Texanische Mutter ertränkt ihre Kinder: Andrea Yates und die "Familienwerte"

Der tragische und schockierende Fall von fünf Kindern, die in einer Vorstadt von Houston im amerikanischen Bundesstaat Texas von ihrer Mutter Andrea Yates ertränkt wurden, hat Millionen Menschen erschüttert.

Zweifellos werden noch mehr Fakten auftauchen, aber was bereits bekannt geworden ist, zeichnet ein verstörendes Bild einer bestimmten Mentalität und Lebensart in Amerika.

Bis zu den schrecklichen Ereignissen des 20. Juni waren Russell und Andrea Yates mit ihren fünf Kindern eine Familie, wie sie Ronald Reagan als Vorbild für Amerika hätte auswählen oder wie sie auf der Bühne einer nationalen Versammlung der Republikanischen Partei hätte vorgeführt werden können: ein verantwortungsvoller, arbeitender Vater; eine Mutter, die sich auf ihre Aufgabe als Hausfrau konzentriert und ihre Kinder zu Hause unterrichtet; herausgeputzte, ordentliche, lächelnde Kinder - eine Huldigung der "traditionellen Familienwerte", wie sie sich die christliche Rechte vorstellen.

Laut ihrer Aussage gegenüber der Polizei ertränkte Andrea Yates ihre Kinder nacheinander in der Badewanne des Hauses. Sie sagte, dass sie zuerst ihre jüngeren Söhne ertränkte - den fünfjährigen John, den dreijährigen Paul und den zwei Jahre alten Luke. Während sie versuchte, dasselbe mit ihrer sechs Monate alten Tochter zu tun, kam der siebenjährige Noah herein und fragte: "Was ist mit Mary los?"

Yates gestand, dass sie Noah durch das Haus jagte und ihn zurück ins Badezimmer zog. Als die Polizei erschien, sagte Yates den Beamten: "Ich habe gerade meine Kinder getötet." Die noch nassen Leichen der vier Jüngeren wurden unter einem Laken auf dem Bett gefunden, Noah fand man in der Badewanne.

Fünf eigene Kinder auf solch methodische und unerbittliche Art zu ertränken ist eine entsetzliche Tat, unfassbar unter normalen und selbst unter äußerst ungewöhnlichen Umständen. Mit einer Ausnahme waren die Kinder alle keine Säuglinge. Allein die benötigte körperliche Kraft, ganz abgesehen von der emotionalen Verzweiflung, deuten auf einen Zustand hin, der an "Besessenheit" grenzt. Es handelte sich offensichtlich um eine Frau, die von tiefster Hoffnungslosigkeit und Wahnsinn ergriffen war.

Die 37-jährige Yates sitzt derzeit unter Mordanklage im Gefängnis von Harris County, wo sie wegen Selbstmordgefahr unter besonderer Beobachtung steht. Sie erwartet ein Urteil durch ein Gericht, das am häufigsten in den Vereinigten Staaten die Todesstrafe verhängt und somit die schärfste Rechtsprechung der westlichen Welt praktiziert. Wenn Harris County ein eigener Bundesstaat wäre, läge er mit seinen 62 Hinrichtungen seit 1977 an dritter Stelle hinter Texas und Virginia. In ganz Texas wurden im gleichen Zeitraum insgesamt 248 Menschen exekutiert.

Yates Anwalt George Parnham hat angedeutet, dass die Verteidigung höchstwahrscheinlich wegen Geisteskrankheit auf nicht schuldig plädieren wird. Am 25. Juni sagte Parnham über Andrea Yates, sie sei in "einem sehr tiefen psychotischem Zustand", und bemerkte, dass es ihm bislang noch nicht gelungen sei, mit seiner Klientin eine rationale Unterredung zu führen.

Was wir über Andrea Yates wissen, lässt vermuten, dass sie eine liebende und mitfühlende Person war - und dies nicht nur gegenüber ihren eigenen Kindern. Von 1986 bis 1994 arbeitete sie in einer der renommiertesten Krebskliniken des Landes an der Universität von Texas als Krankenschwester. Außerdem war offenbar sie diejenige unter den fünf Kindern ihrer Eltern, die die meiste Zeit mit ihrem todkranken Vater verbrachte, der an Alzheimer litt.

Yates wuchs in der Gegend von Houston auf. Ihr Vater, Lehrer an einer weiterführenden Schule, hatte im Zweiten Weltkrieg als Bomberpilot gegen Deutschland gekämpft; ihre Mutter stammte aus der Region. Yates, die Mitglied der National Honor Society und Kapitän des Schwimmteams war, machte 1982 den zweitbesten Abschluss ihres Jahrgangs an der High School. Sie setzte ihre Ausbildung an der Krankenpflegerschule der Universität von Texas fort, die sie 1986 abschloss. Danach arbeitete sie im Krebszentrum.

1993 heiratete sie Russell Yates; beide waren damals 28 Jahre alt und kannten sich seit vier Jahren. Zehn Monate nachdem ihr erster Sohn Noah geboren wurde, gab Andrea Yates ihren Beruf auf. Zwei Jahre später verfiel ihre Berechtigung als Krankenschwester zu arbeiten.

In den nächsten sieben Jahren bekam Yates vier weitere Kinder. Nach der Geburt ihres vierten Kindes im Juni 1999 versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Die Zeitung Houston Chronicle berichtete: "Der Selbstmordversuch fand im Haus ihrer Eltern im Südosten Houstons statt - und sie versuchte sich mit einer Überdosis der Alzheimer-Medikamente ihres Vaters umzubringen." Trotzdem wurde Yates Anfang des Jahres 2000 wieder schwanger und gebar im November ihr fünftes Kind. Im März starb ihr Vater.

Russell Yates sagte, dass seine Frau wegen ihrer emotionalen Schwierigkeiten vier verschiedene Medikamente einnahm. Eines davon, Haldol (Haloperidol), ist besonders stark und wird nach Angaben einer Monografie über Geisteskrankheiten angewandt "bei der Behandlung von Symptomen von akuter und chronischer Psychose, unter anderem bei Schizophrenie und manischen Zuständen".

Nach der Geburt ihres vierten Kindes begann Andrea mit der Einnahme dieses Medikaments, das häufig Leuten verschrieben wird, die Stimmen hören oder unter Wahnvorstellungen leiden.

Als am 20. Juni die Tragödie stattfand, nahm sie Effexor und Remeron, zwei Antidepressiva, und hatte bereits zuvor Wellbutrin, ein weiteres Antidepressivum, sowie Haldol eingenommen. Ihr Mann sagte der Presse, dass seine Frau in Therapie gewesen sei, jedoch nicht mehr zum Zeitpunkt der Morde. "Er sagte, sie hätten kürzlich darüber gesprochen, dass sie die Therapie wieder aufnehmen sollte, aber sie sei noch nicht dazu gekommen," berichtete die Houston Chronicle.

Yates erklärte auch, dass die Geburt des fünften Kindes und der Tod des Vaters bei seiner Frau erneut eine tiefe Depression ausgelöst hätten. Sie habe sich zurückgezogen und sei in den drei Wochen vor dem Mord an ihren Kindern in ihren Bewegungen "roboterhaft" gewesen, sagte er. Ihr Bruder sagte der Presse, dass Andrea bei einem Besuch im Haus ihrer Mutter im Frühjahr dieses Jahres - vermutlich nach dem Tod ihres Vaters - sich ein Messer an die Kehle gehalten und mit Selbstmord gedroht habe. Fälle von Frauen, die nach der Geburt eine Depression erleben, sind relativ weit verbreitet; dass nach der Entbindung einer Psychose solcher Art folgt, wie sie Andrea Yates offenbar erlitt, geschieht dagegen extrem selten.

Ein nicht namentlich genannter Beamter, der mit Andrea Yates‘ Aussagen gegenüber der Polizei vertraut ist, sagte der Zeitung Dallas Morning News : "Sie sagte im Wesentlichen, sie habe erkannt, dass sie eine schlechte Mutter sei, und gefühlt, dass die Kinder behindert seien - dass sie sich nicht normal entwickelten." Yates behauptete angeblich, dass sie schon seit einigen Monaten darüber nachgedacht hätte, sie zu töten.

Freunde und ehemalige Klassenkameraden zeigten sich nach der Nachricht vom Tod der fünf Kinder äußerst schockiert. Die ehemalige Klassenkameradin Kelly Young sagte gegenüber Reportern: "Das ist nicht die Andrea, die wir kannten. Sie war warmherzig und mitfühlend. Sie hätte niemandem etwas zuleide getan und am wenigsten einem Kind." Ein Nachbar bemerkte über Russell und Andrea Yates: "Sie schienen einfach eine typische amerikanische Familie zu sein."

Yates‘ Geschichte machte sie offensichtlich zu einer Frau, die bereit war, sich den Wünschen ihres Mannes in jeder wichtigen Frage unterzuordnen. Auf diese Weise geriet das Schicksal der Familie anscheinend mit der christlich-fundamentalistischen Ideologie der "Familienwerte" in Verbindung.

Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass ihr Mann in dieser Hinsicht die treibende Kraft war. Andreas ehemalige Bekannte Kelly Young sagte der Houston Chronicle : "Nicht in einer Million Jahren hätte ich erwartet, dass sie fünf Kinder bekommt, und erst recht nicht, dass diese religiöse Namen tragen. Sie machte nie eine Andeutung, dass sie Interesse an vielen Kindern habe."

Russell Yates hat eingeräumt, dass er derjenige in der Familie war, der "tiefe religiöse Gefühle" hegte. Ein Nachbar beschrieb ihn als "konservativ". Verwandte sagten der Presse, dass das Paar nicht Mitglied in einer Kirche war, aber wenn man die Beerdigungsstätte der Kinder als Hinweis nehmen darf, dann scheint Russell Yates Beziehungen zur Church of Christ zu haben. Dies ist eine von vielen protestantischen Sekten, die weltweit etwa zwei Millionen Mitglieder zählt. Nach Angaben der Website der Church of Christ ist die "Mitgliedschaft der Kirche am stärksten in den Südstaaten der Vereinigten Staaten, vor allem in Tennessee und Texas".

Wie sie auf ihrer Website erklärt, hält die Church of Christ die Bücher der Bibel für "göttlich inspiriert, womit gemeint ist, dass sie unfehlbar und maßgeblich sind". Wie alle fundamentalistischen Sekten vertritt sie archaische und reaktionäre Konzeptionen über die Familie und die gesellschaftliche Rolle der Frau. Die folgende Ansicht zur Beziehung zwischen den Geschlechtern, die einer anderen christlichen Website entnommen ist, ist wohl typisch: "Wenn ein Mann und eine Frau heiraten, nehmen sie bestimmte funktionale Positionen ein. Männer sind aufgerufen, der Kopf des Haushalts zu sein, während Frauen sich ihnen fügen müssen. Der Mann hat die höchste Autorität und Verantwortung für das, was im Haus vorgeht. Er hört seiner Frau zu und trifft dann Entscheidungen, die auf biblischer Weisheit basieren."

Freunde sagten, dass Andrea Yates sich "in vielen verschiedenen Fragen" in der Öffentlichkeit ihrem Mann beugte. Ein Nachbar kommentierte: "Er wollte absolut nicht, dass sie arbeitete. Er wollte, dass sie zu Hause bleibt." Ebenfalls war es sein starker Wunsch, eine bestimmte Zahl von Kindern zu haben. Der gleiche Nachbar sagte, dass Russell Yates von sechs Kindern gesprochen habe. "Er wollte so viele Kinder. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie so viele wollte." Offenbar vermisste Yates gelegentlich ihre Arbeit als Krankenschwester, aber sie "akzeptierte" ihre Rolle als Vollzeitmutter.

Derselbe Nachbar bemerkte auch: "Ich glaube nicht, dass sie jemals die Kinder bei einem Babysitter ließen. Sie waren immer bei den Kindern." Besonders Andrea, die kaum das Haus verließ.

Einer der beunruhigendsten Aspekte der Situation ist, dass Andrea nicht nur eine Vollzeitmutter und Hausfrau war. Diese Frau, die nach der Geburt ihres vierten Kindes offensichtlich einen Zusammenbruch von größerem Ausmaß erlitt, war auch die Hauslehrerin ihrer Kinder.

Erziehung und Bildung zu Hause und ohne Schulbesuch, das sogenannte "home-schooling", ist ein gesellschaftliches Phänomen, dass während der Amtszeit von Präsident Reagan als ernsthafter Trend aufkam. Mit Ausnahme von drei Bundesstaaten war home-schooling früher illegal oder zumindest heftig missbilligt, doch dank solcher Organisationen wie der Vereinigung zur Verteidigung von Home Schooling - ein Verein, der von christlichen Fundamentalisten betrieben wird - und der begeisterten Unterstützung durch die Republikaner, ist es nun in allen 50 Bundesstaaten legal. Die staatlichen Vorgaben für Hauslehrer variieren; in Texas existieren kaum Vorgaben.

Die Bewegung für home-schooling mit ihren Verbindungen zur religiösen Rechten argumentiert, dass Kinder in öffentlichen und selbst in privaten Schulen auf Säkularismus, Sexualerziehung und jegliche Art von sündigen Ideen treffen. Bedenken hinsichtlich der Kriminalität und fehlenden Disziplin an öffentlichen Schulen können zweifellos ernst gemeint sein, aber häufig sind diese mit Rassismus und Xenophobie verbunden.

Der Versuch, Familien von einer beunruhigenden, "sündigen" Welt abzukapseln, hat letztendlich gesellschaftliche Wurzeln. Der Rechtsruck des politischen Establishments und das Abrücken des Liberalismus von seinen früheren Positionen haben dazu beigetragen, dass in den Vereinigten Staaten ein großes intellektuelles und moralisches Vakuum entstanden ist. Bestimmte Schichten der Bevölkerung - desorientiert durch ökonomische und politische Veränderung, die sie kaum verstehen - hoffen darauf, in einem religiösen Kokon Geborgenheit und Sicherheit zu finden.

Unglücklicherweise gibt es eine große Anzahl von Gemeinden in den Vereinigten Staaten, wo eine Tragödie wie die im Hause der Yates passieren könnte. Clear Lake in Texas weist eine Reihe von Merkmalen auf, die ein solches Ereignis wahrscheinlicher machen als an anderen Orten. Die Region Clear Lake bei Houston ist relativ wohlhabend, vorwiegend weiß, vorwiegend protestantisch, vorwiegend konservativ, mit einer Einwohnerzahl von 200.000. Es ist George W. Bush-Territorium. Der ultra-rechte republikanische Kongressabgeordnete Tom Delay vertritt Teile der Region Clear Lake.

Die vorherrschende Institution der Region ist das nach Lyndon B. Johnson benannte Weltraumzentrum (ursprünglich das Zentrum für bemannte Raumfahrt, gegründet 1961), das von der NASA betrieben wird und bei dem Russell Yates angestellt ist. Die Luftfahrt ist, wie die lokale Handelskammer angibt, "das große Geschäft in Clear Lake". Die Flugzeugindustrie ist ein weiterer großer Arbeitgeber sowie die High-Tech-Branche und die petrochemischen Betriebe. Eine Studie vom März 1997 stellte fest, dass in der Region Clear Lake 9.100 Ingenieure für 61 Unternehmen arbeiten. Die Studie brachte auch heraus, dass in einem Radius von 50 Meilen um die Region mehr als 37.000 Techniker leben.

Inmitten dieser technologisch fortschrittlichen Anlagen und einer Bevölkerung mit einem hohen Anteil an ausgebildeten Wissenschaftlern und Ingenieuren gibt es Dutzende von Kirchen - etwa fünfzig Stück in der Region Clear Lake - darunter viele von verschiedenen protestantischen Fundamentalisten, die mit Bibelzitaten um sich werfen. Es gibt sicherlich nicht viele Orte auf der Welt, in denen wissenschaftliche Rationalität und Aberglauben so eng miteinander verwoben sind.

Russell Yates arbeitet für die NASA als Techniker mit einem Jahreseinkommen von 80.000 Dollar. Er ist Co-Autor eines Aufsatzes, der 1993 in Band 81 von "Fortschritte in der Wissenschaft, Leitung und Kontrolle der Raumfahrt" erschien. Er war vor einigen Jahren gemeinsam mit einem russischen Wissenschaftler an einem Experiment beteiligt - dem Shuttle/Mir Alignment Stability Experiment - dessen Forschungsgegenstand es war, "die Erwägungen bezüglich menschlicher Faktoren der MIR [Raumstation] in Hinblick darauf zu untersuchen, wie Einflüsse, die von der normalen Aktivität der Besatzung ausgehen, sich auf die Besatzungsstruktur und das Navigationssystem der MIR auswirken". Russell Yates ist ein Mann, der als Wissenschaftler ausgebildet ist und gleichzeitig glaubt, dass Christus Wasser in Wein verwandelte und Lazarus von den Toten auferstehen ließ.

Die Details, die über die Monate vor dem 20. Juni veröffentlicht worden sind, zeigen das Bild einer zunehmend verzweifelten Andrea Yates, die unter psychotischen Schüben und schweren Depressionen litt, einer idealen "christlichen" Lebensweise nacheiferte und 24 Stunden am Tag mit ihren fünf Kindern eingesperrt war. Und anstatt seriöse und professionelle psychiatrische Hilfe zu suchen, klammerte sich das Paar um so mehr an das verdummende fundamentalistische Dogma.

Niemand behauptet, dass Russell Yates aus Böswilligkeit handelte. Er sagt, dass er seine Frau liebt, und unterstützt sie sogar jetzt noch. Wir haben jeden Grund zu der Annahme, dass Andrea die Ideen ihres Mannes akzeptierte und versuchte, nach ihnen zu leben. Zweifellos wollte sie eine ordentliche "christliche Ehefrau und Mutter" sein.

Es ist möglich, dass das Paar hoffte, ein fünftes Kind könnte helfen, Andreas mentale Schwierigkeiten zu überwinden. Doch trotz all ihrer Anstrengungen blieb die Depression und verschlimmerte sich noch. Vielleicht kam sie zu dem Schluss, dass sich ihre "schlechten" Gedanken und Verhaltensweisen auf ihre Kinder übertragen. Psychologen haben einen mentalen Zustand definiert, den sie als "altruistischen Kindsmord" bezeichnen, wobei eine Mutter ihr Kind tötet, weil sie davon überzeugt ist, das dies das Beste für das Kind und es buchstäblich tot am besten dran sei.

Andrea Yates hängt im Gefängnis unter Mordanklage weiterhin der christlich-fundamentalistischen Perspektive an. Sie sagte Familienmitgliedern, die sie am 27. Juni besuchten, dass sie glaube, vom Teufel besessen zu sein. Ihr Bruder sagte gegenüber der Dallas Morning News : "Sie fragte mich und meinen Bruder: ‚Was denkt ihr, wie lange der Teufel in mir war?‘ Ich meine, dass sie nach Antworten darauf sucht, warum sie getan hat, was sie tat."

Ist es erlaubt, von dieser Tragödie ausgehend weitergehende Schlussfolgerungen über die fundamentalistische Weltanschauung und das Milieu der christlichen Fundamentalisten zu ziehen?

Stellen wir uns einen Moment lang vor, eine arme schwarze Mutter aus der Innenstadt hätte ihre fünf Kinder ertränkt. Die Medien und rechten Politiker samt ihrer think tanks hätten diesen Vorfall ausgeschlachtet. Um einer Diskussion über Armut und soziale Ungleichheit auszuweichen, hätten sie jede Art von falschen und dummen Schlussfolgerungen gezogen und von "Immoralität" und "Verantwortungslosigkeit" gesprochen, die der Wohlfahrtsstaat hervorbringe, und so weiter. Die Episode in Clear Lake betrifft eine mittelständische, konservative, religiöse Familie und niemand wird etwas über ihre weiterreichende Bedeutung sagen.

Wir vertreten keinesfalls den Standpunkt, dass eine Hexenjagd auf das Ehepaar Yates veranstaltet werden sollte. Im Gegenteil: Die allgemein humane, mitleidige Reaktion in breiten Schichten der Bevölkerung gegenüber Andrea Yates‘ Situation ist ein positives Zeichen. Tatsächlich sind bestimmte Elemente in den rechten Medien ein wenig alarmiert hierüber. Wenn eine große Zahl von Menschen anfinge, die Täter selbst der entsetzlichsten Verbrechen als menschliche Wesen zu sehen, vielleicht als Opfer gesellschaftlicher Umstände, dann würden die Befürworter der Todesstrafe zunehmend isoliert und unpopulär.

Insgesamt ist die offizielle Gesellschaft auffallend zurückhaltend, was die Diskussion um den Fall Yates betrifft. Es überrascht nicht, dass die religiöse Rechte kaum was dazu zu sagen hat. Pat Robertsons christlicher Sender Christian Broadcasting Network hüllt sich in Schweigen. Die großen Medien stellen keine Fragen, die das fundamentalistische Milieu betreffen, teilweise weil sie dessen Zorn fürchten, aber auch aufgrund von weitergehenden politischen Überlegungen.

Schließlich ist das gesamte Establishment mitschuldig an der Verbreitung von reaktionären "Familienwerten": Diese waren ein beherrschendes Thema der Republikanischen Partei und die Demokraten - beispielsweise Gore und Liebermann im Wahlkampf 2000 - haben sich vollständig daran angepasst. Die "Familienwerte" standen im Mittelpunkt des sogenannten Kulturkriegs, der auch von den Medien getragen wurde. Der "traditionelle" Familientyp - inzwischen in den Vereinigten Staaten eindeutig in der Minderheit - wurde von den Rechten als Gegenmittel zum angeblich lasterhaften Lebensstil der 1960-er Jahre angepriesen.

Im Namen einer Kampagne zur Wiederherstellung traditioneller moralischer Werte - und in einer Situation von großer politischer Unklarheit - wurden Teile der amerikanischen Mittelklasse hinters Licht geführt. Gemeinsam mit den "Familienwerten", für die millionenschwere Politiker, Moderatoren und Prediger warben, kam eine ganze Palette reaktionärer Maßnahmen: ein Krieg gegen Sozialprogramme und demokratische Rechte und ein Kurs in Richtung von autoritären Herrschaftsformen.

Eine ernsthafte Untersuchung der Tragödie von Clear Lake birgt auf ihre eigene Weise die Gefahr, dass der Blick auf Aspekte dieser Realität fällt. Die Zurückhaltung und Angst der Medien, diese Fragen anzugehen, ist daher verständlich. Auf tragische Weise hat der Fall Yates etwas enthüllt in Bezug auf die Unterdrückung, falsche Pietät und den erstickenden Konformismus der christlich-fundamentalistischen Anschauungen und, allgemeiner, ein Schlaglicht auf einige unerfreuliche Wahrheiten der derzeitigen amerikanischen Gesellschaft geworfen.

Siehe auch:
Execution Day in Amerika
(14. Juni 2001)
Das Massaker an der Columbine High School
(28. April 1999)
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