Der britische Innenminister stellt Pinochet freies Geleit in Aussicht

Der britische Innenminister Jack Straw hat seine Absicht bekundet, das Auslieferungsverfahren des ehemaligen chilenischen Diktators Pinochet einstellen zu lassen. In diesem Falle steht dem 84-Jährigen die Rückkehr nach Chile frei.

Seit Oktober 1998 läuft ein Auslieferungsverfahren gegen Pinochet, das der spanische Richter Baltasar Garzon angestrengt hat. Er wirft Pinochet Folter und Verschwörung zur Folter in 35 Fällen vor. Den Vorwand für die Einstellung des Verfahrens bis Ende kommender Woche liefert ein ärztliches Gutachten über Pinochets Gesundheitszustand. Die vier Ärzte, die ihn am 5. Januar sechs Stunden lang untersucht hatten, erklärten, er sei einem Gerichtsverfahren in Spanien gesundheitlich nicht gewachsen. Der Innenminister erklärte daraufhin, die "eindeutige und einmütige" Schlussfolgerung der Ärzte laute, dass Pinochet "gegenwärtig nicht in der Lage ist, ein Gerichtsverfahren durchzustehen, und Einwände gegen diese Einschätzung sind nicht zu erwarten."

Straw hat eine siebentägige Frist eingeräumt, innerhalb derer seitens der spanischen und chilenischen Behörden Einsprüche geltend gemacht werden können. Diese sind natürlich nicht zu erwarten. Der Erleichterungsseufzer der britischen Regierung, dass man die Pinochet-Affäre endlich vom Hals haben wird, fand ein Echo in Madrid und Santiago. Die spanische Regierung war bereits im voraus von Straws Entscheidung in Kenntnis gesetzt worden und erklärte unmittelbar nach der Veröffentlichung, sie werde nichts unternehmen, um eine Auslieferung zu erzwingen. Die chilenische Regierung ihrerseits erklärte, die Entscheidung bestätige ihre Auffassung, dass Pinochet zu krank sei, um vor Gericht gestellt zu werden.

Auch andere Betroffene können Eingaben bei Straw machen, daher forderten die Initiativen gegen Pinochet, dass jegliche Entscheidung zur Einstellung des Auslieferungsverfahren von unabhängiger Seite juristisch überprüft werden müsse. Straw verweigert jedoch jede Einsicht in den ärztlichen Bericht, so dass eine solche Überprüfung faktisch ausgeschlossen ist. Juan Garces, ein spanischer Anwalt, der die Angehörigen Verschwundener vertritt, erklärte dazu: "Die ärztlichen Untersuchungsberichte sind uns nicht zugänglich... In dieser Hinsicht bekommen wir nichts zu Gesicht."

Wut und Empörung herrscht nun bei jenen, die Pinochet für die Folter und den Mord an Tausenden Arbeitern und Sozialisten während und nach dem Putsch von 1973 gegen die Regierung Salvador Allende gerichtlich zur Rechenschaft ziehen wollen. Marsella Pradenas, die als Teenager von der chilenischen Geheimpolizei vergewaltigt und gefoltert worden war, sagte: "Ich kann es nicht glauben... Bei dem Gedanken, dass dieser Mann freikommen und in Frieden sterben könnte, wird mir speiübel."

Pinochets rechtsgerichtete Anhänger in Großbritannien begrüßten Straws Entscheidung. Der ehemalige konservative Innenminister Michael Howard äußerte: "Es ist schade, dass Jack Straw diese Berichte nicht bereits vor Monaten anforderte und schon vor Monaten zu dieser Schlussfolgerung gelangt ist." Der konservative Abgeordnete Gerald Howarth meinte: "Es war ein verabscheuungswürdiges Verhalten, den ehemaligen Staatschef eines befreundeten Landes so lange einzukerkern."

Derartige Angriffe auf die Regierung seitens der Anhänger des ehemaligen Diktators sind gänzlich unangebracht. Labour hat Pinochet nicht freiwillig unter Hausarrest gestellt. Er befand sich als hochgeehrter Gast in Großbritannien, als unvermittelt der Auslieferungsantrag auf Straws Schreibtisch flatterte. Seither suchte die Regierung nach einem Vorwand ihn freizulassen.

Ein Gerichtsverfahren in Spanien hätte vor den Augen der Weltöffentlichkeit viele unangenehme, lange unterdrückte historische Fragen aufgeworfen. Der Übergang zu einer Zivilregierung in Chile 1990 war mit einer Amnestie für Pinochet und seine Mitverbrecher im Militär verbunden gewesen. Doch dieser Freibrief für die Junta kam nicht nur Pinochet, sondern noch höheren Tieren zupass.

Pinochets Regime war mit der aktiven Unterstützung des amerikanischen CIA und militärischen Geheimdienstes an die Macht gebracht worden. Die Nixon-Regierung hatte acht Millionen Dollar aufgewendet, um Allendes Regierung zu destabilisieren. Pinochets Polizeistaat wurde vom Westen als Bollwerk gegen die soziale Revolution in Lateinamerika unterstützt.

Die Rechten führten als Argument gegen ein Gerichtsverfahren in erster Linie an, dass dadurch der sogenannte Versöhnungsprozess in Chile untergraben und das Land destabilisiert würde. Auch diese Sorge erstreckte sich nicht nur auf Chile. Wenn der "Übergang zur Demokratie" in diesem Land in Gefahr geraten wäre, dann hätte dies Rückwirkungen auf viele andere lateinamerikanische Länder und auch auf Spanien gehabt, wo das Franco-Regime durch einen ähnlichen politischen Übergang abgelöst wurde, bei dem der alte Unterdrückungsapparat intakt blieb.

Die USA hatten von Anfang an deutlich gemacht, dass sie Pinochets Freilassung wünschten, und übten zweifellos hinter den Kulissen erheblichen Druck aus. Die chilenische Koalitionsregierung und die Sozialistische Partei verteidigten ihn. Die spanische Regierung wird von der Volkspartei geführt, die ihre Wurzeln in Francos Falange-Bewegung hat. Sie unterstützte die Initiative des Richters Garzon nicht, sondern empfand sie als peinlich.

Es gab jedoch zwei Gründe, weshalb Großbritannien Pinochet nicht einfach laufen lassen konnte. Erstens war da der weit verbreitete Wunsch der arbeitenden Bevölkerung, ihn einer gerechten Strafe zuzuführen. Zweitens hätte seine Freilassung einen wichtigen Aspekt der britischen Außenpolitik untergraben.

Das Hauptargument, das Pinochet in juristischer Hinsicht gegen seine Auslieferung vorbrachte, lautete, dass er als ehemaliges Staatsoberhaupt Immunität genieße. Wenn Großbritannien diesem Argument gefolgt wäre, hätte es damit seiner eigenen Begründung für den Kosovo-Krieg sowie seinen künftigen Plänen hinsichtlich des Irak und anderer Länder widersprochen. Zum Zeitpunkt von Pinochets Verhaftung hatte Premierminister Blair aggressiv den Standpunkt vertreten, dass seine neue "ethische Außenpolitik" den Großmächten gestatte, über Fragen der nationalen Souveränität hinwegzugehen, um sich direkt in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, sofern diesen Verstöße gegen die Menschenrechte vorgeworfen werden. Hätte man Pinochet laufen lassen und gleichzeitig den Sturz Saddam Husseins und Slobodan Milosevics wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verlangt, so hätte die Glaubwürdigkeit von Blairs Kriegspropaganda Schaden genommen. Die britischen Lordrichter ließen also das Argument von Pinochets Verteidigern hinsichtlich seiner Immunität nicht gelten.

Die Zeitung Guardian, die der Labour Party nahe steht, begrüßte sowohl das Auslieferungsverfahren gegen Pinochet als auch den folgenden Krieg gegen Serbien als Boten einer "neuen Ära der Menschenrechte". Nachdem der Krieg gegen Serbien jedoch gewonnen war, schlug der Guardian in der Pinochet-Affäre andere Töne an. Vergangenen Oktober schrieb der renommierte Kommentator Hugo Young einen Artikel unter der Überschrift: "Der kranke alte Chilene hat seinen Zweck erfüllt. Die Richter haben ihre Arbeit getan, und die Folgen werden von Dauer sein... Das Gerichtswesen ist der Held dieser Geschichte und hat sein Werk vollbracht. Wenn der Politiker [Straw] nun eine politische Entscheidung träfe, dann würde er es nicht mehr untergraben. Er würde zur Normalität zurückkehren."

Viele Leute vertrauten in naiver Weise auf die britische Justiz, sie werde ein Verfahren gegen Pinochet ermöglichen. Die Kommunistische Partei Chiles und Teile der Sozialistischen Partei förderten diesen Glauben. Das jetzige Ergebnis entlarvt einmal mehr die falsche, letztlich fatale Politik des Stalinismus, die den Mythos verbreitet, man könne vermittels der Institutionen des kapitalistischen Staates in der Gesellschaft Gerechtigkeit erreichen.

Trotz der juristischen und politischen Schwierigkeiten, die den Regierungen in Chile, den USA, Großbritannien, Spanien und anderswo aus der Verhaftung Pinochets erwuchsen, ermöglichte das Fehlen einer politisch unabhängigen Massenbewegung der Arbeiterklasse den herrschenden Kreisen schließlich eine Lösung in ihrem Sinne. Die imperialistischen Mächte werden nun die "Verteidigung der Menschenrechte" je nach Bedarf weiterhin als Vorwand benutzen, um gegen Nationen und Regierungen vorzugehen, die ihren globalen Ambitionen im Wege zu stehen scheinen. Wie im Falle des Kosovo-Krieges helfen ihnen dabei verschiedene liberale Organisationen, die unkritisch die Vorstellung verbreiten, dass man den Großmächten und deren Organen, wie den Vereinten Nationen, die Verteidigung demokratischer Rechte anvertrauen könne.

Die bevorstehende Abreise Pinochets nach Chile fällt mit den dortigen Präsidentschaftswahlen zusammen. Beide Kandidaten, der Pinochet-Anhänger Joaquin Lavin und Ricardo Lagos von der Sozialistischen Partei haben sich für seine Straffreiheit ausgesprochen. Nach dem ersten Wahlgang am 12. Dezember hatten sie so nahe beieinander gelegen, dass ein zweiter notwendig wurde. Beide vermeiden jede Diskussion über Pinochet und über die Zeit der Militärherrschaft.

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