Wachsende Kritik am Kosovo-Krieg der Nato

Friedensforscher erheben heftige Vorwürfe gegen Bundesregierung

Zum zweiten Jahrestags des Kosovo-Kriegs haben zwei Friedensforscher aus Hamburg, Dieter Lutz und Reinhard Mutz, in einem Offenen Brief heftige Vorwürfe gegen die Bundesregierung gerichtet. Kernpunkt des Briefs vom 24. März ist die Feststellung, dass für die heutigen blutigen Gefechte in Mazedonien und die nach wie vor kritische Lage im Kosovo die Nato-Staaten einschließlich der Bundesregierung mitverantwortlich seien.

"Nur eine selbstgerechte Betrachtung erlaubt es", so schreiben sie, "die Mitverantwortung der Staatengemeinschaft für die gegenwärtige Misere zu übersehen. Ohne den Vertreibungsexzess vom April 1999, begangen an den Albanern, und ohne den gegenläufigen Vertreibungsterror vom Juni 1999, begangen an den Serben und anderen Nichtalbanern, lässt sich die Steigerung des Hasses und der Unversöhnlichkeit nicht erklären, die heute und auf absehbare Zukunft jede Aussicht auf einen selbsttragenden Frieden zunichte macht. Beide Vertreibungswellen waren Begleit- bzw. Folgeereignisse des Luftkrieges gegen Jugoslawien.... Der Luftkrieg der Nato hat mehr Probleme geschaffen, mehr Fragen aufgeworfen als gelöst."

Die beiden Wissenschaftler - Prof. Dr. Dr. Dieter S. Lutz ist Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Dr. Reinhard Mutz arbeitet am gleichen Institut - werfen der Bundesregierung "Manipulation" der eigenen Bevölkerung vor, die dazu gedient habe, das entsprechende öffentliche Klima für den ersten Bundeswehreinsatz auf dem Balkan seit dem letzten Weltkrieg zu schaffen. "Je mehr geheime Dokumente an den Tag kommen und je freimütiger Augenzeugen ihr Wissen preisgeben, desto brüchiger wird die Version der planvollen Vertreibungen, der ethnischen Säuberungen, der humanitären Katastrophe, in denen sich angeblich das Kriegsgeschehen erschöpfte. Den Krieg beherrscht, wer über die Sprache des Krieges herrscht. Muss aber - anders als in Diktaturen - auch in Demokratien wirklich hingenommen werden, dass zur Sprache des Krieges Übertreibung und Täuschung, ja sogar die gezielte Manipulation der eigenen Bevölkerung gehören?"

Begriffe wie "Massaker von Rugovo", "Massaker von Raczak", "KZ von Pristina" oder auch "Hufeisenplan" stünden für die gezielte Täuschung der Bevölkerung in Deutschland.

Dieter Lutz und Reinhard Mutz nehmen damit auf zahlreiche Enthüllungen der vergangenen Monate Bezug. Anfang Februar ließen zwei WDR-Fernsehredakteure, Jo Angerer und Mathias Werth, in einer Reportage glaubwürdige Augenzeugen zu Wort kommen, die die Behauptung, das Fußballstadion von Pristina sei als "KZ" benutzt worden, ebenso widerlegten wie das angebliche "Massaker von Rugovo". Im vergangenen Jahr erschien das Buch von Heinz Loquai, einem ehemaligen OSZE-General zum sog. "Hufeisenplan" - einem angeblichen Plan der serbischen Regierung für die massenhafte Vertreibung und ethnische Säuberung von Kosovo-Albanern. Das Buch zeigt auf, dass es einen solchen Plan nicht gab und dass er schlichtweg zu Propagandazwecken erfunden wurde. Heinz Loquai hat seine Opposition zum Kosovo-Krieg den Posten bei der OSZE gekostet - auf Intervention des Bundesverteidigungsministeriums von Rudolf Scharping und gegen den Willen der OSZE.

Eine weitere wichtige Frage, die die beiden Friedensforscher aufwerfen, ist die Unterstützung der Nato für die albanische Separatistenorganisation UCK. "Die Nato aber hat sich... im Kosovo-Konflikt sehenden Auges zum Instrument einer auch mit den Mitteln von Terror und Mord nach Unabhängigkeit und Macht strebenden UCK gemacht, zumindest aber machen lassen." Die Autoren verweisen auf das Holbrooke-Milosevic-Abkommen vom Oktober 1998, in dem Milosevic sich auf einen Waffenstillstand verpflichtete, während die Gegenpartei, die UCK überhaupt nicht eingebunden war.

An anderer Stelle, in einem Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Dezember 2000, hatte Dieter Lutz bereits auf ein Papier verwiesen, das wenige Tage zuvor von der Parlamentarischen Versammlung der Nato verabschiedet worden war und in dem erstmals offen zugegeben wurde, dass die UCK "das Holbrooke-Milosevic-Abkommen als Atempause" benutzt habe, "um ihre Kräfte nach den Rückschlägen des Sommers zu verstärken und neu zu gruppieren".

Die serbischen Repressionen hätten dagegen in der Zeit von September bis Dezember 1998 nachgelassen. Die UCK habe in dieser Zeit weiterhin in den USA und in Europa, vor allem in Deutschland und in der Schweiz Spenden sammeln, Rekruten werben und Waffen über die albanische Grenze schmuggeln können: "Mit anderen Worten: Nach dem aktuellen Generalbericht der Parlamentarier-Versammlung der Nato und entgegen offiziellen Nato-Darstellungen, insbesondere vor dem Krieg, waren also nicht die Serben, sondern die UCK verantwortlich für die Konflikteskalation und Erzeugung der Krise im Kosovo. Ein späte, eine zu späte Einsicht!"

Der Offene Brief vom 24. März geißelt auch die Rambouillet-Konferenz vom Februar/März 1999, unmittelbar vor Beginn der Luftangriffe, für deren Scheitern die Nato die serbische Regierung verantwortlich gemacht hatte. Wie später bekannt wurde, hatte das Rambouillet-Abkommen in einem Zusatzparagraph die militärische Besetzung ganz Serbiens und Montenegros durch Nato-Einheiten vorgesehen. "Statt einer Verständigungslösung wurde ein Diktatfrieden durchzusetzen versucht", schreiben dazu Lutz und Mutz, "dem kein Belgrader Politiker, weder der Regierung noch der Opposition, zustimmte. Dem dilettantischen Krisenmanagement folgte - quasi zwangsläufig, wenn auch vermeidbar - der Bomben- und Raketenkrieg, der die humanitäre Katastrophe erst auslöste, die er verhindert sollte."

Dass eine friedliche Lösung gar nicht wirklich beabsichtigt war, belegt der Offene Brief mit der Tatsache, dass sich selbst fünf Monate nach der Holbrooke-Milosevic-Übereinkunft vom Oktober 1998 weniger als die Hälfte der vereinbarten 2.000 zivilen Beobachter der OSZE im Kosovo befand. "Der Westen kann binnen weniger Wochen Kampfgeschwader und Flottenverbände zusammenziehen. Er kann über Monate einen Tag-und-Nacht-Hightech-Krieg führen mit Zehntausenden von Angriffsflügen für Milliarden von Dollar. Aber ein bescheidenes Aufgebot ziviler Verifikatoren auf die Beine stellen, kann oder will er offenbar nicht."

Mit ihrer Beteiligung am Kosovo-Krieg, so Lutz und Mutz, habe sich die Bundesregierung an einem "Angriffskrieg" beteiligt, dem ein "dreifacher Rechtsbruch" zugrunde liege: "der Bruch des Völkerrechts, des internationalen Vertragsrechts und des Verfassungsrechts".

Zudem sei die Nato-Intervention nicht effizient gewesen: "Ihre erklärten Kriegsziele wurden im Kosovo nicht erreicht. Wird unter Frieden als Minimum die Gewährleistung sicherer, gerechter und zukunftsfähiger Lebensbedingungen für die betroffenen Menschen verstanden, so beansprucht der Krieg der Nato das Prädikat einer friedensschaffenden Operation zu Unrecht. Eher handelte es sich um einen Koalitionskrieg traditionellen Musters: Dem Sieger fällt zu, was der Verlierer abtritt."

Heftige Gegenreaktionen von Rot-Grün

Dieter Lutz und Reinhard Mutz lehnen nicht grundsätzlich die Beteiligung der Bundeswehr an internationalen militärischen Aktionen ab, sofern dies durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrats abgedeckt ist. Ihre Kritik am Kosovo-Einsatz ist verbunden mit der Forderung nach eigenständigerer europäischer Intervention in internationalen Konflikten, nach Emanzipation von der amerikanischen Vorherrschaft. So beklagen sie "die stete Dominanz des Militärbündnisses Nato unter der Führung der USA. Neben der omnipotenten Nato haben... zivile internationale Akteure wie die Balkan-Kontaktgruppe oder die OSZE keinen politischen Spielraum mehr für eigenständige Aktivitäten. Daran krankt im übrigen die gegenwärtige Sicherheitsordnung Europas grundsätzlich."

Als Beispiel einer besseren Art der Intervention loben die Autoren das Dayton-Abkommen von 1995 für Bosnien, das einer Kolonialverwaltung unter deutscher Beteiligung in einem verwüsteten und zerstückelten Land gleichkommt.

Obwohl solche Positionen weder als links noch als "serbenfreundlich" bezeichnet werden können und auch unter konservativen Politikern bis hinein in die CSU Unterstützung genießen, stieß ihr Brief auf heftige Gegenreaktionen seitens der rot-grünen Koalition.

Der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Gernot Erler verfasste am 12. April eine wütende Antwort, in der er die beiden Friedensforscher als Verleumder beschimpft.

Seine Antwort zeichnet sich dadurch aus, dass er noch einmal die offiziellen Argumente herunterbetet, die während des Kosovo-Kriegs der Bundesregierung als Rechtfertigung dienten. "Im Frühjahr 1999 gab es keine Alternative mehr zu dem Beginn der Luftangriffe, nachdem sich im Laufe des Jahres 1998 im Kosovo eine humanitäre Katastrophe entwickelt hatte mit fast einer halben Million Flüchtlinge und Vertriebenen, nachdem alle Versuche, das Milosevic-Regime als Hauptverursacher dieser Katastrophe mit Verhandlungen und Diplomatie zum Einlenken zu bewegen, gescheitert waren..." Und so weiter!

Zu den Enthüllungen, auf die sich die beiden Hamburger Forscher beziehen, nimmt Erler nicht inhaltlich Stellung. Dokumente, die vorher unter Verschluss gehalten wurden und nun ans Tageslicht kommen, wischt er mit den Worten vom Tisch, hier handele es sich um eine tendenziöse Kampagne. Den WDR-Film bezeichnet er als "Bulldozer-Journalismus" - und offenbart unverblümt seine Haltung zur Pressefreiheit: Derartige "Produkte" eines "Enthüllungsjournalismus" hätten in der ARD "nichts zu suchen".

Die Vorwürfe von Lutz und Mutz, die Bundesregierung habe Rechtsbruch begangen und an einem verbotenen Angriffskrieg teilgenommen, weist Erler ebenso zurück. Bisher seien die Bundesregierung und die übrigen Nato-Staaten nicht rechtgültig verurteilt worden, ergo könne man sie nicht als Rechtsbrecher bezeichnen.

Öffentliche Debatte

Erlers Attacken auf die beiden Wissenschaftler hat zahlreiche empörte Gegenreaktionen ausgelöst, die ebenfalls in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht wurden.

Der Vorsitzende der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), Hans-Peter Dürr, wirft Erler undemokratisches Verhalten vor (23. April 01). Er habe den Brief der Friedensforscher Lutz und Mutz sehr begrüßt. Insbesondere habe ihm die "besonnene Art und Weise" der beiden gefallen. Umso mehr sei er über die Antwort Erlers überrascht und betroffen.

"Warum diese Haltung, sie wegen ihrer anderen Meinung zu schelten und ihnen gewissermaßen einen Maulkorb verpassen zu wollen," schreibt Dürr. "Erkennen Sie bitte, dass Lutz und Mutz mit ihrem Brief gerade Ihnen und anderen Parlamentariern Brücken zu weiten Teilen der Gesellschaft bauen wollen, zu denen Sie, wie es in Ihrer Reaktion aufscheint, Kontakt und Bezug verloren haben.... Es ist gerade diese abwertende Haltung der gewählten Politiker gegenüber dem Souverän, den sie vertreten oder vertreten sollen, der viele Bürgerinnen und Bürger irritiert und zur Parteiverdrossenheit oder gar Radikalisierung führt."

Auch Dr. med. Ute Watermann, Sprecherin der "Ärzte für den Frieden" (IPPNW) wendet sich gegen eine "Demagogisierung kritischer Geister" durch Erler. "Nachfragen müssen erlaubt sein". Sie verweist auf einen Lagebericht des OSZE-Mission im Kosovo vom 17. März 1999, eine Woche vor Kriegsbeginn, in dem es hieß: "Es gibt zur Zeit keine so genannte humanitäre Katastrophe, und eine solche ist auch nicht zu erwarten, wenn die Hilfsmaßnahmen fortgesetzt werden." Angesichts dieser Einschätzung, die sich auch mit zeitgleichen Berichten des Auswärtigen Amts und von Nachrichtenexperten deckten, müsse man fragen: "Verfolgte die Nato mit der Bombardierung Jugoslawiens ein anderes Interesse als das der Wahrung der Menschenrechte?"

Dietrich Antelmann aus Berlin (10. Mai 01) wirft Gernot Erler "Halbwahrheiten und gezielte Desinformationen" vor. Unter anderem lenkt er das Augenmerk auf die Einschränkung der Informationsfreiheit zu Beginn des Krieges. Alle verteidigungspolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen seien beispielsweise angewiesen worden, den Wortlaut des Rambouillet-Diktates geheim zu halten. Später seien auch Beispiele von Zensur bei Funk und Fernsehen bekannt geworden - der Südwestfunk habe etwa Mikrofon-Verbot erteilt, wenn vom "Angriffskrieg" der Nato gesprochen wurde. Schließlich weist Antelmann Erlers Gerede über "Friedenspolitik" zurück. Nach dem Kosovo-Krieg werde die Bundeswehr zur Interventionsarmee umgerüstet, die Nato-Osterweiterung und die Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vorangetrieben.

Schützenhilfe erhält Erler durch den stellvertretenden verteidigungspolitischen Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, Winfried Nachtwei. Nachtwei gibt zu, dass die Regierung mit Manipulationen gearbeitet hat ( Frankfurter Rundschau, 15. Mai 01): "In der Tat gingen Brüche des Waffenstillstandes immer wieder von der UCK aus. Das war den Sicherheitspolitikern im Bundestag durch die sehr nüchterne laufende Unterrichtung seitens der Bundesregierung sehr wohl bekannt." Außerdem treffe es zu, dass es im "Stadion von Pristina kein KZ" gab, und "schon nach der damaligen internen Unterrichtung des Verteidigungsausschusses lag dem Verteidigungsministerium kein ‚Hufeisenplan‘ vor, sondern nur verschiedene Hinweise auf eine solche Operation".

Nachtwei hätte sich besser an den Grundsatz gehalten, der dem Angeklagten das Recht zu schweigen einräumt. Seine Verteidigung ist eine verheerende Anklage gegen die grüne Bundestagsfraktion. Er gibt zu, dass sie dem ersten Kriegseinsatz der Bundeswehr zustimmte, obwohl sie sich bewusst war, dass die öffentliche Begründung dafür auf Fälschungen beruhte.

Aber damit nicht genug. Er verteidigt die Zustimmung zum Bundeswehr-Einsatz mit der Begründung, die Entscheidung sei "angesichts der Unübersichtlichkeit und Dynamik von Krisensituationen und den vielen Unwägbarkeiten politischer Prozesse für politische Verantwortliche eine völlige Überforderung" gewesen.

"Unzurechnungsfähigkeit" nennt man so etwas vor Gericht. In der Politik - und gar wenn es um Krieg - geht, dürfte das aber eigentlich nicht als mindernder Umstand gelten. Nicht so bei Nachtwei. Er sei zwar für weitere "Debatten" - um das "Debattendefizit" zum Kosovo zu beheben - aber man dürfe keine "Tribunale" veranstalten, ein Begriff, den auch Gernot Erler verwendet hatte.

Dazu bemerkt ein Leser der Frankfurter Rundschau ironisch: "Man inszeniert im Stil der attischen Tragödie sich selbst als tragischen Helden... Auf die blutige Farce von 1999 übertragen heißt das, dass unsere schuldig-unschuldigen Parlamentarier von den kollidierenden Werten geradezu aufgerieben worden sind.... Ist es nicht ein Wunder, dass sich trotz solcher Gewissenskonflikte eine große Kriegskoalition im Bundestag zusammenfand?" (Wolfgang Walter, Augsburg, 2. Juni 01)

"Der neue Krisenbogen"

Die wirklichen Hintergründe des Kosovo-Kriegs hat die Debatte über den Offenen Brief allerdings bisher kaum gestreift. Einen Hinweis auf diese Hintergründe liefert Gernot Erlers Antwort selbst. Am Ende seiner Stellungnahme schreibt er, nun müsse man mal auf ein Thema eingehen, das die Friedensforscher ausgeblendet hätten. Erler nennt dies "die politischen und friedenspolitischen Lehren aus dem Kosovo-Krieg" und gliedert diese in drei Punkte:

(1) Noch während des Kosovo-Kriegs habe es eine Initiative von Außenminister Joschka Fischer für einen "Stabilitätspakt für Südosteuropa" gegeben, für den eine "Task Force" von 20 Abgeordneten mit Leitungsfunktionen in verschiedenen Arbeitsgruppen und Ausschüssen gebildet worden sei. Man wolle auf dem Balkan "konkrete, von westlichen Geldgebern finanzierte Projekte" auf den Weg bringen, die die "Vorteile einer grenzüberschreitenden Kooperation erfahrbar" machten. Mittlerweile habe die OSZE bereits eine Anwendung auch in anderen Konfliktregionen prüfen und ein Gutachten über einen denkbaren "Stabilitätspakt für den Kaukasus" erstellen lassen.

Erler wörtlich: "Der ‚neue Krisenbogen‘ Balkan-Nahost-Schwarzmeer-Kaukasus-Zentralasien-Kaspisches Meer stellt nach unserer Auffassung tatsächlich aus europäischer Sicht das nächste Bewährungsfeld für eine vorausschauende Friedens- und Stabilitätspolitik dar."

(2) Die rot-grüne Bundesregierung habe "die Zivile Krisenprävention zu einem ressortübergreifenden Schwerpunkt ihrer internationalen Politik gemacht"; und (3), die Kosovo-Erfahrung habe "die EU motiviert, auf ihrem Weg zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) schneller voranzuschreiten". Die SPD habe in dieser Hinsicht zahlreiche Initiativen und Konferenzen veranlasst, die beweisen, dass "deutsche Außenpolitik... Friedenspolitik" sei.

Was Erler hier mit nebulösen Worten über "Friedenspolitik" andeutet und was im Offenen Brief in der Tat ausgeblendet ist, sind die strategischen Interessen, die dem Kosovo-Krieg zugrunde lagen. Während Außenminister Fischer und Verteidigungsminister Scharping nach außen den "humanitären" Krieg predigten, wurde hinter den Kulissen längst über Erlers "neuen Krisenbogen Balkan-Nahost-Schwarzmeer-Kaukasus-Zentralasien-Kaspisches Meer" diskutiert. Im Juni 1999 verwies das World Socialist Web Site auf entsprechende Dokumente auf der Website von Gernot Erler sowie der Bundeswehrhochschule in Hamburg. Wir schrieben damals:

"Die Auflösung der Sowjetunion hat ein Machtvakuum hinterlassen, in das alle Großmächte versuchen einzudringen. Unter den transnationalen Konzernen hat ein Wettlauf begonnen, um sich die Kontrolle über Rohstoffe, Arbeitskräfte und Absatzmärkte zu sichern. Diese Auseinandersetzungen nehmen ständig heftigere Formen an. Ein Teil des Streits dreht sich um die großen Energievorkommen in der Kaspischen Region."

Gernot Erler hatte bereits im Juni 1998 eine Studie unter der Überschrift "Zukunftsregion Kaspisches Meer - Deutsche Interessen und Europäische Politik in den transkaukasischen und zentralasiatischen Staaten" (http://www.gernot-erler.de/html/ot/ot1e.html) vorgelegt, die deutlich macht, wie sehr gerade auch Deutschland daran interessiert ist, sich Zugang zu diesen Energieressourcen zu verschaffen. Das Gebiet des Balkan und Osteuropas betrachtet es dabei als sein vorrangiges Einflussgebiet, gerät dabei allerdings ins Spannungsfeld zwischen den USA und Russland bzw. China.

Ein Vortrag von August Pradetto, Professor an der Bundeswehrhochschule in Hamburg, zum Thema "Konfliktmanagement durch militärische Intervention? Dilemma westlicher Kosovo-Politik." (http://www.unibw-hamburg.de/WWEB/soz/pradetto/Nato-kosovo-studie.htm)" zeigte - ebenfalls schon 1998 - die Beziehung dieser Fragen zur Entwicklung im Kosovo.

Beim Einsatz der Nato auf dem Balkan, so Pradetto, gehe es "nicht nur um humanitäre, politische, völkerrechtliche und militärische Aspekte", sondern vor allem um "machtpolitisch-strategische". Nach dem Zusammenbruch von Warschauer Pakt und Sowjetunion würden nun "diverse Machtressourcen in Europa und weit darüber hinaus neu verteilt". Der Einsatz von Nato-Kräften im Kosovo ohne Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat werde "als Präzedenzfall für mögliche zukünftige Einsätze im unmittelbaren Vorfeld Russlands gewertet, etwa im Kaukasus unter Nutzung ethnischer Konflikte und zwischenstaatlicher Querelen, wo in der Auseinandersetzung um die Erdölressourcen in der Kaspischen Region und den Nießbrauch bzw. die Verlegung von Pipelines ein heftiger Konkurrenzkampf zwischen westlichen und russischen Ölkonzernen bzw. zwischen Washington und Moskau im Kontext strategischer Interessen entbrannt ist." Soweit der Bundeswehrprofessor im Jahr 1998!

Mit anderen Worten: Die Bundesregierung hat nicht erst nach dem Kosovo-Krieg den "Krisenbogen" bis zum Kaspischen Meer entdeckt, in Wirklichkeit war der Krieg selbst bereits von solchen strategischen Überlegungen beherrscht. Die Beteiligung der Bundeswehr setzte sie nicht nur aus Bündnistreue zur Nato durch, sondern auch, um nicht gegenüber den USA ins Hintertreffen zu geraten. Hinter dem nun propagierten "Stabilitätspakt für Südosteuropa" verbirgt sich ihr Bestreben, den USA wieder das Heft aus der Hand zu nehmen und die eigenen Ambitionen auf dem Balkan und in ganz Osteuropa zu forcieren. Die Umrüstung der Bundeswehr und der Aufbau einer unabhängigen europäischen Eingreiftruppe sind auf diesem Hintergrund zu sehen.

Siehe auch:
Deutsche Interessen im Krieg gegen Jugoslawien
(18. Juni 1999)
Die Gründe für den Krieg der NATO gegen Jugoslawien
( 26. Mai 1999)
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