der "ineffizienten" einheimischen Pharmaindustrie durch die Reformer und auf Betreiben großer ausländischer Konzerne, die lediglich die Vertriebsstrukturen übernommen haben, um ihre eigenen Produkte abzusetzen, ist Rußland mittlerweile zu 60 Prozent von importierten Medikamenten abhängig. Seit der Abwertung haben sich deren Preise im Durchschnitt nahezu vervierfacht.

Der Staat ist jetzt nicht mehr in der Lage, die teuren Importe, darunter Herzpräparate und Insulin, zu bezahlen. "80 Prozent der notwendigen Medikamente müssen die Patienten künftig selbst bezahlen", erklärte Gesundheitsminister Starodubow. Doch wer hat das Geld dafür? Allein in Moskau sind 1,5 Millionen alte oder chronisch kranke Menschen auf die kostenfreien Rezepte angewiesen.

Für Diabetiker beläuft sich der monatliche Insulinbedarf auf durchschnittlich 40 Dollar, wobei in Rubel heute dreimal so viel bezahlt werden muß. Rußland stellt kein eigenes Insulin her und hat nur noch Vorräte für höchstens zwei Monate. 200 Millionen Dollar sind nötig, um das Land ein Jahr mit Insulin zu versorgen.

Die immer stärkere Verarmung der Bevölkerung führt zu einer schnellen Verbreitung von sozial bedingten Krankheiten, wie Drogensucht, Alkoholismus, Aids und Tuberkulose. Die Zahl der Tuberkuloseerkrankungen verdoppelte sich in den vergangenen fünf Jahren und liegt nun bei 73 Fällen bezogen auf 100.000 Einwohner. Internationalen Standards zufolge spricht man ab 50 Fällen von einer Epidemie. In den Gefängnissen und Straflagern leidet sogar jeder zehnte Häftling an dieser Krankheit.

1998 erkrankten 365.000 an Syphilis und 10.000 waren HIV-infiziert. Prognosen erwarten für das Jahr 2000 ein Ansteigen der Zahl der Infizierten auf nahezu 800.000. Insgesamt wurde bei 40 Prozent der Bevölkerung eine Schwächung des Immunsystems festgestellt. Jeder zweite Bewohner des Landes trinkt Wasser, das nicht den internationalen Normen entspricht. Mehr als 11 Millionen Menschen oder 7 Prozent der Bevölkerung sind Invalide. Jeder sechste von ihnen ist jünger als 45 Jahre.

Die soziale Krise hat mittlerweile Ausmaße angenommen, wie sie seit den Jahren der Weltkriege unbekannt waren. Selbst einer der eifrigsten Verfechter der kapitalistischen Reformen, Harvardprofessor Richard Pipes, mußte feststellen, daß "die Situation ... ohne Parallelen ist".

Die Regierung Primakow, seit September im Amt, ist der politische Ausdruck der Krise. Nicht eines der brennenden Probleme hat sie angepackt. Statt dessen laviert sie zwischen dem Anwerfen der Notenpresse, um die Wut der Bevölkerung zu dämpfen, und einer Neuauflage des Reformprogramms, um das Vertrauen des internationalen Kapitals wieder herzustellen, wobei sie gleichzeitig versucht, den Interessen der Finanzoligarchen Rechnung zu tragen.

Doch die Folgen der Asienkrise und der Preisverfall auf den Weltrohstoffmärkten, von denen Rußland stark abhängig ist, machen eine offene Konfrontation mit der Bevölkerung zunehmend unausweichlich. Jegor Jawlinsky, Vorsitzender der liberalen Jabloko-Partei, hat kürzlich deutlich gemacht, wie liberale Wirtschaftsreformen heute aussehen müßten: drastische Kürzungen von Unternehmenssteuern, Reduzierung des Staatshaushaltes auf ein Minimum und Schließung aller verbliebenen "ineffizienten" Betriebe. Solche Maßnahmen lassen sich nicht unter dem Deckmantel der "Demokratie" verwirklichen.

In dieser Situation erheben nationalistische und chauvinistische Kräfte ihr Haupt. Die Kommunistische Partei setzt ebenso wie Juri Luschkow, Bürgermeister von Moskau und Begründer der Partei "Vaterland", auf die nationale Karte. Antiamerikanische und antisemitische Parolen gehören längst zur gängigen Begleitmusik. Wie Lukaschenko in Weißrußland versuchen sie so, die Interessen der in den vergangenen Jahren stark gebeutelten einheimischen Bourgeoisie zu verteidigen.

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