Türkei: "Feldzug gegen Terrorismus" ermuntert Faschisten und Militärs

Während ein Großteil der Bevölkerung in der Türkei auf die Terroranschläge in New York und Washington mit aufrichtiger Anteilnahme für die Opfer reagierte, bemühte sich das Establishment kaum, seine Freude und seine zynischen Kalkulationen zu verbergen. Vom allseits als großer demokratischer Reformer gefeierten Präsidenten Ahmet Necdet Sezer über den sozialdemokratischen Premierminister Ecevit bis hin zu den meisten Massenmedien lautete die Botschaft: Der Anschlag und der angekündigte "Krieg gegen den Terrorismus" bestätigen den brutalen Staatsterror Ankaras gegen den kurdischen "Separatismus". In Zukunft werde man den türkische Staat wohl nicht mehr mit Forderungen nach mehr Demokratie und Menschenrechten belästigen.

Der stellvertretende Ministerpräsident Mesut Yilmaz von der konservativen ANAP (Mutterlandpartei), der in den letzten Wochen als der politische "Liberale" in der Regierung posiert und sich sogar einige Geplänkel mit dem mächtigen Generalstab geliefert hatte, erklärte: "Die Welt wird den entschlossenen und gerechten Kampf der Türkei gegen den Terrorismus verstehen... Die terroristischen Angriffe in den Vereinigten Staaten werden eine gute Gelegenheit für die Welt sein, die Tatsachen zu sehen."

Zur Erinnerung: In dem 15-jährigen Krieg des türkischen Staates im Südosten des Landes gegen die kurdisch-nationalistische PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) waren über 30.000 Guerillas und Soldaten umgekommen. Dazu wurden mehrere Tausend kurdische Zivilisten - auch viele Frauen, Kinder und alte Männer - zumeist von staatlichen Sicherheitskräften oder Todesschwadronen umgebracht. Unzählige wurden in die staatlichen Folterkeller geschleppt, Hunderte kamen darin qualvoll um. Tausende, die nie an bewaffneten Aktionen teilgenommen hatten, mussten Jahre, oft Jahrzehnte unter menschenunwürdigen Bedingungen im Gefängnis verbringen. Mehr als 3.000 Dörfer wurden vom Militär niedergebrannt. In einem Fünftel des Landes herrschte zwei Jahrzehnte das Kriegsrecht, ohne jede Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, mit täglichen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen durch die Sicherheitskräfte.

Jetzt verlangt Ankara von den europäischen Ländern die Auslieferung von Führungskadern der PKK, der maoistischen DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei und -front) und islamistischer Gruppen. Außerdem will die Türkei nun rascher in die EU aufgenommen werden, auch ohne große Verbesserungen bei der Menschenrechtslage und dem Schutz ethnischer Minderheiten. Die englischsprachige Turkish Daily News hat in ihrer Ausgabe vom 17. September für die türkischen Forderungen sogar schon Unterstützung bei - freilich ungenannten - "hochrangigen EU-Diplomaten in Ankara" ausgemacht.

Yavuz Önen, Vorsitzender der türkischen Menschenrechtsstiftung, warnte in einem Interview mit der Agentur Reuters: "Jetzt ist der Kampf gegen den Terrorismus auf die Tagesordnung der Welt gekommen, und das Militär wird dieses Argument benutzen nach dem Motto:,Haben wir nicht immer gesagt, (die Gefahr des) Terrorismus muss über alles andere gestellt werden? Wenn Ihr die Freiheitsrechte erweitert, schafft Ihr eine gefährliche Umgebung‘."

Die Militärs selbst haben sich bis jetzt mit Stellungnahmen in der Öffentlichkeit zurückgehalten. Ihre Anliegen werden von den Faschisten der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung bzw. "Graue Wölfe") vertreten, die unter anderem den Verteidigungsminister und den stellvertretenden Premierminister stellen. Sie blockieren eine Reihe von Verfassungsänderungen, mit denen die Beitrittverhandlungen zur EU vorbereitet werden sollten, so die Abschaffung der Todesstrafe, die Zulassung der kurdischen Sprache in Bildung und Medien und die Aufhebung des Gesinnungsstrafrechts.

Auf Druck MHP soll die Todesstrafe bei dem absichtlich vage gefassten Tatbestand der "terroristischen Aktivitäten" (also nicht bei "Terrorakten") auch weiterhin verhängt werden können. Damit droht dem zum Tode verurteilten PKK-Chef Abdullah Öcalan weiter die Hinrichtung. Das kurdische Sprachverbot wird nur unwesentlich gelockert. Meinungs- und Pressefreiheit sollen auch künftig drastisch beschränkt werden können. Nach der jetzt vom zuständigen Ausschuss gebilligten Verfassungsänderung sollen Sendungen, die sich "gegen die Grundlagen des Staates, die öffentliche Ordnung, die territoriale und nationale Integrität des Landes und die nationale Sicherheit" richten, verboten bleiben.

Partner der USA

Es versteht sich unter diesen Umständen fast von selbst, dass sich die türkische Regierung voll hinter die Kriegsvorbereitungen der US-Regierung gestellt hat und sich als unverzichtbarer Partner anpreist. Ankara brüstet sich sogar, dass Artikel 5 des NATO-Vertrages, mit dem wie jüngst der Bündnisfall bei "terroristischen Angriffen von außen" ausgerufen werden kann, 1998 hauptsächlich auf sein Drängen eingeführt worden sei.

Die bei der kurdischen Bevölkerung der Südosttürkei allgemein gefürchteten und verhassten Spezialtruppen sollen nun ihre "Erfahrung" im Guerillakrieg bei der Ausbildung afghanischer Oppositionsgruppen der Nordallianz einsetzen. Die Türkei hat der USA ihren Luftraum freigegeben. Der Luftwaffenstützpunkt Incirlik, von dem aus in den letzten Jahren britische und amerikanische Flugzeuge den Irak bombardiert haben, ist aufgerüstet worden. Trotz wiederholter Dementis der türkischen Regierung reißen die Gerüchte nicht ab, dass die USA auch die Militärbasen Malatya und Diyarbakir im kurdischen Südosten des Landes nutzen will.

Der bekannte Journalist Mehmet Ali Birand schrieb in der Turkish Daily News vom 22. September: "Geht es um den Irak, dann kommt einem zuerst die Türkei in den Sinn. In jeder Operation gegen den Irak braucht sie [die USA] die aktive oder zumindest die verbale Unterstützung der Türkei. Wichtig ist auch das Bekaa-Tal im Libanon, das von Syrien kontrolliert wird. Es gibt immer noch einige militante Gruppen, die im Bekaa-Tal ausgebildet werden. Diese Gruppen, die von Syrien ausgehalten werden sollen, will die USA ausschalten. Ein Regierungsbeamter von Bush sagt, dass niemand Bekaa besser kenne als die Türkei.,Die PKK ist jahrelang im Bekaa ausgebildet worden, sie sind dort gezüchtet worden. Es ist wichtig, die Terroristen im Bekaa auszumerzen.'"

Ziele der staatlichen Repression

Das eigentliche Ziel der staatlichen Repression sind weder die üblichen Sündenböcke noch eine Bedrohung durch islamistische Terrorgruppen von ernstzunehmender Bedeutung, sondern die Arbeiterklasse im eigenen Land.

Terror durch islamische Fundamentalisten hat es in der Türkei zwar gegeben. Die Organisation Hisbullah übte besonders in den Jahren 1991-1995 in manchen kurdischen Provinzen eine regelrechte Schreckensherrschaft aus und ermordete gezielt vor allem das zivile, legale und halblegale Umfeld der PKK. Nicht nur Berichte von linken und kurdischen Journalisten, sondern auch von Untersuchungskommissionen des türkischen Parlaments selbst erbrachten Nachweise, dass die Hisbullah - die jetzt nach der faktischen Kapitulation der PKK zerschlagen wird - von Teilen des Militärs selbst aufgebaut, unterstützt und gefördert worden war.

Die nationalistische türkische Presse hat sich im Bemühen, eine Law-and-Order-Hysterie zu schüren, zu Vergleichen zwischen Osama bin Laden und Abdullah Öcalan verstiegen. Es ist aber offensichtlich, dass auch von Seiten der PKK und des kurdischen Nationalismus dem türkischen Staat keinerlei Gefahr droht. Die PKK verurteilte die Terroranschläge von New York und Washington scharf und flehte USA und Türkei zum wiederholten Male an, doch mit ihr zusammenzuarbeiten, statt durch verschärfte Repression einen neuen Kurdenaufstand zu provozieren.

Auch die maoistische DHKC stellt keine wirkliche Bedrohung des türkischen Establishments dar. Sie verfügt über gewisse Sympathien in den Slums der Großstädte und an den Universitäten. Sie kombiniert einen mit antiimperialistischen und antikapitalistischen Phrasen verbrämten türkischen Nationalismus mit einem Führer- und Märtyrerkult in übelster stalinistischer Manier. Auf sich aufmerksam gemacht hat sie dieses Jahr durch zwei Selbstmordattentate auf Polizeistationen im Frühjahr und im September (zufällig kurz vor den Anschlägen in den USA).

Schon die Begründungen für die Anschläge zeigen die tiefe Verzweiflung dieser Organisation. Sie sollten den Tod ihrer Gesinnungsgenossen in den Gefängnissen rächen, die sich seit einem Dreivierteljahr aus Protest gegen die Haftbedingungen und die Einführung von Isolationszellen im Hungerstreik befinden. Im Dezember wurden bei einem Sturm auf die Gefängnisse zwanzig Gefangene getötet, zusätzlich haben sich seitdem bisher 35 zu Tode gehungert.

Ernster zu nehmen ist der sogenannte "politische Islam". Obwohl alle rechten und konservativen Parteien hin und wieder gezielt mit religiösen Vorurteilen und Gefühlen spielen, werden darunter die zwei Nachfolger der verbotenen FP (Tugendpartei) verstanden, nämlich die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) des ehemaligen Oberbürgermeisters von Istanbul Tayip Erdogan und die SP (Zufriedenheitspartei) unter dem ehemaligen FP-Chef Recai Kutan.

Besonders Erdogan ist in den letzten Monaten schnell zum Medienliebling avanciert. In Meinungsumfragen ist seine Partei mit Abstand am stärksten und würde zur Zeit als einzige Partei die 10-Prozent-Hürde zum türkischen Parlament überspringen. Er vertritt die sogenannte "anatolische Bourgeoisie" (auch "islamisches Kapital" genannt) und versucht Wirtschaftsliberalismus mit sozialer Demagogie und Nationalismus, Beteuerungen seiner Staatstreue mit Kritik an staatlicher Repression, und Bekenntnisse zum Laizismus mit Appellen an religiöse Schichten zu verbinden. Es dürfte aber schwer fallen, der Partei eines Mannes, der als seine Vorbilder die ANAP des verstorbenen türkischen Staatschefs Turgut Özal und die deutsche CDU Helmut Kohls nennt, Verbindungen zum "Terrorismus" zu unterstellen.

Warnung vor "sozialer Explosion"

Die wirkliche Bedrohung für die herrschende Klasse in der Türkei und ihre Hintermänner im Westen liegt ganz woanders, wie die Süddeutsche Zeitung vom 17. September feststellt: "Verbreiteter als ein militanter Islam sind antiamerikanische Ressentiments. Die strikten Auflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF) für das krisengeschüttelte Land haben solche Stimmungen zuletzt eher verstärkt."

Von den insgesamt 15 Reformmaßnahmen, von deren Implementierung der IMF die Vergabe seines Hilfspakets in Höhe von 15,7 Mrd. Dollar abhängig machte, sind mittlerweile bereits sieben in Kraft getreten und weitere sechs vom Ministerrat oder Parlament ratifiziert worden.

Seit Februar sind Geschäftsbanken vom Bankenaufsichtsrat übernommen und zur Privatisierung freigegeben worden. Außerbudgetäre Fonds wurden geschlossen, Zucker- und Tabak- Subventionen gestrichen. Staatliche Ausschreibungen sollen mehr von Kostenerwägungen statt persönlichen Beziehungen abhängig gemacht werden.

Die Reallöhne sind seitdem um mehr als 50 Prozent gesunken. Millionen von Arbeitern sind auf Mindestlöhne von umgerechnet knapp 200 DM angewiesen. "Unter normalen Bedingungen und auf längere Zeit kann keiner damit überleben", kommentiert ein Sprecher des Gewerkschafts-Dachverbandes Türk Is.

Die Frankfurter Rundschau vom 13. Juli schrieb dazu: "Aber nicht nur das Millionenheer der Mindestlohnempfänger, auch viele Mittelständler geraten wegen der Preiserhöhungen in Bedrängnis. So verdient ein Lehrer etwa 250 Millionen Lira, umgerechnet 424 Mark. Davon kann ein Alleinstehender zwar leben, wenn er sich einschränkt und keine Miete zu zahlen hat. Aber eine Familie kann man davon nicht ernähren. Viele Türken versuchen deshalb, sich mit Zweit- und Drittjobs durchzuschlagen. Aber die sind nur schwer zu finden, seit die Krise tausende Unternehmen in den Bankrott getrieben und zum Verlust von mindestens 500.000 Arbeitsplätzen geführt hat."

Die Zeitung fährt fort: "Die Sorge, dass die Schmerzgrenze bald erreicht sein könnte, bewegt offenbar auch die türkischen Militärs. Dem Nationalen Sicherheitsrat, einem von führenden Generälen dominierten Gremium, habe kürzlich bei einer Sitzung ein geheimes Gutachten vorgelegen, berichteten Istanbuler Zeitungen. Das Papier warne davor, dass die fortschreitende Verarmung großer Bevölkerungskreise zu einer,sozialen Explosion‘ führen werde. Die Istanbuler Polizei berichtet, dass sich die Fälle von Straßenraub in den vergangenen drei Monaten verzehnfacht haben. An der Oberschicht dagegen scheint die Krise spurlos vorüberzugehen."

Seitdem hat sich die Krise noch verschärft. Nach Angaben des staatlichen Statistik-Instituts (DIE) ist das Bruttosozialprodukt im zweiten Quartal dieses Jahres um 11,8% geschrumpft - um fast doppelt so viel, wie Wirtschaftsminister Kemal Dervis für dieses Jahr vorausgesehen hatte. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) ging in der gleichen Periode um 9,3% zurück.

Aussicht auf Besserung gibt es nicht, im Gegenteil. Die Ungewissheit über die Folgen eines amerikanischen Vergeltungsschlages für die türkische Wirtschaft ließ den National-Index der Istanbuler Börse allein am 17. September um über 10 Prozent stürzen und die türkische Währung gegenüber dem Dollar auf ein Jahrestief fallen. Obwohl die gegenwärtigen Kriegsvorbereitungen die Stützpfeiler von Dervis' Stabilisierungsprogramm - den Tourismus und die Exporte - negativ beeinflussen dürften, will dieser unbeirrt an seinem "Reformprogramm" festhalten.

Es ist gerade einmal ein halbes Jahr her, dass das der Türkei von IWF und Weltbank im Verein mit Staatspräsident Sezer und dem Militär aufgezwungene "Reformprogramm" des Kemal Dervis von den Medien im In- und Ausland als Wundermittel gegen die notorische Korruption und Vetternwirtschaft im Staatsapparat angepriesen wurde. Vom rechten Massenblatt Hürriyet bis zur PKK in der Türkei, von der Frankfurter Allgemeinen bis zur Frankfurter Rundschau in Deutschland wurde Dervis als großer "Erneuerer" gefeiert, der die Türkei in eine moderne Demokratie führen werde.

Jetzt, wird der wirkliche Inhalt des "Reformprogramms" deutlich: Kollaps ganzer Wirtschaftszweige und unbeschreibliches Massenelend. Die einzige Antwort der offiziellen Politik heißt: Weiter so! Die Hauptfunktion des sogenannten "Kampfs gegen Terrorismus" besteht darin, den "Kampf" der Banken und Konzerne gegen die arbeitende Bevölkerung von demokratischen Hemmungen zu befreien.

Siehe auch:
Türkische Wirtschaftskrise entwickelt sich zur Staatskrise
(17. April 2001)
Politische und soziale Fragen in der türkischen Finanzkrise
( 28. Februar 2001)
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