EU-Gipfel in Kopenhagen

EU-Osterweiterung verschärft soziale Gegensätze

Geht alles nach Plan, so wird der EU-Gipfel in Kopenhagen am Freitag die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern in die Europäische Union beschließen. Die Verhandlungen mit ihnen sollen bis zum Jahresende abgeschlossen und die Aufnahme bis zum 1. Mai 2004 vollzogen werden.

Die EU wird danach 25 statt bisher 15 Mitgliedsstaaten zählen. War sie bisher auf Westeuropa beschränkt, so umfasst sie danach auch ganz Osteuropa bis an die Grenze der ehemaligen Sowjetunion sowie die beiden Mittelmeerinseln Malta und Zypern. Im Westen bleiben lediglich Norwegen und die Schweiz außerhalb der EU, im Osten Rumänien und Bulgarien, deren Beitritt für 2007 vorgesehen ist, sowie die Nachfolgestaaten Jugoslawiens (mit Ausnahme Sloweniens) und Albanien. Mit den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen befinden sich auch drei ehemalige Sowjetrepubliken unter den neuen Mitgliedern.

Durch die Erweiterung erhöht sich die Bevölkerungszahl der EU um 75 auf 451 Millionen, das Bruttoinlandsprodukt erreicht mit 9.200 Milliarden Euro fast dasjenige der USA. Gleichzeitig wird in Kopenhagen ein weiterer Schritt ins Auge gefasst: Der Türkei soll ein konkreter Termin für Beitrittsverhandlungen in Aussicht gestellt werden, der eine Mitgliedschaft in frühestens zehn Jahren ermöglicht.

Obwohl der Gipfel die Osterweiterung nach jahrelangen Verhandlungen förmlich beschließen soll, war in seinem Vorfeld von feierlicher Stimmung wenig zu spüren. Stattdessen beherrschten politische Spannungen, kleinliche Auseinandersetzungen und ein Gefeilsche um Geld das Geschehen. Die Osterweiterung, soviel ist bereits abzusehen, wird keine harmonische Einheit des Kontinents herbeiführen. Vielmehr wird sie die politischen Krisen und die scharfen sozialen Gegensätze in ganz Europa verschärfen.

Wirtschaftsinteressen

Unterstützung findet die Osterweiterung vor allem in den europäischen Konzernzentralen, insbesondere den deutschen. Dort dürften nach Einschätzung der Financial Times Deutschland "die Champagnerkorken knallen", wenn die Erweiterung tatsächlich beschlossen wird. Die deutsche Wirtschaft hat die Erweiterung bereits vorweggenommen und Osteuropa als Absatzmarkt und Reservoir billiger, aber gut qualifizierter Arbeitskräfte genutzt. Nun hofft sie, dass dies politisch abgesichert wird.

Handel und Direktinvestitionen sind in den vergangenen zehn Jahren stark angestiegen. Der Anteil der osteuropäischen Beitrittskandidaten am deutschen Außenhandel ist mittlerweile fast so hoch wie der Anteil der USA - knapp zehn Prozent. Deutschland wiederum wickelt rund 40 Prozent des gesamten EU-Handels mit diesen Staaten ab.

Das deutsche Interesse an der Ostausdehnung wird durch die Tatsache unterstrichen, dass in der EU-Kommission ein deutscher Politiker, Günter Verheugen (SPD), für die Erweiterung zuständig ist.

Deutsche Konzerne haben massiv in Osteuropa investiert. Allein im vergangenen Jahr betrugen die Direktinvestitionen 3,6 Milliarden Euro. In dieser Zahl sind wiederinvestierte Gewinne nicht enthalten, so dass das tatsächliche Investitionsvolumen noch wesentlich höher liegt.

In Polen, Tschechien und Ungarn sind 350.000 Beschäftigte in deutschen Unternehmen tätig. Allein der Siemens-Konzern verfügt über 95 Tochtergesellschaften mit 25.000 Beschäftigten. Volkswagen hat 1991 den tschechischen Autohersteller Skoda übernommen und den Ausstoß seither verdreifacht - inzwischen werden eine halbe Million Wagen jährlich für den gesamten europäischen Markt produziert.

"Die Neuinvestitionen sichern eine ähnlich hohe Qualität wie hier zu Lande bei ungleich niedrigeren Löhnen," erklärt dazu Der Spiegel. "Folglich sprudeln die Gewinne weit kräftiger als im Westen." Die Arbeitskosten eines Siemens-Facharbeiters in Deutschland, zitiert das Magazin einen führenden Siemens-Mitarbeiter, seien etwa acht- bis zehnmal höher als die seiner Kollegen in den Beitrittsländen. Die deutsche Industrie- und Handelskammer (IHK) nennt ein anderes Beispiel: Danach sind die Produktionskosten im Maschinen- und Anlagebau in Polen 20 Prozent niedriger als in Deutschland, bei vergleichbarer Produktqualität.

Eine Umfrage der IHK in der deutschen Wirtschaft hat ergeben, dass Firmen mit mehr als 100 Beschäftigten die Osterweiterung vorwiegend positiv sehen, während Kleinbetriebe mit weniger als 50 Beschäftigten sie als Risiko betrachten. Sie fürchten die Billigkonkurrenz aus dem Osten.

Soziale Folgen

In der EU-Kommission haben die großen Industrie- und Finanzkonzerne einen zuverlässigen Sachwalter ihrer Interessen gefunden. Sie sorgt durch eine Unzahl von Kriterien, Bedingungen und Vorschriften dafür, dass in den ehemaligen Ostblockstaaten ein "wettbewerbsfreundliches" Klima entsteht. Konkret bedeutet dies massive Einschnitte bei den staatlichen Sozialabgaben, die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Stillegung großer Bereiche von Industrie und Landwirtschaft, die als unrentabel gelten.

Für die Masse der Bevölkerung hat dies verheerende Folgen. Während in einigen Städten aufgrund von ausländischen Investitionen und EU-Subventionen kleine, prosperierende Zentren entstehen, die einer schmalen Oberschicht ein verhältnismäßig gutes Einkommen sichern, versinken die restlichen Gebiete in Elend und Hoffnungslosigkeit. Besonders deutlich ist dies in Polen, das mit 39 Millionen mehr Einwohner zählt als die übrigen neun Beitrittsländer zusammen.

Man erwartet, dass von den gegenwärtig zwei Millionen polnischen Bauernhöfen lediglich 100.000 die EU-Mitgliedschaft überleben werden. Polnischen Bauern stehen nach dem Beitritt nur 40 Prozent der Agrarhilfen zu, welche die EU an westliche Bauern zahlt. Diese fließen in der Regel an reichere Bauern oder an die Agrarkonzerne, die schon an der Grenze bereit stehen, um polnisches Land mit industriellen Methoden zu bearbeiten. Hinzu kommt die Konkurrenz billiger westlicher Lebensmittelimporte, wenn die Grenzen einmal geöffnet sind.

Ein massenhaftes Bauernsterben in der extrem rückständigen polnischen Landwirtschaft ist daher abzusehen. Obwohl der Agrarsektor nur 3,4 Prozent zur Wertschöpfung Polens beiträgt, beschäftigt er noch einen Fünftel der Erwerbstätigen - das sind rund 3,7 Millionen. Die meisten werden ihre Existenzgrundlage verlieren. Bei einer offiziellen Arbeitslosenrate von 18,4 Prozent haben sie kaum Chancen auf einen anderen Arbeitsplatz.

Auch in der Schwerindustrie stehen unzählige Arbeitsplätze auf der Kippe. Die polnische Stahlindustrie, die noch mehrere Hunderttausend Arbeiter beschäftigt, gilt als marode und im europäischen Rahmen nicht konkurrenzfähig. Ebenso der Bergbau- und Energiesektor. Die EU-Kommission macht schon jetzt das zögerliche Vorgehen der Regierung bei der Stillegung dieser Bereiche für die Wirtschaftsflaute im Land verantwortlich. Gibt die polnische Regierung dem Drängen der Kommission nach, riskiert sie allerdings eine soziale Explosion. Im schlesischen Bergbaugebiet kommt es seit Monaten immer wieder zu Demonstrationen gegen staatliche Stillegungspläne.

Bei den anderen Beitrittskandidaten sieht es ähnlich aus wie in Polen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch und die Arbeitsproduktivität gering, der Lebensstandard entsprechend niedrig. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sämtlicher Beitrittsstaaten entspricht zusammengenommen ungefähr dem Hollands. Während die Bevölkerung der EU mit der Erweiterung um rund 28 Prozent wächst, nimmt die Wirtschaftskraft gemessen am BIP lediglich um rund 5 Prozent zu.

Befürworter der Osterweiterung verweisen gern auf die Erfahrungen mit Südeuropa und Irland, deren Wohlstandsgefälle zu den übrigen Mitgliedern abnahm, seit sie der EU beitraten. Die Osterweiterung findet aber unter ganz anderen Rahmenbedingungen statt, als frühere Erweiterungsrunden. Das stagnierende Wirtschaftswachstum und die hohe Arbeitslosigkeit bei den alten Mitgliedern, insbesondere in Deutschland, begünstigen eine umgekehrte Entwicklung - die Angleichung des Lebensstandards in den reicheren Mitgliedsländern an denjenigen der ärmeren.

Die Möglichkeit, die Produktion nach Osteuropa zu verlagern, wird von der Wirtschaft genutzt, um Löhne und Tarife in Westeuropa unter Druck setzen. "Der Wettbewerbsdruck nimmt bei einfachen arbeitsintensiven Produkten zu," schreibt die deutsche Industrie- und Handelskammer. "Das heißt, die Unternehmen des Niedriglohnsektors fordern für Deutschland eine Tariföffnung, um nicht durch zu hohe Löhne Wettbewerbsnachteile zu haben."

Hinzu kommt die wachsende Zahl von Immigranten, die der Not im Osten entgehen wollen, indem sie eine schlecht bezahlte Arbeit im Westen annehmen. Vor allem in grenznahen Regionen und in Branchen wie der Bauindustrie wird deshalb mit einem erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit gerechnet.

Unterstützt von den Gewerkschaften hat die EU deshalb eine siebenjährige Übergangsregelung bei der Freizügigkeit beschlossen. Obwohl sie Mitglied der EU sind, dürfen Arbeiter aus Osteuropa in dieser Zeit nicht in dem Land ihrer Wahl arbeiten und leben. Es bleibt jedem alten Mitgliedsstaat selbst überlassen, wem er Freizügigkeit gewähren will und wem nicht. Dabei sind Sonderregelungen für bestimmte Branchen zulässig.

Das kommt einer Diskriminierung osteuropäischer Arbeiter gleich, während sich das Kapital frei bewegen kann. Der Druck auf die Löhne wird dagegen nicht beseitigt; die Übergangsregelung erlaubt es den Unternehmen, das Lohngefälle zwischen Ost und West aufrecht zu erhalten und als Hebel gegen die höheren Westlöhne einzusetzen.

Die Osterweiterung geht außerdem zu Lasten der ärmeren Regionen Westeuropas. Ein beträchtlicher Teil der Gelder, mit denen die EU in Zukunft die neuen Mitglieder unterstützen wird, stammen aus dem Regionalfonds. Aus ihm erhalten Regionen Geld, deren Pro-Kopf-Einkommen unter 75 Prozent es EU-Durchschnitts liegt. Da dieser Durchschnitt durch die Erweiterung deutlich sinkt, fallen viele Regionen Portugals, Spaniens aber auch Ostdeutschland aus der Förderung heraus.

Dennoch sind die rund 40 Milliarden Euro, mit denen die EU von 2004 bis 2006 die neuen Mitglieder fördern will, nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Das wird deutlich, wenn man sie mit den 50 Milliarden Euro vergleicht, die seit 1991 Jahr für Jahr aus der Bundeskasse in den deutschen Osten flossen, ohne dessen wirtschaftlichen und sozialen Niedergang bremsen zu können.

Über die Subventionsgelder ist inzwischen ein heftiger Streit entbrannt, an dem die Erweiterung sogar scheitern könnte. Dänemark, das zur Zeit die Ratspräsidentschaft inne hat und die Verhandlungen führt, hat den Beitrittskandidaten 42 Milliarden Euro statt der im Oktober beschlossenen 39,3 Milliarden zugesagt. Ob die relativ geringe Differenz von 2,7 Milliarden Euro tatsächlich bezahlt wird oder zum Scheitern der Verhandlungen führt, hängt nun von der Zustimmung Deutschlands als größtem Nettozahler der Union ab.

Wachsende Spannungen

Die EU-Osterweiterung findet vor dem Hintergrund wachsender transatlantischer Spannungen statt. Schon jetzt gibt es zahlreiche ungelöste Handelskonflikte zwischen den USA und der EU. Hinter den heftigen Auseinandersetzungen zwischen der deutschen und der amerikanischen Regierung über einen Irakkrieg verbergen sich grundlegendere Konflikte über das Kräfteverhältnis zwischen zwei rivalisierenden Großmächten. Maßgebliche Kreise des amerikanischen Establishments betrachten das Anwachsen der EU zu einem wirtschaftlichen Riesen als Herausforderung der amerikanischen Hegemonialstellung.

Der Konflikt mit den USA, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs als Schiedsrichter in europäischen Angelegenheiten fungierten, wirft zudem die Frage nach dem Kräfteverhältnis auf dem alten Kontinent neu auf. Viele europäische Regierungen betrachten das wachsende Gewicht Deutschlands, das von der Ausdehnung nach Osten am meisten profitiert, mit Misstrauen.

So drohte die Osterweiterung lange Zeit am Streit zwischen Frankreich und Deutschland über die Agrarsubventionen zu scheitern. Präsident Chirac wollte sie beibehalten, um die französischen Bauern nicht zu verprellen, Kanzler Schröder wollte sie kürzen, um den deutschen Staatshaushalt zu schonen. Der Konflikt wurde erst gelöst, als Schröder weitgehend nachgab - sehr zum Missfallen der britischen Regierung, die die Agrarsubventionen ebenfalls einschränken will.

Sehr deutlich werden die wachsenden Spannungen an der Frage einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Hier verbinden sich eine Vielzahl von Interessen und Gegensätze zu einem kaum entwirrbaren Knoten.

Vor allem die USA üben starken Druck auf die EU aus, das Nato-Mitglied möglichst bald aufzunehmen. Sie versprechen sich davon eine Stärkung ihres wichtigsten Verbündeten im Mittleren Osten. In der EU wird das von Großbritannien, Italien, Spanien und neuerdings von Griechenland unterstützt.

In Deutschland und Frankreich stößt die Aufnahme der Türkei dagegen auf erhebliche Vorbehalte. Das Land verfügt mit knapp 70 Millionen über mehr Einwohner als alle gegenwärtigen EU-Mitglieder mit Ausnahme Deutschlands, hätte also im Falle einer Mitgliedschaft erhebliches Gewicht. Gleichzeitig beträgt die Wirtschaftsleistung weniger als ein Viertel des gegenwärtigen EU-Durchschnitts und liegt noch unter derjenigen Osteuropas. Die Aufnahme der Türkei, argumentieren die Gegner eines solchen Schritts, würde die EU dauerhaft lähmen und aus einer politischen Union in eine bloße Freihandelszone verwandeln. Gleichzeitig hat die konservative Rechte das Thema entdeckt und agitiert im Namen des "christlichen Abendlandes" gegen die Aufnahme des mehrheitlich islamischen Landes.

Die deutsche und die französische Regierung wollen ihren Einfluss auf die Türkei aber auch nicht völlig verlieren, indem sie sich dem Wunsch nach einem EU-Beitritt kategorisch widersetzen. Präsident Chirac und Kanzler Schröder haben sich deshalb auf einen Kompromissvorschlag geeinigt, den sie dem Kopenhagener Gipfel unterbreiten wollen. Danach soll die EU Ende nächsten Jahres, nach einer Überprüfung der Entwicklung der Türkei, einen Termin für Beitrittsverhandlungen festlegen, die frühestens Mitte 2005 beginnen könnten. Ein Beitritt wäre dann im Jahr 2013 denkbar. In Kopenhagen werden erhebliche Konflikte über diese Frage erwartet.

Siehe auch:
Die Auswirkungen der bevorstehenden EU-Osterweiterung
(25. Mai 2002)
Die Desintegration der Nato
(29. November 2002)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - Januar/Februar 2003 enthalten.)
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