Viel Lärm um Fischer

Die Debatte um die Vergangenheit des Außenministers

Seit Tagen füllen lange Beiträge über die Straßenkämpfer-Vergangenheit von Bundesaußenminister Joschka Fischer die deutschen Gazetten. Der Stern machte zu Jahresbeginn den Anfang mit einem "Ja, ich war militant" betitelten Interview, umrahmt von angeblich neu entdeckten Bildern, die Fischer bei einer Schlägerei mit einem Polizisten vor 28 Jahren zeigen. Der Spiegel folgte mit der Schlagzeile "Joschkas wilde Jahre", einer 14-seitigen Titelstory, denselben Bildern und einem weiteren Fischer-Interview.

Aus den Reihen der Opposition erschallt der Vorwurf, Fischer distanziere sich nicht ernsthaft genug von seiner gewalttätigen Vergangenheit, gefolgt von Rücktrittsforderungen. In den Kommentarspalten der Presse wird debattiert, ob Fischer als außenpolitischer Repräsentant Deutschlands weiter tragbar sei. In den Feuilletons streitet man sich, ob Fischer als karrieresüchtiger Opportunist oder als reuiger Sünder einzuschätzen sei, der aus früheren Fehlern gelernt habe.

Fischer selbst hat sich in aller Form bei der Polizeigewerkschaft entschuldigt und will demnächst den Polizisten treffen, den er 1973 verprügelt hatte - ein Mann, der ironischerweise mit Nachnamen Marx heißt.

Inhaltlich bieten die jüngsten Enthüllungen nichts Neues. Alles, was in den Medien jetzt wieder detailliert ausgebreitet wird, ist seit Jahren bekannt und öffentlich dokumentiert. Neu ist allenfalls die Identifikation Fischers als der behelmte und vermummte Mann, der auf dem Foto von 1973 mit erhobener Faust auf einen Polizisten einschlägt. Dass sich Fischer aber aktiv an Straßenschlachten mit der Polizei beteiligt hatte - oder wie er es im jüngsten Stern -Interview ausdrückte: "Wir haben Steine geworfen. Wir wurden verdroschen, aber wir haben auch kräftig hingelangt" -, war nie ein Geheimnis.

In der 1997 erschienen, halboffiziellen Biografie von Sibylle Krause-Burger kann man nachlesen, wie Fischer 1974 in einer öffentlichen Debatten mit dem Juso-Funktionär Karsten Voigt (heute in Fischers Ministerium für die Beziehungen zu Amerika zuständig) das Werfen von Steinen gegen die "Repräsentanten des Systems" verteidigte. Hierin bestehe, so Fischer damals, "die Alternative zwischen einem Reformismus, der letztendlich die Praxis des Kapitals darstellt, oder dem ... was heißt: Massenwiderstand gegen die reaktionäre Gewalt zu organisieren!" In der 1998 veröffentlichten, weniger freundlich gesonnenen Fischer-Biografie von Christian Schmidt werden die Straßenkampf-Aktivitäten von Fischers sogenannter "Putzgruppe" detailliert geschildert.

Fischer selbst hat aus seiner militanten Vergangenheit nie ein Hehl gemacht. In der Atmosphäre der siebziger Jahre, als die Polizei mit äußerster Gewalt gegen Demonstranten vorging und dabei nicht nur die Grenzen der Verhältnismäßigkeit, sondern auch die der Legalität weit hinter sich ließ, war eine solche Haltung keineswegs außergewöhnlich.

Selbst Knut Müller, in den siebziger Jahren für die Frankfurter Polizei zuständig und Feindbild Nummer eins der Haubesetzer, gibt heute zu, dass die damaligen Proteste von breiten Bevölkerungsschichten unterstützt wurden und etwas bewirkt haben. "Die haben das Frankfurter Westend vor der Zerstörung durch Hochhausbauten bewahrt," sagte der inzwischen 71-jährige kürzlich der Süddeutschen Zeitung. Erst die Besetzungen hätten zum Sinneswandel bei der SPD geführt, ohne die Militanten hätte die Bürgerinitiative Westend das nicht geschafft.

Als Fischer vor zwei Jahren zum Außenminister vereidigt wurde, lagen jedenfalls alle jetzt wieder aufgewärmten Tatsachen auf dem Tisch, ohne dass sich jemand daran gestört hätte. Warum jetzt diese Aufregung?

Unmittelbarer Anlass für das verstärkte Medieninteresse an Fischers Vergangenheit ist der Prozess gegen Hans-Joachim Klein, der seit dem letzten Herbst in Frankfurt wegen seiner Beteiligung am Überfall auf die Wiener OPEC-Konferenz im Jahr 1975 vor Gericht steht.

Klein war Mitglied von Fischers Sponti-Gruppe, bevor er sich unter dem Kommando von "Carlos" alias Ilich Ramírez Sánchez am OPEC-Attentat beteiligte. Später distanzierte er sich vom Terrorismus, tauchte unter und einige enge Freunde Fischers - darunter Tom Koenigs (zur Zeit Leiter der zivilen UN-Verwaltung im Kosovo), Daniel Cohn-Bendit (Europaabgeordneter der französischen Grünen) und der Kabarettist Matthias Beltz - standen mit ihm in Kontakt. Im September 1998 wurde er in Frankreich verhaftet und an Deutschland ausgeliefert. Fischer selbst ist als Zeuge zum Klein-Prozess geladen und wird - nach anfänglichen Vorbehalten - am 16. Januar in Frankfurt aussagen.

Seit Beginn des Klein-Prozesses recherchieren verschiedene Journalisten verstärkt über Fischers Vergangenheit. Richtig in Fahrt kam die Debatte über Fischer aber erst, nachdem die Journalistin Bettina Röhl sich mit den jetzt veröffentlichten Bildern an die großen Nachrichtenmagazine gewandt hatte.

Bettina Röhl arbeitet seit fünf Jahren an einem Buch, in dem sie ihre eigene tragische Verstrickung in die Ereignisse der siebziger Jahre aufarbeitet. Die Tochter der RAF-Gründerin Ulrike Meinhof und des konkret -Herausgebers Klaus Rainer Röhl war acht Jahre alt, als ihre Mutter in den Untergrund ging, und dreizehn, als sich diese im Gefängnis umbrachte. Diese traumatische Erfahrung hat sich bei ihr in einem pathologischen Hass gegen die Vertreter der 68er Bewegung im Allgemeinen und gegen Joschka Fischer im Besonderen niedergeschlagen.

Der zum Springer-Konzern gehörende Econ-Verlag hat die Veröffentlichung ihres Buchmanuskripts mit der Begründung abgelehnt, es sei ideologisch zu rechtslastig, und dies obwohl der Springer-Verlag, der auch die Bild -Zeitung herausgibt, 1968 eine der wichtigsten Zielscheiben der Protestbewegung war. Nun soll das Buch unter dem Titel "Sag mir, wo Du stehst" bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen, wo auch Fischers eigene Bücher veröffentlicht werden.

Die Bilder, die Fischer in Aktion zeigen, wurden Röhl von dem pensionierten Fotografen Lutz Kleinhans gegen einen geringen Betrag für die Arbeit an ihrem Buch zur Verfügung gestellt. Kleinhans hatte sie 1973 für die Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufgenommen, die sie auch veröffentlicht hatte. Röhl bot die Bilder anschließend ohne Angabe der Quelle für horrende Summen verschiedenen Presseorganen an, obwohl sie weder über die Urheber- noch über die Veröffentlichungsrechte verfügte. Filmmaterial, dass sie im selben Zusammenhang aus Archiven der ARD ausgeliehen hatte, wollte sie nur unter der Bedingung zurückgeben, dass ihr Bild in den Tagesthemen gezeigt wird.

Dass Bettina Röhl - gelinde ausgedrückt - einige persönliche Probleme hat, macht auch ein Blick auf ihre Web Site deutlich. Dort sind neben ihr selbst die Bilder über Fischer, unterlegt mit der Titelmelodie des Films "Spiel mir das Lied vom Tod", zu bewundern, außerdem ein Offener Brief an Bundespräsident Johannes Rau, in dem Röhl begründet, weshalb sie mittlerweile Strafanzeige gegen den Außenminister gestellt hat.

Dieser Brief ist eine Mischung von abstrusen Verschwörungstheorien und offener Hysterie. Er beginnt mit den Worten: "Hier muss ich sie in ihrer Funktion als Bundespräsident und Verfassungsorgan ansprechen: Es geht um die Person Josef Martin Fischer. Es geht um dessen Vergangenheit. Und es geht um das aktuelle System Fischer, das Fischer-Netz. Es geht um ein die Wahrheit unterdrückendes Medienkartell. Es geht um einen Staatsnotstand" ... und so weiter, über zwei Dutzend Seiten.

Dass dieses Material ernst genommen wird - Stern und Spiegel verweisen bis heute an prominenter Stelle auf Röhls Web Site -, sagt viel über die skrupellosen Methoden aus, mit denen die Medien politische Skandale ausschlachten oder lostreten. Das Ausmaß, das die Debatte um Fischer angenommen hat, macht aber auch deutlich, dass es dabei um mehr geht als nur um einen persönlichen Skandal.

Die Kommentare, die bisher erschienen sind, lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Die einen, eine Minderheit, betrachten Fischers militante Vergangenheit als Bedrohung der staatlichen Autorität und fordern eine noch ausdrücklichere Distanzierung oder den Rücktritt des Außenministers. Die anderen, die Mehrheit, werten Fischers Metamorphose vom militanten Staatsgegner zum Vizekanzler als Beweis für die Stärke und Integrationskraft des Staates. Beide sind sich einig, dass die staatliche Autorität der Bestätigung und Stärkung bedarf.

Am prägnantesten hat den zweiten Standpunkt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung formuliert. "Gerade die Verfechter eines starken Staats," schreibt er, "sollten stolz auf die Integrationskraft dieses Staates sein." Stark sei der Staat dann, wenn er kritische Bewegungen integrieren könne, und nicht wenn er ständig neue Sicherheitsgesetze produziere. Ähnlich argumentiert Herbert Riehl-Heyse in derselben Zeitung. Er meint, die Republik sei "bestimmt nicht schwächer geworden, als sich ihre Institutionen überraschenderweise als Magnet erwiesen haben für einige der begabtesten ehemaligen Systemveränderer." Und in der Zeit kommentiert Ulrich Greiner im selben Sinne: "Die Demokratie sollte die Heimkehr ihrer verlorenen Söhne und Töchter begrüßen. Sie sollte sich aber nicht das Recht des Herrn anmaßen und die Motive erforschen wollen."

In der Tat lässt sich Fischers Ernennung zum Außenminister und die breite Unterstützung, die er seither bei der Mehrzahl der Medien erfahren hat, nur damit erklären, dass er die "verlorenen Söhne und Töchter" der 68er Generation in den Schoß der herrschenden Ordnung zurückgeführt hat. Die Grünen waren der organisierte Ausdruck dieser Generation zu einem Zeitpunkt, als sie ihre systemverändernden Ideen zwar längst aufgegeben hatte, aber immer noch starken pazifistischen, ökologischen und zum Teil auch sozialen Standpunkten anhing. Ohne Fischer und die ihm verpflichtete Parteiführung hätte der weitverbreitete Widerstand gegen internationale Einsätze der Bundeswehr nicht so leicht überwunden werden können, wäre die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg auf erheblich größeren Widerstand gestoßen.

Warum wird dies mit der jüngsten Kampagne um Fischers Vergangenheit plötzlich wieder in Frage gestellt? Es gibt dafür mehrere Gründe.

Zum einem melden sich all jene am rechten Rand des politischen Spektrums wieder zu Wort, die sich nie mit dem Einzug der Grünen in die Bundesregierung abgefunden haben.

Dann haben sich die Grünen selbst politisch erschöpft. Sie haben ihre Schuldigkeit getan. Mit der sukzessiven Aufgabe all ihrer bisherigen Ziele seit dem Regierungseintritt - sei es in der Frage von Militäreinsätzen, des Atomausstiegs oder der Sozialpolitik - haben sie auch ihre Fähigkeit verloren, ein Protestpotential anzuziehen und zu integrieren. Mit den inzwischen über fünfzigjährigen 68-ern ist ihnen das zwar gelungen, bei der jüngeren Generation haben sie dagegen kaum Einfluss und Unterstützung. Diese wird sich, gerät sie in Konflikt mit der bestehenden Ordnung, anderweitig orientieren. Daher gibt es auch wenig Grund, die Grünen länger in der Regierung zu halten.

Die wichtigste Ursache für die gegenwärtige Debatte dürfte aber sein, dass sich die staatliche Autorität selbst herausgefordert fühlt. Die Art und Weise, wie alle Kommentare, ob pro oder contra Fischer, den starken Staat beschwören und immer neue Distanzierungen von der militanten Vergangenheit verlangen, macht dies deutlich.

Die 68-er Protestbewegung, die ganz Europa und die USA erfasste, beschränkte sich nicht auf Straßenkämpfe und Prügeleien mit der Polizei. Es war eine breite soziale Bewegung, die neben der Mehrheit der Studenten auch große Teile der Arbeiterschaft erfasste. In Frankreich führte ein Generalstreik beinahe zum Sturz der Regierung de Gaulle, die sich nur dank der Kommunistischen Partei halten konnte.

Die von Cohn-Bendit und Fischer 1969 gegründete Organisation "Revolutionärer Kampf" war ein Zerfalls- und Degenerationsprodukt dieser Bewegung. Anfangs wandte sie sich - zumindest physisch - noch kurz der Arbeiterklasse zu, indem ihre Mitglieder bei Opel am Fließband anheuerten. Nach wenigen Monaten zog sie den Schluss, dass mit den Arbeitern nichts anzufangen sei, und orientierte sich an der Hausbesetzerszene.

Die nun propagierte Auffassung, der Unterschied zwischen reformistischer und revolutionärer Politik bestehe in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit dem Staat, ist nicht nur primitiv und theoretisch absurd, ihr wohnt auch ein gehöriges Maß an Eigenliebe, Narzissmus und Verachtung für die Arbeiterklasse inne. Im marxistischen Sinne besteht der Unterschied zwischen einer reformistischen und einer revolutionären Perspektive darin, dass sich letztere bemüht, die Arbeiterklasse vom Einfluss bürgerlicher Parteien, insbesondere der Sozialdemokratie zu befreien und in die Lage zu versetzen, politisch selbständig zu handeln. Das erfordert keine wilden Abenteuer im "Straßenkampf", sondern eine geduldige Erziehungsarbeit. Daran zeigten Fischer und seine Gefährten nicht das geringste Interesse.

Heute gibt es äußerlich wenig Anzeichen für eine massive Protestbewegung wie Ende der sechziger Jahre. Aber die sozialen Beziehungen sind zum Zerreißen gespannt. Breite Schichten der Bevölkerung führen einen verzweifelten Kampf ums tägliche Leben und fühlen sich der offiziellen Politik völlig entfremdet. Die katastrophale Bestandesaufnahme über die Lage in den neuen Bundesländern, die Bundestagspräsident Thierse kürzlich im Widerspruch zur offiziellen Regierungspropaganda veröffentlichte, macht dies deutlich.

Unter diesen Umständen empfinden die tonangebenden Kreise in Medien und Politik jede Infragestellung der staatlichen Autorität als unmittelbare Bedrohung. Das ist der Hintergrund der Debatte über Fischer. Man schlägt den Sack und meint den Esel. Geprügelt wird Fischer, an dessen Staatstreue nicht die geringsten Zweifel bestehen, gemeint sind die breiten Bevölkerungsschichten, deren Unzufriedenheit sich unweigerlich politisch äußern muss.

Auch wenn dies im Moment wenig wahrscheinlich erscheint, lässt sich nicht völlig auszuschließen, dass die Auseinandersetzung Fischer letztlich das Amt kosten und das Ende der rot-grünen Koalition einläuten wird.

Es gibt in Fischers Biografie einige dunkle Flecken, deren Erleuchtung er politisch kaum überleben dürfte. Im Gespräch ist zur Zeit insbesondere ein Molotow-Cocktail, der am 10. Mai 1976, ein Tag nach dem Tod Ulrike Meinhofs, in ein Polizeiauto geworfen wurde und den Polizisten Jürgen Weber lebensgefährlich verletzte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte damals wegen "Mordversuchs". Fischer wurde kurzfristig als Tatverdächtiger verhaftet und dann mangels Beweisen wieder freigelassen. Der Täter wurde bis heute nicht gefunden. Seither tauchen immer wieder Gerüchte auf, dass Fischer in die Sache verwickelt war. So soll er sich am Vorabend auf einer Besprechung von militanten Demonstranten für den Einsatz von Molotow-Cocktails stark gemacht haben. Das behauptet z.B. Christian Schmidt in seiner zwei Jahre alten Fischer-Biografie, ohne das Fischer dagegen etwas unternommen hätte.

Sollte die rot-grüne Bundesregierung 25 Jahre nach diesem Ereignis deswegen zu Fall kommen, würde dies eindeutig die politische Rechte stärken. Die Rechten in der Union, die in der Bundestagswahl 1998 empfindlich in die Schranken gewiesen wurden, würden auftrumpfen. Von Fischer und den Grünen ist dagegen allerdings ebenso wenig Widerstand zu erwarten wie von der SPD. Mit seinen ständigen Entschuldigungen für seine Vergangenheit und seinen Loyalitätserklärungen zum Staat ebnet er im Gegenteil den Rechten den Weg.

Siehe auch:
Ein Portrait des Außenministers Joseph Fischer
(28. Oktober 1998)
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