Europa auf Ration: Der Krieg in Afghanistan und das Dilemma des europäischen Kapitalismus

Diesen Vortrag hielt Peter Schwarz, Mitglied der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, am 17. Januar 2002 auf einer internationalen Sommerschule der australischen Socialist Equality Party.

Vor zwei Wochen, am 1. Januar dieses Jahres, wurde in zwölf europäischen Ländern eine neue Währung eingeführt. Anstatt Peseta, Lire, Drachmen, Francs und Mark benutzen nun schätzungsweise 300 Millionen Europäer eine gemeinsame Währung, den Euro. Die Euro-Zone erstreckt sich von Portugal, Spanien, Italien und Griechenland im Süden des Kontinents über Frankreich, die Benelux-Staaten, Österreich und Deutschland in der Mitte bis nach Finnland im Norden. Von den gegenwärtig 15 Mitgliedern der Europäischen Union haben sich lediglich Großbritannien, Dänemark und Schweden dem Währungsverbund nicht angeschlossen.

Die Einführung des Euro stellt einen gewaltigen Schritt in Richtung ökonomischer Einigung des Kontinents dar und ist in dieser Hinsicht ohne Zweifel progressiv. Auf den ersten Blick scheint es kaum einen Zusammenhang zwischen diesem Schritt und dem Krieg in Afghanistan zu geben. Betrachtet man die beiden Ereignisse jedoch in einem größeren historischen Rahmen, so ergibt sich eine enge Beziehung. Beide sind Bestandteil der Auseinandersetzung, die sich während der vergangenen zehn Jahre zum Brennpunkt der internationalen Politik entwickelt hat: des Kampfs um globale Hegemonie, um Weltmacht, um eine Neuaufteilung der Welt, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwischen den Großmächten neu entbrannt ist.

Vor drei Jahren, unmittelbar bevor der Euro als technische Währung eingeführt und die Wechselkurse der europäischen Währungen endgültig festgelegt wurden, erschienen in internationalen Politikmagazinen zahlreiche Artikel über die Bedeutung dieses Schritts. Sie gelangten unweigerlich zur Schlussfolgerung, der Euro sei die größte Herausforderung der wirtschaftlichen und infolgedessen auch der politischen Vormachtstellung der USA seit den zwanziger Jahren, als der amerikanische Dollar das britische Pfund als führende Weltwährung ablöste.

Ein amerikanischer Ökonom, C.Fred Bergsten, schrieb z.B. in Foreign Affairs : "Die Einführung des Euro eröffnet die Aussicht auf eine neue, bipolare internationale Wirtschaftsordnung, welche die seit dem Zweiten Weltkrieg bestehende amerikanische Hegemonie ablösen könnte... Der Euro wird aller Wahrscheinlichkeit nach die internationale finanzielle Dominanz des Dollar herausfordern."[1] Und ein deutscher Kollege bemerkte in einer Publikation der Friedrich Ebert Stiftung, die Europäische Währungsunion sei "die potentiell gravierendste Herausforderung für die künftige Suprematie der USA: Mit dem Euro erwächst dem Dollar erstmals seit siebzig Jahren ein ernsthafter Konkurrent."[2]

Das US-Kapital ist nicht bereit, diese Herausforderung passiv hinzunehmen. Es benutzt seine militärische Überlegenheit, um der Bedrohung seiner wirtschaftlichen Dominanz entgegenzuwirken. Das ist die tiefere Logik hinter den Eruptionen des amerikanischen Militarismus, die sich während der vergangenen zehn Jahre stets gesteigert und im Afghanistankrieg ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden haben. Wir können hier die Keime eines Konflikts sehen, der die zukünftige politische Entwicklung zunehmend dominieren wird. Von den Grundtatsachen der Weltwirtschaft her betrachtet ist ein Zusammenstoß amerikanischer und europäischer Interessen absolut unvermeidlich - auch wenn dies momentan nur wenige Politiker oder Kommentatoren offen eingestehen. Und der Kampf um geopolitischen Einfluss und wirtschaftliche Interessen wird vermehrt offen militaristische Formen annehmen. Wir können nicht voraussagen, welche Formen diese Konflikte annehmen werden - ein Bündnis aller europäischen Mächte, mit oder ohne Russland, gegen Amerika; ein erneutes Auseinanderbrechen Europas unter dem Druck Amerikas; ein Bündnis Europas mit Amerika gegen China, Russland oder Indien... Aber wir können mit Sicherheit sagen, dass es keine friedliche Lösung dieser Konflikte geben wird.

Wir sehen das natürlich nicht fatalistisch. Ein Dritter Weltkrieg ist nur dann unvermeidlich, wenn sich die Arbeiterklasse als unfähig erweist, ihn zu verhindern. Die selben Entwicklungen, die das amerikanische und das europäische Kapital gegeneinander aufbringen und militärische Erschütterungen auslösen wie seit 1945 nicht mehr, treiben auch die gesellschaftlichen Spannungen auf die Spitze und lösen politische Erdbeben aus, die sich auf Millionen Menschen auswirken, sie in Bewegung setzen und der Politik zuwenden. Es ist unsere Aufgabe, ihnen eine Orientierung zu geben. Die Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms ist die einzig tragfähige Antwort auf die Gefahr eines weiteren imperialistischen Krieges.

Zentraler Bestandteil dieser Aufgabe ist der Kampf gegen jede Spur von Nationalismus und Chauvinismus. In Europa, das sich momentan am kürzeren Hebel befindet, ist das besonders wichtig. Hier können gegen Amerika gerichtete chauvinistische Standpunkte leicht in linkem Gewand daher kommen. Unsere Antwort auf die Eruption des amerikanischen Militarismus besteht nicht in Appellen an die europäischen Regierungen, ihm entgegenzutreten. Wir setzen den Cowboy-Methoden des Texaners George W. Bush nicht die kultvierte und vernünftige europäische Staatskunst entgegen. Europa mag sich zur Zeit gegenüber den USA in der schwächeren Position befinden. Aber die Geschichte hat gezeigt, dass die europäische - und insbesondere die deutsche - Bourgeoisie zu den barbarischsten Verbrechen fähig ist, um diesen Nachteil aufzuholen. Wir verstehen, dass die gegenwärtige Eruption des amerikanischen Imperialismus das Ergebnis der unlösbaren Widersprüche des kapitalistischen Systems als ganzem ist.

Aufstieg und Niedergang der USA

Der Aufstieg der USA zur vorherrschenden wirtschaftlichen und politischen Macht geht auf die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zurück. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts schritt die industrielle und wirtschaftliche Entwicklung der USA in raschem Tempo voran. Die nationalen Grenzen, so weit sie auch waren, wurden bald zu eng für dieses ökonomische Wachstum. Die Vereinigten Staaten schlugen den Weg der imperialistischen Expansion ein - zuerst in der Karibik, Südamerika und dem Pazifik, dann in Europa.

Der Erste Weltkrieg markierte den Beginn ihrer Vorherrschaft über den alten Kontinent. Der Krieg ließ Amerika emporschnellen, stürzte Europa in den Abgrund und bewirkte eine plötzliche Verschiebung der Weltachse. Hatten sich die europäischen Großmächte gegenseitig zerstört und ruiniert, so gingen die USA reicher und mächtiger denn je aus dem Krieg hervor. Sie übernahmen die Rolle der Fabrik der Welt, des Handelslagers der Welt und der Zentralbank der Welt, die zuvor Europa und insbesondere England ausgeübt hatten. Ihre politische Vormachtstellung stützte sich auf ihre wirtschaftliche Vormachtstellung. Sie besaßen 60% der weltweiten Goldvorräte und stellten ein bis zwei Drittel der wichtigsten Waren her. 80% der Autos, 70% des Öls und 60% des Eisens und Stahls der Welt wurden auf amerikanischem Boden produziert.

Europa, durch den Krieg zerstört und durch zahlreiche Grenzen zersplittert, war von amerikanischen Krediten abhängig und kränkelte unter dem amerikanischen Druck. Es gab keinen kapitalistischen Ausweg aus dieser Sackgasse. Weil die Arbeiterbewegung durch die Krise ihrer Führung gelähmt war, erkrankte der europäische Kapitalismus am Faschismus. Der Faschismus erfüllte eine doppelte Aufgabe: Er sollte die Arbeiterbewegung zerschlagen und mittels militärischer Gewalt einen Ausweg aus der kapitalistischen Sackgasse bahnen. Deutschland, dem es 1918 nicht gelungen war, Europa zu organisieren, versuchte es 1939 erneut - und scheiterte wieder.

Die wirtschaftlichen Reserven der USA erwiesen sich als stark genug, die innere soziale Krise mittels des New Deal aufzufangen und entscheidend in den Krieg gegen Nazi-Deutschland und Japan einzugreifen. Die Hauptlast des Krieges trug die Sowjetunion, die trotz der verräterischen Rolle des Stalinismus den ganzen Heroismus ihrer Bevölkerung im Kampf gegen den Faschismus aufbrachte. Aber zum Endergebnis trugen amerikanische Gelder, Waffen und Soldaten entscheidend bei.

Nach dem Krieg war die wirtschaftliche, militärische und politische Vormachtstellung der USA ebenso stark, wenn nicht noch stärker als zuvor. Um eine soziale Revolution in Europa zu verhindern, um die Sowjetunion einzudämmen und im Interesse ihrer eigenen Waren- und Kapitalexporte sahen sich die USA jedoch gezwungen, ihren europäischen und japanischen Rivalen unter die Arme zu greifen und beim Wiederaufbau ihrer Wirtschaft zu helfen.

Ende der sechziger Jahre hatten die USA ihre Vormachtstellung im Bereich von Produktion und Handel weitgehend verloren. Wirtschaftsleistung und Welthandelsanteil der Europäischen Gemeinschaft entsprachen ungefähr jenen der USA. Japan produzierte und exportierte etwa halb so viel. Das ist seither - wenn man von zeitweiligen Fluktuationen absieht - so geblieben. Das veränderte Kräfteverhältnis in der Weltwirtschaft fand einen dramatischen politischen Ausdruck, als US-Präsident Nixon im August 1971 das Währungsabkommen von Bretton Woods einseitig kündigte. Das am Ende des Krieges unterzeichnete Abkommen hatte die Grundlage des Nachkriegswirtschafssystems gebildet und die amerikanische Vorherrschaft gesichert.

Mit dem Einsetzen der Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion verschärften sich die Spannungen zwischen Europa und Amerika weiter. Teile der deutschen Bourgeoisie, insbesondere innerhalb der SPD, witterten die Chance, durch eine Annäherung an Moskau und Ostberlin mehr Unabhängigkeit gegenüber Washington zu erlangen. 1973 erstreckten sich heftige Auseinandersetzungen über eine neue Atlantikcharta über ein ganzes Jahr. US-Außenminister Henry Kissinger hatte darauf bestanden, dass zukünftige amerikanische Sicherheitsgarantien für Europa an europäische Gegenleistungen im wirtschaftlichen Bereich geknüpft werden. In der Atlantischen Deklaration vom Juni 1974 akzeptierten die europäischen Mitglieder der Allianz schließlich eine derartige Verknüpfung. Sie verpflichteten sich darauf hinzuwirken, "dass ihre Sicherheitsbeziehungen durch harmonische Beziehungen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet gestärkt werden".[3]

Der damals von den USA ausgeübte Druck gab der europäischen Integration einen starken Schub. Solange die europäische Integration die amerikanische Vorherrschaft nicht in Frage gestellt hatte, war sie von den USA unterstützt worden. So sollte eine Wiederholung der sozialen Erschütterungen und politischen Krisen der 20er Jahre vermieden und, durch die Beseitigung von Grenzen und Zollschranken, das Eindringen amerikanischen Kapitals und amerikanischer Waren erleichtert werden. Nun betrachteten wichtige Teile der europäischen Bourgeoisie die Integration als Gegenmittel zur amerikanischen Hegemonie. Im Laufe der siebziger Jahre machte die Europäische Union beträchtliche Fortschritte. Frankreich gab seinen Widerstand gegen die britische Mitgliedschaft auf. Die Mitgliederzahl wuchs von neun auf zwölf und schließlich auf 15. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde in die Europäische Gemeinschaft mit stark erweiterten Kompetenzen umgeformt. Es gab erste Versuche, die europäischen Währungen aneinander zu binden. Der französische Präsident Valéry Giscard d'Estaing und der deutsche Kanzler Helmut Schmidt, die sich beide für Wirtschaftsexperten hielten, spielten die führende Rolle dabei.

Es gab aber eine definitive Schranke, über die der Konflikt mit den USA nicht hinausgetrieben werden durfte. Trotz der Entspannungspolitik war der Gegensatz zur Sowjetunion immer noch der bestimmende Faktor der Weltpolitik. Die europäische Bourgeoisie benötigte Amerika für ihre militärische Verteidigung. Die Vereinigten Staaten wurden immer noch als "gütiger Hegemon" betrachtet - d.h. es galt auch im Interesse Europas liegend, dass sie militärisch überlegen waren.

Der Zerfall und Zusammenbruch der Sowjetunion beseitigte diese Schranke und veränderte die Beziehung zwischen Amerika und Europa grundlegend. Zum einen betrachteten einflussreiche Teile der amerikanischen herrschenden Elite das Ende der Sowjetunion als Chance, eine unangefochtene Weltmachtstellung zu erlangen. "Der bis 1990 auf die westliche Welt beschränkte hegemoniale Führungsanspruch wurde zum globalen Herrschaftsanspruch erweitert und verstärkt," wie ein deutscher Historiker kommentiert.[4] Zum andern sah die europäische Elite keinen Grund mehr, weshalb sie sich den USA unterordnen sollte. "Die Einordnung Europas in die amerikanische Hegemonie war an den Konflikt mit der Sowjetunion gebunden gewesen und nach dessen Ende also hinfällig," schreibt derselbe Autor.[5] Die europäische Bourgeoisie forderte "Gleichberechtigung" mit ihrem transatlantischen Partner - eine Forderung, der nachzugeben die USA nicht bereit waren. Sofort entwickelte sich eine Reihe von Konflikten, die bis heute nicht gelöst sind.

Europäische Bemühungen um ökonomische und militärische "Gleichberechtigung"

Auf ökonomischem Gebiet forderte Europa die USA dort heraus, wo sie immer noch die dominierende Rolle spielten: der Rolle des Dollars als wichtigste Weltwährung.

Seit dem Zweiten Weltkrieg hatte der Dollar als Wertanlage, Tauschmittel und Rechungseinheit für öffentliche und private Nutzer eine wichtigere Rolle als jede andere Währung gespielt. Noch Mitte der neunziger Jahre war das Gewicht des Dollars auf den internationalen Märkten mehr als doppelt so hoch wie der Beitrag, den die amerikanische Volkswirtschaft zum Weltsozialprodukt und zum Welthandel beisteuerte. Nahezu die Hälfte des Welthandels und bis zur Einführung des Euro selbst ein Drittel des innereuropäischen Handels wurden in US-Dollar in Rechnung gestellt. 77% aller internationalen Bankkredite, 40% der international ausgegebenen Wertpapiere und 44% aller europäischen Guthaben beruhten auf Dollarbasis. 62% der internationalen Währungsreserven wurden in Dollar gehalten, verglichen mit 26% in europäischen Währungen.

Die Vorrangstellung des Dollar erbrachte dem amerikanischen Kapital beträchtliche Vorteile. Sie machte es leichter, internationale Vermögen und Investitionen anzuziehen, sie gab den amerikanischen Behörden größeren Spielraum in der Finanzpolitik, und ausländische Regierungen mussten im eigenen Interesse danach streben, den Dollar stabil zu halten.

Im Dezember 1991, demselben Monat, in dem die Sowjetunion formal aufgelöst wurde, versammelten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Maastricht und sagten der Vorrangstellung des Dollars den Kampf an. Sie beschlossen, bis 1999 eine Europäische Währungsunion zu schaffen.

Die treibenden Kräfte hinter dieser Entscheidung waren der französische Präsident François Mitterrand und der deutsche Kanzler Helmut Kohl. Mitterrand sah in der Währungsunion ein Mittel zur Kontrolle Deutschlands, das nach der Wiedervereinigung zur mit Abstand größten und wirtschaftlich stärksten Macht Europas geworden war. Kohl wiederum vertraute darauf, dass die Währungsunion Deutschland befähigen würde, die dominierende Rolle in Europa zu spielen. Als Schüler Adenauers fürchtete er eine erneute Isolation des Landes und war daher an einer engen Verbindung mit den europäischen Nachbarn interessiert. Beide, Mitterrand und Kohl, stimmten überein, dass die Währungsunion unverzichtbar sei, um die dominierende Stellung des Dollars in Frage zu stellen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Langzeitprojekten der Europäischen Union trat die Währungsunion termingemäß in Kraft. Wie in Maastricht vereinbart, ersetzte der Euro im Januar 1999 die meisten europäischen Währungen als Rechungseinheit. Drei Jahre später, Anfang 2002, wurden Banknoten und Münzen ausgetauscht und der Euro wurde für die europäische Bevölkerung zur physischen Realität. Dieser Schritt hat weitgehende politische Auswirkungen. Wie ein deutscher Beobachter bemerkte: "Damit änderten sie [die Mitglieder der EU] die Machtverteilung der Atlantischen Gemeinschaft spürbar. War die in Maastricht 1992 verkündete Europäische Union bis dahin nur ein Begriff gewesen, so wurde sie jetzt auf einem wichtigen Teilgebiet Realität. Ihre elf [6] Mitglieder schieden nicht nur aus der Dollarzone aus, sie bauten auch den Euro zur zweiten Leitwährung der Welt auf... Die Emanzipation Westeuropas aus der Abhängigkeit von den USA erreichte damit eine neue Qualität. Sie wurde in Washington deutlich registriert."[7]

Auf militärischem Gebiet fällt Europa die Herausforderung der amerikanischen Hegemonie wesentlich schwerer. Hier ist der amerikanische Vorsprung überragend.

Mit 283 Milliarden Dollar liegt der Beitrag der USA zu den Gesamtausgaben der Nato um 50% höher als der sämtlicher europäischer Nato-Mitglieder zusammengenommen. Die USA geben 3,1% des BSP zu Militärzwecken aus, verglichen mit 2,2% im europäischen Durchschnitt und 1,5% in Deutschland.[8] Diese Zahlen bringen jedoch nicht das tatsächliche Kräfteverhältnis zum Ausdruck. Laut einer Studie des US-Verteidigungsministeriums beträgt die Leistungsfähigkeit der europäischen Streitkräfte nur ein Zehntel der amerikanischen. Der Grund dafür ist, dass jedes europäische Land über eigene Kommandostrukturen verfügt, seine eigene Forschung und Entwicklung finanziert und die meisten Gelder für Personalausgaben verwendet. Europa hält 2,3 Millionen Soldaten unter Waffen, darunter viele schlecht ausgebildete Wehrpflichtige, die USA dagegen nur 1,4 Millionen Berufssoldaten. Die USA verwenden dementsprechend nur 39% des Militärbudgets für Personalausgaben - in Deutschland sind es 60%, in Portugal sogar 79%. Andersherum geben die USA pro Soldat drei Mal so viel für militärische Hardware aus wie Deutschland und Europa im Durchschnitt.

Die europäischen Anstrengungen zu einer Militärreform konzentrieren sich folgerichtig darauf, gemeinsame Kommandostrukturen aufzubauen, gemeinsame, von amerikanischen Produzenten unabhängige Waffenprogramme zu entwickeln (wie den neuen Airbus-Militärtransporter), die Mannschaftsstärken zu senken und die Wehrpflichtigenarmeen in hochprofessionelle Berufsarmeen umzuwandeln. Dabei handelt es sich allerdings um kostspielige und langwierige Projekte. Unter Bedingungen, wo alle europäischen Regierungen mit hohen Haushaltsdefiziten zu kämpfen haben und Militärausgaben - besonders wen sie mit massiven Kürzungen im Sozialbereich einhergehen - höchst unpopulär sind, lassen sie sich nur schwer verwirklichen. Hinzu kommt, dass sich die europäische Bourgeoisie selten auf eine gemeinsame Vorgehensweise einigen kann. Innereuropäische Rivalitäten - besonders zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien - spielen nach wie vor eine wichtige Rolle und verschärfen sich regelmäßig, wenn die USA Druck auf Europa ausüben.

Seit 1990 wurden zahlreiche Entscheidungen gefasst und teilweise verwirklicht, die das Ziel verfolgen, Europa eine eigenständige militärische und politische Rolle auf der Weltbühne zu verschaffen. Die wichtigste war zweifellos der 1992 unterzeichnete Maastricht-Vertrag. Er sieht nicht nur eine Europäische Währungsunion, sondern auch eine gemeinsame Außenpolitik vor und strebt langfristig eine politische Union an.

1992 wurde auch die bereits früher eingerichtete deutsch-französische Brigade zu einem Europäischen Korps umgewandelt und die Westeuropäische Union (WEU), ein untätiges Relikt aus der Nachkriegszeit, wiederbelebt und zum verteidigungspolitischen Arm der Europäischen Unon gemacht. Ziel beider Maßnahmen war es, wie der französische Präsident Mitterrand und der deutsche Kanzler Kohl in einer gemeinsamen Erklärung betonten, "die Europäische Union mit der Möglichkeit des eigenen militärischen Handelns auszustatten".[9]

Die US-Regierung, unterstützt von Großbritannien, widersetzte sich anfangs diesem Vorhaben entschieden. Präsident Bush Senior wandte sich ausdrücklich gegen die Pläne, die WEU zum verteidigungspolitischen Arm der Europäischen Union und das Euro-Korps zum Kern einer unabhängigen europäischen Militärstruktur umzuwandeln. In einer diplomatischen Note der US-Regierung vom Februar 1991 hieß es dazu unverblümt: "Unserer Ansicht nach führen Bemühungen, eine europäische Säule aufzubauen, indem die Rolle der Nato neu definiert und beschränkt wird, indem ihre Struktur geschwächt wird oder indem ein monolithischer Block einiger Mitglieder geschaffen wird, in die falsche Richtung. Wir möchten hoffen, dass solchen Bemühungen fest widerstanden wird." Und in einem weiteren Dokument der US-Regierung, dem "Plan für die Verteidigungsausgaben für die Fiskaljahre 1994 bis 1999", heißt es: "Während die Vereinigten Staaten das Ziel der europäischen Integration unterstützen, müssen wir uns bemühen, auf Europa beschränkte Sicherheitsanordnungen zu verhindern, die die Nato und besonders deren integrierte Kommandostruktur untergraben würden."[10]

Die Clinton-Administration nahm eine etwas versöhnlichere Haltung ein und schließlich wurde ein Kompromiss erzielt, als sich Frankreich bereit erklärte, in die integrierte Militärstruktur der Nato zurückzukehren, wenn im Gegenzug deren europäische Komponente gestärkt würde. 1994 gab der Brüsseler Nato-Gipfel grünes Licht für eine Umstrukturierung der Allianz, die eigenständige militärische Aktionen der europäischen Mitglieder unter der Schirmherrschaft der EU zuließ, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Solche Aktionen müssen vom Nato-Rat einstimmig beschlossen werden, was den USA ein faktisches Veto-Recht einräumt.

Die europäischen Regierungen waren nicht bereit, sich mit dieser Lage der Dinge abzufinden. Im Amsterdamer Vertrag von 1997 konkretisierte die EU ihre Pläne für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die Umsetzung dieser Pläne wurde durch eine Kehrtwende der britischen Haltung erleichtert. Hatte die britische Regierung bisher alle französischen und deutschen Initiativen für eine unabhängigere militärische Rolle abgeblockt, so gab Premierminister Tony Blair während des französisch-britischen Gipfels von Saint Malo im Dezember 1998 einer selbständigeren Rolle des europäischen Militärs seine ausdrückliche Zustimmung. In der gemeinsamen Erklärung von Blair und Chirac, dem französischen Präsidenten, heißt es: "Um auf internationale Krisen reagieren zu können, braucht die Union die Fähigkeit zum unabhängigen Handeln, unterstützt durch glaubwürdige Streitkräfte, die Mittel, über ihren Einsatz zu entscheiden, und die Bereitschaft, dies zu tun."

Den Hintergrund für die veränderte britische Haltung bildete der Kosovo-Krieg, der zum Katalysator der europäischen Bemühungen um militärische Selbständigkeit wurde. Laut dem bereits zitierten deutschen Kommentator benutzten die Vereinigten Staaten die Gelegenheit, "die von ihnen geführte Nato endgültig als Ordnungsmacht in Europa durchzusetzen und die Rivalen auf die Plätze zu verweisen". "Das europäische Militär ist im Serbienkrieg regelrecht vorgeführt worden, als hoffnungslos hinterwäldlerisch, leistungsunfähig und unmodern," beklagt er sich. "Die Kriegsführung gegen Serbien wurde nicht etwa im Alliierten Hauptquartier der Luftstreitkräfte in Ramstein beschlossen, sondern im amerikanischen Pentagon und dann der Nato zur Ausführung übermittelt. Über die Einsätze amerikanischer Langstreckenbomber wurden die Alliierten nicht einmal informiert."[11]

Die Europäische Union reagierte auf diese "Demütigung", wie es der oben zitierte Autor nennt, auf ihrem Kölner Gipfel im Juni 1999. Sie beschloss eine Reihe konkreter Schritte zur Aufstellung eigener Streitkräfte. Bis zum Jahr 2003 soll ein 50.000 bis 60.000 Mann starkes Euro-Korps bereit stehen, das unabhängig ist und auf demselben technischen Niveau steht wie die amerikanischen Streitkräfte. Die Beschlüsse des Kölner Gipfels, die im selben Jahr in Helsinki und im Juni 2000 in Feira konkretisiert wurden, kennzeichnen einen Wendepunkt in den transatlantischen Beziehungen: die Verwandlung militärischer Partner in militärische Konkurrenten. Die politische Absicht dieses Schritts ist offensichtlich. Er soll die europäisch-amerikanischen Beziehungen auf der Grundlage "wirklicher Gleichberechtigung" "neu ausbalancieren", wie es der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping ausdrückte.

Wachsende Konflikte zwischen Amerika und Europa

Die Entwicklung seit dem Kölner Gipfel von 1999 und der Einführung des Euro legt den Schluss nahe, dass die europäischen Bemühungen zur Überwindung der amerikanischen Vorherrschaft nicht sehr weit gelangt sind.

Der Euro hat die in ihn gesetzten Hoffnungen nicht erfüllt. Anstatt gegenüber dem Dollar zu steigen, wie dies viele Experten beiderseits des Atlantiks vorausgesagt hatten, hat er seit seiner Einführung vor drei Jahren ein Viertel seines Wertes verloren. Der Dollar erwies sich weitaus fähiger als der Euro, internationales Kapital anzuziehen. Das ist sicherlich kein Ausdruck der inneren Stärke der amerikanischen Wirtschaft, die auf äußerst brüchigen Fundamenten beruht. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass der Kurs des Euro im Falle einer scharfen Krise in den USA wieder erheblich ansteigen wird. Dennoch weist sein Fall auf die enormen Widersprüche und Probleme des europäischen Kapitalismus hin, die sich noch verschärfen werden, wenn sich der Konflikt mit Amerika vertieft.

Im militärischen Bereich hat der Afghanistankrieg - wie zuvor schon der Krieg gegen Serbien - einmal mehr die Unterlegenheit der europäischen Streitkräfte gegenüber der amerikanischen Kriegsmaschinerie gezeigt. Es wäre sicherlich übertrieben zu behaupten, das Ziel des Krieges habe ausschließlich darin bestanden, die europäischen Rivalen zu schwächen und der europäischen Herausforderung der amerikanischen Hegemonie entgegenzutreten. Aber ein wichtiges Ziel war dies ohne Zweifel. Das macht schon die zentrale strategische Stoßrichtung der amerikanischen Kriegsanstrengung deutlich: die Erlangung der Kontrolle über die wichtigsten Energieressourcen der Welt und die Errichtung von Militärbasen in einer Region, die - laut Zbigniew Brzezinski - der Schlüssel zur Weltmacht im 21. Jahrhundert ist.

Aber auch in einem unmittelbareren Sinne hat dieser Krieg die europäischen Bemühungen zur Herausforderung Amerikas untergraben. Er hat Europa sozusagen auf dem falschen Fuß erwischt.

Die Bemühungen um eine gemeinsame europäische Außenpolitik lösten sich in Luft auf, nachdem der Krieg begonnen hatte. Die Namen von Xavier Solana, dem Repräsentanten der europäischen Außenpolitik, und Chris Patten, dem EU-Kommissar für Außenbeziehungen, verschwanden aus den Schlagzeilen. Die Außenpolitik war wieder fest in den Händen Londons, Paris' und Berlins. Insbesondere das Vorpreschen Tony Blairs, der sich bedingungslos hinter die Bush-Administration stellte, vereitelte jede Möglichkeit einer gemeinsamen europäischen Antwort. Schließlich erklärten alle europäischen Regierungen ihre mehr oder weniger bedingungslose Unterstützung für den Kurs der US-Regierung. Hinter dieser Reaktion stand eine Mischung aus Einschüchterung durch die aggressive Haltung der USA und Angst, man könnte beim Großen Spiel um Öl und strategischen Einfluss völlig leer ausgehen, wenn man sich nicht selbst am Krieg beteilige.

Es wäre jedenfalls völlig falsch, aus den Solidaritätserklärungen mit der Bush-Administration zu folgern, die Spannungen zwischen Europa und Amerika hätten sich vermindert. Während die offiziellen Erklärungen von Regierungsvertretern in der Regel durch diplomatische Rücksichtsnahme gedämpft sind, sagen Stellungnahmen von Politikern ohne direkte Regierungsverantwortung und der Presse weit mehr über die wirkliche Haltung der europäischen Elite aus. Ja, die Kluft zwischen der offiziellen Haltung des politischen Establishments und dem Tenor einer beträchtlichen Zahl von Pressekommentaren war eine der bemerkenswertesten Aspekte der europäischen Reaktion auf den Krieg.

Zu den Figuren, die die Meinung der europäischen Elite über den Kurs der amerikanischen Außenpolitik am unverblümtesten ausgesprochen haben, gehört der inzwischen über achtzigjährige frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Fast ein Jahr vor den Ereignissen vom 11. September hielt er an der Berliner Humboldt-Universität eine Grundsatzrede zum Thema "Die Selbstbehauptung Europas im neuen Jahrhundert". Darin sagte er: "Die Amerikaner denken, sie seien nach dem Verschwinden der Sowjetunion die einzige Supermacht der Welt, und das stimmt sogar. Einige von ihnen denken darüber hinaus, deswegen hätten sie die Aufgabe, die ganze Welt zu regieren - und das ist falsch. So sehr allwissend sind sie nicht, wie sie es gerne sein möchten. Die politische Klasse in Amerika hat heute einen geringeren Überblick über die Zeitläufte und über die Entwicklung der Welt als früher."

Schmidt griff ein 1999 verabschiedetes Nato-Papier an, dass der Allianz die Aufgabe überträgt, weltweit, über die Grenzen des Bündnisses hinaus zu intervenieren. Dahinter stehe "die Vorstellung, dass die Europäer die Soldaten stellen und die Amerikaner die Generale, die Flugzeuge und die Satelliten". Dann wandte sich sein Zorn gegen Zbigniew Brzezinski, einen der führenden Köpfe hinter dem gegenwärtigen Krieg: "Er hat in einem Buch und in einem großen Aufsatz ausdrücklich davon gesprochen, dass Amerika als einzige Supermacht die Aufgabe habe, den ‚Eurasischen Kontinent unter Kontrolle zu halten'. Dies grenzt an Größenwahn." Schmidt zog daraus die Schlussfolgerung: "Es ist kein Wunder, dass die europäischen Regierungschefs in der allerletzten Zeit, nach den Erfahrungen in Bosnien und im Kosovo ernsthaft beschlossen haben, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln. Vor zehn Jahren wäre vielleicht ein Franzose auf die Idee gekommen, sonst aber kaum ein Europäer. Heute ist es eine allgemeine Reaktion auf die Prädominanz Washingtons."

Nach Ausbruch des Krieges griffen mehrere Presseorgane in Frankreich, Deutschland, aber auch in Großbritannien Amerika offen an. Typisch ist das führende deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel, das enge Kontakte zu Regierungskreisen unterhält. Es reagierte auf den Krieg, indem es das Buch "Taliban. Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad" von Ahmed Rashid, das sehr offen auf die wirklichen Kriegsziele eingeht, als Serie veröffentlichte. In einem weiteren Artikel beklagte sich Der Spiegel bitter über Washingtons Traum "von einem neuen Empire". Die ursprüngliche Hoffnung auf Kooperation, heißt es darin, habe sich inzwischen "gründlich zerschlagen. Darüber sind besonders viele Europäer empört, die sich nach den Anschlägen vom 11. September vorbehaltloser auf die Seite der USA gestellt hatten als je zuvor." Dann werden zahlreiche Fälle zitiert, in denen die USA eine internationale Zusammenarbeit ablehnen: Ihre einseitige Kündigung des ABM-Vertrags, ihre Weigerung, eigene biologische Waffen international überprüfen zu lassen, ihre Weigerung, den internationalen Strafgerichtshof in den Haag zu unterstützen, und die Einrichtung von amerikanischen Militär-Tribunalen für Nicht-US-Bürger.[12]

Auf der anderen Seite des Atlantiks hat die Regierung mittlerweile, weit offener als ihre Vorgängerin unter Clinton, das "nationale Interesse" zum Leitprinzip der Außenpolitik erhoben. Ein Beitrag, den die heutige Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice kurz vor der Präsidentenwahl in Foreign Affairs veröffentlichte, bringt diese Haltung auf den Punkt. Sie bedauert darin die Tatsache, dass "viele in den Vereinigten Staaten bei den Begriffen Machtpolitik, Großmächte und Machtgleichgewicht Unbehagen verspüren. In extremer Form," schreibt sie, "führt dieses Unbehagen zum... Glauben, dass die Unterstützung durch viele Staaten - oder noch besser: durch Institutionen wie die Vereinten Nationen - die Voraussetzung für eine legitime Machtausübung ist. Das ‚nationale Interesse' wird durch ‚humanitäre Interessen' oder das Interesse der ‚internationalen Gemeinschaft' ersetzt. Der Glaube, die Vereinigten Staaten übten nur dann legitim Macht aus, wenn sie dies im Namen von jemandem oder etwas anderem täten, war im Wilsonischen Denken tief verankert und fand auch ein starkes Echo in der Clinton-Administration. Natürlich ist nichts falsch dabei, wenn man etwas tut, was der gesamten Menschheit nützt, aber das ist in gewissem Sinne nur ein Nebeneffekt. Die Verfolgung des nationalen Interesses durch Amerika wird die Voraussetzungen schaffen, die Freiheit, Märkte und Frieden fördern."[13]

Ausgehend von diesen Erklärungen, den jüngsten politischen Entwicklungen, der Geschichte der transatlantischen Beziehungen und den ihnen zugrundeliegenden ökonomischen Gegebenheiten können wir mit Sicherheit sagen, dass der Konflikt zwischen Amerika und Europa in der kommenden politischen Entwicklung eine zunehmend wichtige Rolle spielen wird. Was zur Zeit noch stark im Hintergrund der politischen Debatte steht, muss unweigerlich ans Licht treten und zu einem bestimmenden politischen Faktor werden.

Es ist unmöglich, die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse herzustellen, ohne diesen Prozess klar zu verstehen und eine eindeutige Haltung dazu einzunehmen. Wir haben die Aufgabe, eine unversöhnliche Opposition gegen den US-Imperialismus mit einer ebenso unversöhnlichen Opposition gegen die imperialistischen Bestrebungen der europäischen Bourgeoisie zu verbinden. Es wird kein Mangel an Versuchen geben, Amerika die Verantwortung für die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Probleme Europas in die Schuhe zu schieben und die europäische Bevölkerung, insbesondere die Mittelschichten, im Namen des Anti-Amerikanismus hinter ihrer jeweiligen Regierung zu sammeln. Und es wird nicht an Propaganda fehlen, die den europäischen Militarismus mit der Forderung nach "Gleichberechtigung" mit den überlegenen USA rechtfertigt.

Schon jetzt finden derartige Versuche einen Widerhall in den Reihen der kleinbürgerlichen Radikalen. Das ungeheure Tempo, mit dem die deutschen Grünen vom Pazifismus ins Lager des imperialistischen Kriegs wechselten, hat objektive Bedeutung. Noch in ihrem Wahlprogramm hatten sie jeden Einsatz deutscher Truppen out of area, d.h. außerhalb des Nato-Territoriums, kategorisch abgelehnt. Mittlerweile haben sie, unter Führung von Außenminister Fischer, nicht nur der Stationierung deutscher Truppen im Kosovo und Mazedonien, sondern auch an der somalischen Küste und jüngst in Kabul zugestimmt.

Während des ersten Weltkriegs bezeichnete Lenin den "geschlossenen Übergang aller besitzenden Klassen auf die Seite des Imperialismus" als ein Kennzeichen der imperialistischen Epoche. Und er warnte, dass die Arbeiterklasse dagegen nicht immun sei. "Diese ist nicht durch eine chinesische Mauer von den anderen Klassen getrennt."[14] Er zeigte auf, wie der Opportunismus als politisch-ideologischer Mechanismus dient, um Teile der Arbeiterklasse auf die Seite des Imperialismus zu ziehen.

Das ist auch heute höchst aktuell. In den Reihen der sogenannten Anti-Globalisierungs-Bewegung, unter den kleinbürgerlichen Radikalen und am linken Rand der Sozialdemokratie, der Gewerkschaften und der ehemaligen stalinistischen Bürokratie gibt es zahlreiche Strömungen, die in der einen oder anderen Form demagogische Appelle an die sozialen Bedürfnisse der Bevölkerung mit europäischem oder nationalem Chauvinismus kombinieren. Sie identifizieren das, was sie als "neoliberale Globalisierung" bezeichnen, mit Amerika. Und sie sind mehr als bereit, im Kampf gegen die amerikanische Hegemonie gemeinsame Sache mit der eigenen Regierung zu machen.

In Deutschland sind die Bemühungen, auf dieser Grundlage eine neue Bewegung aufzubauen, ziemlich weit fortgeschritten. Die Bewegung Attac - über die das wsws geschrieben hat - bietet Figuren wie dem früheren SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, dem PDS-Mann Gregor Gysi, dem ehemaligen Vorsitzenden der IG Medien Detlef Hensche, abtrünnigen Grünen und vielen anderen eine entsprechende Plattform. Auf gutbesuchten Treffen treten sie gemeinsam auf, beschnüffeln sich gegenseitig, diskutieren ihre Meinungsverschiedenheiten und testen die Reaktionen des Publikums. Das Gelingen dieses Unternehmens steht aber keineswegs fest. Im Verlauf ihrer Anpassung an die herrschende Elite bewegen sie sich rasch nach rechts, während mächtige objektive Kräfte die Massen nach links treiben. Eine starke politische Intervention unsererseits kann ihre Bemühungen, eine neue zentristische Falle für die Arbeiterklasse zu schaffen, zum Scheitern bringen.

"Europa auf Ration setzen"

In der Rede "Aussichten der Weltentwicklung" sagte Leo Trotzki 1924, Amerika plane, "Europa auf Ration zu setzen": "Das amerikanische Kapital kann doch unmöglich Europa konkurrenzfähig machen wollen, es kann nicht zulassen, dass England und zumal Deutschland und Frankreich - vor allem aber Deutschland - ihre Weltmärkte zurückerobern; denn auch dem amerikanischen Kapital ist es jetzt etwas zu eng geworden, denn es ist jetzt auch exportierendes Kapital geworden: Es exportiert Erzeugnisse, es exportiert sich selbst. Das amerikanische Kapital will sich eine exponierte Stellung schaffen, es will einen amerikanischen imperialistischen Absolutismus auf unserem Planeten verwirklichen - das ist sein Ziel." Deshalb, schrieb Trotzki, wolle es "das kapitalistische Europa ‚auf Ration' setzen... Es wird die allen zukommenden Gebiete des Absatzmarktes zuschneiden, es wird die Tätigkeit der europäischen Finanziers und Industriellen normieren... Das bedeutet, dass Amerika Europa sagen wird, wie viel Tonnen, Liter oder Kilogramm es von dieser oder jener Ware kaufen oder verkaufen darf."[15]

Zwei Jahre später schrieb Trotzki in einer Einleitung zu dieser Rede: "Das unerreichbare materielle Übergewicht der USA schließt für das kapitalistische Europa die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Aufstiegs und einer Wiedergeburt automatisch aus. Wenn der europäische Kapitalismus frühre auf zurückgebliebene Erdteile revolutionierend wirkte, so revolutioniert jetzt der amerikanische Kapitalismus das überreife Europa. Es bleibt diesem kein anderer Ausweg aus der ökonomischen Sackgasse als: proletarische Revolution, Beseitigung der staatlichen Zollschranken, Schaffung der Vereinigten Europäischen Sowjetstaaten und föderativer Zusammenschluss mit der Sowjetunion und den befreiten Völkern Asiens. Die zwangsläufige Entwicklung dieses gigantischen Kampfs wird auch den gegenwärtigen kapitalistischen Herrscher - die USA - zwingen, in die revolutionäre Epoche einzutreten."[16]

Mit einigen notwendigen Korrekturen behält diese Analyse bis heute ihre Gültigkeit. Dass das relative Gewicht der amerikanischen Wirtschaft heute weitaus geringer ist als vor 75 Jahren und Europa weit weniger zersplittert und heruntergekommen als nach dem Versailler Vertrag, kann nur zur Folge haben, dass der Kampf um die Weltherrschaft einen noch aggressiveren und intensiveren Charakter annehmen und die Revolution in Europa und Amerika noch enger verbunden sein werden, als Trotzki dies 1926 voraussah. Auch jetzt treibt der Konflikt mit Amerika Europa - wie in den 1920er Jahren - in eine Sackgasse, aus der es keinen anderen Ausweg gibt als die proletarische Revolution. Er verschärft alle wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und nationalen Konflikte auf dem alten Kontinent. Dafür gibt es bereits viele Anzeichen.

Vorsichtige Stimmen haben bereits gewarnt, dass der Erfolg des Euro noch lange nicht feststeht. Sie erklären, dass eine gemeinsame Währung nicht funktionieren kann, wenn Wirtschaftspolitik, Steuerpolitik, und Außenpolitik in den Händen von zwölf nationalen Regierungen bleiben. "Geld von der Politik zu trennen ist ein fahrlässiges Geschäft", hieß es kürzlich in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung, "weil die Geschichte lehrt, dass eine von Nationen gemeinsam genutzte Währung zerbricht, wenn eine politische Krise die Staaten auseinander oder gar gegeneinander treibt."[17]

Die Unfähigkeit der europäischen Regierungen, eine gemeinsame Antwort auf den Afghanistankrieg zu geben, hat, ebenso wie der kürzliche Rücktritt des italienischen Außenministers Renato Ruggiero wegen abschätziger Bemerkungen seiner Kabinettskollegen über den Euro, in europäischen Geschäftskreisen die Alarmglocken läuten lassen. Die Gefahr einer Zersplitterung und Balkanisierung Europas zeichnet sich deutlich am Horizont ab. Dabei besteht nicht nur die Gefahr, dass die alten nationalen Gegensätze wieder aufleben. Mit dem Auftauchen von regionalistischen Bewegungen wie der italienischen Lega Nord, Jörg Haiders Freiheitlichen in Österreich und anderen ist auch ein Aufbrechen entlang regionaler Linien möglich.

Hinzu kommt, dass alle ökonomischen Experten übereinstimmen, dass der Euro nur Erfolg haben kann, wenn Sozialleistungen, Renten und Sozialhilfe drastisch reduziert und auf amerikanisches Niveau - d.h. nahe Null - gebracht werden. Sie vertreten die Auffassung, dass der Anstieg des Dollars gegenüber dem Euro vor allem auf die massiven Haushaltskürzungen zurückzuführen ist, die in den Vereinigten Staaten während der letzten beiden Jahrzehnte verwirklicht wurden. Die Staatsausgaben in den USA betragen weniger als 30% des Bruttosozialprodukts, verglichen mit 46% des Bruttosozialprodukts in Europa. Die Verwirklichung derartiger Kürzungen in Europa bei einer Arbeitslosenrate über 10% und angesichts deutlicher Anzeichen einer anhaltenden Rezession wird Millionen Menschen betreffen und eine gigantische soziale Explosion hervorrufen.

All diese Probleme werden durch die geplante Osterweiterung der EU weiter verschärft. Nach dem gegenwärtigen Stand der Pläne werden sich bis 2004 zehn neue Mitglieder der EU anschließen. Dabei handelt es sich größtenteils um ehemalige stalinistische, völlig verarmte Staaten in Osteuropa. In einigen Fällen beträgt der Lebensstandard nur ein Zehntel des westeuropäischen. Die Zulassungsbedingungen zur EU treiben den Lebensstandard weiter nach unten und ruinieren Millionen von Kleinbauern, kleinen Geschäftsleuten und Arbeitern in Betrieben, die auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig sind.

In den führenden Kreisen Europas und insbesondere Deutschland herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass die Osterweiterung stattfinden muss. Für sie handelt es sich um eine strategische Frage. Würde Osteuropa sich selbst überlassen, könnte es unter amerikanischen oder erneut unter russischen Einfluss fallen. Es könnte zerbrechen wie Jugoslawien und zu einem "Sicherheitsproblem" werden.

Aber Europa ist wenig darauf vorbereitet, einen derart massiven Neuerwerb zu verdauen. Wie die Erfahrung mit der ehemaligen DDR, wo die Voraussetzungen wesentlich besser waren, gezeigt hat, ist das kapitalistische Europa nicht fähig, derartige Staaten zu integrieren und ihre Probleme zu lösen. Zwölf Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist die Arbeitslosigkeit im Osten immer noch doppelt so hoch wie im Westen. Ganze Landstriche sind vereinsamt, weil Hunderttausende weggezogen sind, um im Westen eine bessere Arbeit zu finden.

Die Osterweiterung der EU erzeugt aber nicht nur eine soziale Katastrophe im Osten, sie verschärft auch die sozialen Spannungen im Westen. Der Eintritt von Millionen relativ gut ausgebildeten, aber schlecht bezahlten Arbeitern in die EU wird als Hebel dienen, die bestehenden Löhne und Arbeitsbedingungen weiter nach unten zu treiben.

Auf Verwaltungsebene gilt eine Reform der europäischen Institutionen als Voraussetzung für ein Funktionieren der Union, wenn sie sich von 15 auf 25 Mitglieder ausdehnt. Aber hier gibt es bisher kaum Fortschritte. Sie wird durch die Rivalität zwischen Großbritannien, Deutschland und Frankreich und die Rivalität zwischen großen und kleinen Mitgliedern verzögert.

Auf ökonomischer Ebene wird die EU durch die Osterweiterung zahlungsunfähig, wenn das gegenwärtige Niveau der Subventionen an Bauern und arme Regionen aufrecht erhalten wird. Wird es dagegen verringet, so erzeugt dies zusätzliche soziale Spannungen und weitere Konflikt zwischen den gegenwärtigen Mitgliedern.

Die wichtigste Vorbereitung der europäischen Regierungen auf die unvermeidbaren sozialen Erschütterungen besteht in einem massiven Ausbau der repressiven Staatsmaschinerie. Ihre Reaktion auf die Ereignisse vom 11. September muss in diesem Zusammenhang verstanden werden. Obwohl es in Europa keine vergleichbaren Terroranschläge gab, sind sie dem Vorbild der Bush-Regierung gefolgt und haben massive Angriffe auf demokratische Rechte durchgeführt.

Neue sogenannte Anti-Terror-Gesetze sind im Eiltempo durch die meisten europäischen Parlamente geschleust worden, alle nach demselben Muster: Polizei und Geheimdienste erhalten neue Vollmachten, während die Bürgerrechte - insbesondere die von Ausländern - massiv beschnitten werden. In Deutschland z.B. wurde die strikte Trennung von Polizei und Geheimdienst, die als Lehre aus den Erfahrungen mit Hitlers Geheimer Staatspolizei, der Gestapo, in der Verfassung verankert worden war, so gut wie abgeschafft. Es ist offensichtlich, dass sich diese Maßnahmen weniger gegen einen möglichen Terrorakt eines Individuums oder einer Organisation, als gegen die Entwicklung einer gesellschaftlichen oder politischen Massenbewegung wenden, die die gegenwärtigen Herrschaftsformen gefährden könnte.

Politische Orientierung

Es steht außer Frage, dass sich der Widerstand gegen Militarismus und Krieg, gegen die Angriffe auf demokratische Rechte und den Lebensstandard überall in Europa in Massenbewegungen äußern wird. Wir müssen bei all diesen Fragen an vorderster Stelle stehen. Es ist jedoch unmöglich, losgelöst von der Strategie der sozialistischen Weltrevolution, losgelöst von der internationalistischen Perspektive des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, einen konsequenten Kampf gegen Krieg und zur Verteidigung von sozialen und demokratischen Rechten zu führen.

Wer den europäischen Kapitalismus gegen die amerikanische Hegemonie verteidigt, weil ersterer sozialer, kultivierter, vernünftiger sei, wer (in der Terminologie der Anti-Globalisierungs-Bewegung) die "soziale Marktwirtschaft" gegen die "neoliberale Globalisierung" verteidigt, unterliegt einer unausweichlichen Logik. Es ist unmöglich, sich im Kampf gegen Amerika an die Seite der europäischen Bourgeoisie zu stellen und ihr entgegen zu treten, wenn sie die Arbeiterklasse im eigenen Land angreift. Eine gesellschaftliche oder politische Massenbewegung in Europa wird das europäische Kapital in seinem Wettkampf mit dem amerikanischen unweigerlich schwächen. Der Kampf gegen die amerikanische Hegemonie erfordert daher, dass solche Bewegungen neutralisiert oder unterdrückt werden, er erfordert eine Politik des "Burgfriedens", wie es die deutschen Sozialdemokraten während des Ersten Weltkriegs nannten.

Wir lehnen den groben Anti-Amerikanismus der kleinbürgerlichen Radikalen ab. Unser Standpunkt ist, dass es zwei Amerikas (wie auch zwei Europas) gibt: Das Amerika der Bourgeoisie und das Amerika der Arbeiterklasse. Wir stützen unseren Kampf gegen den US-Imperialismus auf die internationale Arbeiterklasse und nicht auf Teile der europäischen Bourgeoisie und ihre kleinbürgerlichen Anhänger. Mit der Verschärfung des Konflikts zwischen Europa und Amerika wird diese Frage unweigerlich in den Vordergrund treten und zur Scheidelinie zwischen Sozialismus und jeder Form von Opportunismus werden.

Die tiefgehenden Veränderungen des letzten Jahrzehnts haben bereits ihre Spuren in der politischen Landschaft Europas hinterlassen.

Alle alten etablierten Parteien befinden sich in einer tiefen Krise. Es begann mit dem Zerfall der traditionellen bürgerlichen Rechten: Den italienischen Christdemokraten, die buchstäblich über Nacht von der politischen Bühne verschwanden; den französischen Gaullisten und Liberalen, die eine Serie von Konflikten und Spaltungen durchmachten; den britischen Tories, die in den beiden vergangenen Wahlen atomisiert wurden; und schließlich der deutschen Christdemokraten, die nach dem Machtverlust von 1998 durch einen Finanzskandal und innere Differenzen geschwächt wurden. Wichtigster Grund für diese Krise ist die Polarisierung der Mittelklassen, auf die sich diese Parteien traditionell gestützt haben. Es ist nicht länger möglich, eine Politik im Interesse der Wirtschaft mit Zugeständnissen an breite Teile der Mittelschichten und Konzessionen an die Arbeiterklasse zu verbinden.

Die Krise der konservativen Parteien hat zu einem erneuten Aufstieg der Sozialdemokratie geführt. Ende 1998 befanden sich in allen wichtigen europäischen Ländern mit Ausnahme Spaniens Sozialdemokraten an der Regierung. Zum Teil erhielten sie die Unterstützung von Arbeitern, die sie als kleineres Übel betrachteten, zum Teil gelang es ihnen, Teile der Mittelklassen zu gewinnen, die den Konservativen den Rücken zugewandt hatten. Das stand hinter Blairs Parole "The Third Way", die von Schröder mit "Neue Mitte" ins Deutsche übersetzt wurde.

Blair und Schröder übersahen, dass die "Mitte", auf die sie sich stützten, im raschen Zerfall begriffen war. Kaum befanden sich die Sozialdemokraten an der Macht, wurde deutlich, dass sie keine Alternative zu den Konservativen darstellten, und ihr Zerfall begann. In Italien benötigten die Ex-Stalinisten, die fünfzig Jahre gebraucht hatten um an die Macht zu kommen, nur drei um sie wieder zu verlieren. In Frankreich besteht inzwischen eine reale Chance, dass der Gaullist Jacques Chirac die Präsidentenwahlen im April gewinnen wird. Und in Deutschland, wo noch vor wenigen Wochen eine zweite Amtszeit Schröders so gut wie feststand, gilt die Bundestagswahl vom kommenden Herbst inzwischen wieder als offen.

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass der rasante Übergang der deutschen Grünen ins Lager des imperialistischen Militarismus objektive Gründe hat. Die Grünen sind eine nahezu chemisch reine Mittelklassepartei, die aus der 68er Protestbewegung hervorgegangen ist. Das ungeheure Tempo, mit dem sie alle ihre früheren Standpunkte aufgegeben haben, ist ein Maß für die Tiefe und das Ausmaß der explosiven Gegensätze, die die Gesellschaft zerreißen. Sie lassen keinen Raum mehr für eine Position zwischen den Lagern.

Während der vergangenen fünf Jahre gab es immer wieder Versuche, den Leerraum, der durch den Zerfall der traditionellen Parteien entstanden ist, durch extrem rechte Gruppierungen aufzufüllen. In der Regel verbinden diese Gruppierungen demagogische soziale Versprechen mit Fremdenhass, Law-and-order-Parolen und einem liberalen Wirtschaftsprogramm im Interesse der parasitärsten Teile des Finanzkapitals. In einigen Fällen waren sie in der Lage, die allgemeine Unzufriedenheit auszunutzen und eine beträchtliche Anzahl Stimmen zu gewinnen. Aber kaum traten sie in eine Regierung ein, erwiesen sie sich in der Regel als äußerst instabil und zerfielen unter Korruptionsskandalen oder - wie Haiders Freiheitliche in Österreich - Auseinandersetzungen zwischen jenen, die das liberale Wirtschaftsprogramm umsetzen, und jenen, die den populistischen Appell an die Massen beibehalten wollen.

Das hat sie nicht daran gehindert, neue Versuche zu unternehmen und beträchtliche Unterstützung unter breiteren Teilen der herrschenden Elite zu gewinnen. Die Machtübernahme durch die Regierung Berlusconi mit der Unterstützung von ansehnlichen Teilen der italienischen Bourgeoisie ist sicherlich ein qualitativ neuer Schritt in diese Richtung. Berlusconi stützt sich auf extrem rechte Kräfte: Die faschistische Nationale Allianz und die separatistische, extrem ausländerfeindliche Lega Nord. Berlusconis eigene Partei Forza Italia ist vorrangig ein Instrument zur Förderung seiner eigenen Geschäftsinteressen. Ihr Motto lautet, wie ein Zeitungskommentar ironisch bemerkte: "Alle für einen, einer für sich". Das äußerst enge Interessenspektrum, das diese Regierung vertritt, und der übermäßige Einfluss, den extrem rechte Kräfte auf sie ausüben, erinnern stark an die Bush-Administration.

Die Regierung Berlusconi macht die Gefahr einer erneuten Zersplitterung Europas deutlich. Sie ist zu einem der wichtigsten Instabilitätsfaktoren geworden, wie die jüngsten Auseinandersetzungen über einen gesamteuropäischen Haftbefehl, Berlusconis Tiraden gegen den Islam, Angriffe von Regierungsmitgliedern auf den Euro und der Rücktritt von Außenminister Renato Ruggiero gezeigt haben. Auch in Österreich versuchen Haiders Freiheitliche mit einem Referendum, das die Stillegung des Atomkraftwerks Temelin zur Voraussetzung für den tschechischen Betritt zur EU macht, die berechtigten Ängste vor einer nuklearen Katastrophe zur Blockade der EU-Osterweiterung zu instrumentalisieren.

In Deutschland deutet die Ernennung Edmund Stoibers zum offiziellen Herausforderer Gerhard Schröders in der kommenden Bundestagswahl in dieselbe Richtung. Stoibers Ernennung war ein langer Konflikt mit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel vorausgegangen. Merkel, die auch von Ex-Kanzler Helmut Kohl unterstützt wird, tritt für eine traditionellere Politik der Mäßigung und des Kompromisses ein als Stoiber, der am rechten Rand der Union steht und einen Ruf als Law-and-order-Mann besitzt. Stoiber hat öffentlich die Einbeziehung von Haiders Freiheitlichen in die österreichische Regierung verteidigt, als diese von der EU boykottiert wurde, und unterhält enge Kontakte zu Berlusconis Forza Italia. Er gehört zu den Befürwortern eines "Europas der Regionen", d.h. einer Balkanisierung Europas entlang regionaler Grenzen.

Der wachsende Einfluss dieser rechten Kräfte ist weniger das Ergebnis tatsächlicher Unterstützung aus der Bevölkerung, als des Bankrotts ihrer Vorgänger - der Sozialdemokraten, Grünen, Ex-Stalinisten usw. Diese haben sich als völlig unfähig erwiesen, auch nur die elementarsten demokratischen Rechte und sozialen Errungenschaften zu verteidigen. Sie haben den Rechten den Weg geebnet, indem sie selbst Fremdenhass und Law-and-order-Stimmungen schüren. Die Verteidigung demokratischer und sozialer Rechte ist eine Aufgabe, die nur die Arbeiterklasse lösen kann.

Wohin geht Europa?

Zusammengefasst: Die Zuspitzung der Gegensätze zwischen den imperialistischen Mächten, die den Hintergrund des gegenwärtigen Krieges in Afghanistan bilden, verschärft alle wirtschaftlichen und sozialen Konflikte innerhalb Europas. Der wachsende Konflikt mit Amerika führt zum Anwachsen von Militarismus und Autoritarismus, beschleunigt die politischen Entwicklungen und wird soziale Explosionen großen Ausmaßes hervorrufen - er revolutioniert Europa, um Trotzkis Worte zu gebrauchen.

Worin besteht unsere Antwort? Wie bereiten wir uns darauf vor?

Wie bereits meine Vorredner betont haben, geht es nicht um eine impressionistische agitatorische Antwort, sondern um eine Frage der politischen Orientierung.

Es gehört zu den Kennzeichen des Aktivismus - der auch in unserer Bewegung vor der Spaltung von 1985/86 von der WRP [18] gefördert wurde -, dass er jedes politische Ereignis nach seinem agitatorischen Potential beurteilt: "Wie kann ich es benutzen, um die Arbeiterklasse zu mobilisieren? Wie kann ich es einsetzen, um Aktivitäten in Gang zu setzen, eine Demonstration zu organisieren?" Das ist die Haltung von revisionistischen Gruppen wie Militant oder den Staatskapitalisten. Um "etwas zu tun" verbünden sie sich mit Bewegungen wie Attac, mit linken Stalinisten, Sozialdemokraten, abtrünnigen Grünen und Gewerkschaftsbürokraten. Im Namen der "Einheit" heißen sie jeden willkommen, der die amerikanische Kriegspolitik kritisiert. Das führt sie direkt ins Lager des europäischen Imperialismus.

Wir begreifen den Krieg als Ergebnis der historischen Widersprüche des kapitalistischen Systems in seiner Gesamtheit. Unsere Antwort auf die wachsenden Konflikte zwischen Europa und Amerika ist die Einheit der europäischen und amerikanischen Arbeiterklasse. Wir passen uns auch nicht an jene an, die die Europäische Union im Namen der nationalen Souveränität ablehnen, oder an jene Gewerkschaftsbürokraten, die die Osterweiterung im Namen der Verteidigung westlicher Lebensstandrads zurückweisen. Unsere Antwort auf die von Wirtschafts- und Großmachtinteressen dominierte Europäische Union sind die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

Anmerkungen

  1. C. Fred Bergsten (Director of the Institute for International Economics), "America and Europe: Clash of the Titans", Foreign Affairs, March/April 1999
  2. Hans-Joachim Spranger, "Der Euro und die transatlantischen Beziehungen - Eine geo-ökonomische Perspektive", International Politics and Society 2/1999
  3. Zitiert nach Werner Link, "Europäische Sicherheitspolitik", in Merkur Heft 9/10, 54. Jahrgang, Sept./Okt. 2000, S. 919
  4. Ernst-Otto Czempiel, "Nicht von gleich zu gleich?", in Merkur Heft 9/10, 54. Jahrgang, Sept./Okt. 2000, S. 905-906
  5. ebd. S. 908
  6. Das zwölfte Mitglied, Griechenland, kam später hinzu.
  7. Ernst-Otto Czempiel, op.cit. S. 909
  8. Diese Zahlen wurden noch vor den jüngsten Erhöhungen des US-Militärhaushalts zusammengestellt. Danach werden die USA im nächsten Jahr (2003) 379 Milliarden Dollar für militärische Zwecke ausgeben, die restliche Nato nur rund ein Drittel davon: 140 Milliarden Dollar. Über den größten Militärhaushalt in Europa verfügt Großbritannien mit 34 Milliarden (d.h. weniger als ein Zehntel der USA), gefolgt von Frankreich mit 25 und Deutschland mit 21 Milliarden Dollar.
  9. Erklärung von La Rochelle, 22. Mai 1992
  10. Zitiert nach Werner Link, op.cit. S. 922
  11. Ernst-Otto Czempiel, op.cit. S. 909
  12. "Machtvoll zur Welt sprechen", Der Spiegel 1/2002
  13. Condoleezza Rice, "Life after the Cold War", Foreign Affairs January/February 2000 (volume 79, number 1)
  14. Lenin, Der Imperialismus..., Werke Band 22, Kap. IX, S.290
  15. Leo Trotzki, Europa und Amerika, Essen 2001, S. 245
  16. Ebd. S. 227
  17. Stefan Kornelius, "Europas Scheinwelt", Süddeutsche Zeitung 5. Januar 2000
  18. Workers Revolutionary Party - ehemalige britische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, die 1985/86 von der Internationale brach und sich vom Trotzkismus distanzierte.

Siehe auch:

Europäische Außenminister greifen Bushs Politik an (14. Februar 2002)

Die deutsche Presse wird anti-amerikanisch ( 7. März 2002)

Noch einmal zum Anti-Amerikanismus ( 19. März 2002)

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