Ukraine: Oberstes Gericht ordnet Wiederholung der Stichwahl an

Nach fünftägigen Verhandlungen hat das Oberste Gericht der Ukraine am Freitag Abend sein mit Spannung erwartetes Urteil über die umstrittene Präsidentenwahl gefällt. Es erklärt die Stichwahl für ungültig und ordnet deren Wiederholung an. Als Wahltermin schlägt das Gericht den 26. Dezember vor. Den Antrag, Oppositionsführer Wiktor Juschtschenko aufgrund seines knappen Vorsprungs im ersten Wahlgang direkt zum Wahlsieger zu erklären, lehnte das Gericht ab.

Mit seinem Urteil hat das Gericht die Forderungen der Opposition weitgehend erfüllt, die eine möglichst baldige Wiederholung der Stichwahl zwischen Juschtschenko und Regierungschef Wiktor Janukowitsch verlangte. Diese Forderung wurde von den USA und der Europäischen Union massiv unterstützt.

Das Regierungslager hatte dagegen auf eine Wiederholung der gesamten Wahl gedrängt, nachdem sich abzeichnete, dass Janukowitsch keine Chance mehr hatte, vom Gericht als Wahlsieger bestätigt zu werden. Dies hätte dem Regierungslager die Möglichkeit gegeben, den diskreditierten Janukowitsch durch einen populäreren Kandidaten zu ersetzen und Zeit zu gewinnen.

Präsident Leonid Kutschma war am Tag vor der Urteilsverkündung eigens zu seinem Amtskollegen nach Moskau geflogen. Dort wandte er sich vor den Fernsehkameras gemeinsam mit Präsident Wladimir Putin in scharfen Worten gegen eine Wiederholung der Stichwahl. Putin sagte, die von der ukrainischen Opposition geforderte Wiederholung führe zu nichts, "sonst könnte man noch drei, vier oder 25 Mal abstimmen, bis eine Seite das Ergebnis hat, das ihr passt".

Die russische Duma verabschiedete anschließend mit großer Mehrheit eine Resolution, die die Europäische Union, das europäische Parlament und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beschuldigte, Unruhen mit internationalen Auswirkungen zu schüren. Die Einmischung dieser Organisationen könne "zu massiver Unordnung, zu Chaos und zur Spaltung des Landes führen", und dies werde "nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Russland, ganz Europa und die internationale Gemeinschaft als Ganze höchst negative Folgen haben," warnte die Duma.

Das Oberste Gericht der Ukraine war bisher, gelinde ausgedrückt, nicht gerade für seine politische Unabhängigkeit bekannt. Die meisten Richter verdanken ihre Stellung dem seit zehn Jahren amtierenden Präsidenten Kutschma und haben seinem Regime als treue Stützen gedient. Dass sie sich nun gegen ihren Meister wenden, ist ein Ergebnis der Gewichtsverschiebung, die während der Auseinandersetzungen der vergangenen zehn Tage in der herrschenden Elite stattgefunden hat.

Nachdem US-Außenminister Colin Powell und zahlreiche europäische Regierungen unmissverständlich klar gemacht hatten, dass sie das Urteil der Wahlkommission zugunsten von Janukowitsch nicht akzeptieren würden, wechselten zahlreiche Stützen des Regimes die Seite - Militärs, Geheimdienstler, hohe Beamte, einschließlich Notenbankchef Sergej Tigipko, der Janukowitschs Wahlkampagne geleitet hatte.

Innerhalb des Regierungslagers kam es zu Differenzen. Nachdem die Hochburg von Janukowitsch, die Donbassregion im Osten des Landes, mit der Abspaltung gedroht hatte, falls Juschtschenko Präsident würde, setzte sich Präsident Kutschma von seinem bisherigen Favoriten ab. Kutschma lehnte eine Spaltung des Landes strikt ab. Seine Basis liegt in der Industriestadt Dnjepropetrowsk, deren Oligarchen in Konkurrenz zu denen des Donbass stehen. Er sprach sich ebenfalls für Neuwahlen aus, allerdings unter Bedingungen, die ihm Zeit gelassen hätten, seine Kräfte neu zu organisieren.

Neben Powell hatten sich auch EU-Kommissionspräsident Barroso und EU-Ratspräsident Peter Balkenende eindeutig für die Opposition ausgesprochen. Die EU schickte eine Vermittlerdelegation nach Kiew, der neben ihrem außenpolitischen Vertreter Javier Solana die Präsidenten Polens und Litauens, Aleksander Kwasniewski und Valdas Adamkus, angehörten - zwei der prominentesten Befürworter einer Anlehnung an die USA.

Auch der deutsche Außenminister sprach sich öffentlich für eine Wiederholung der Stichwahl aus. Und am Vorabend der Urteilsverkündung durch das Oberste Gericht forderte das Europa-Parlament in einer Resolution, die Stichwahl noch in diesem Jahr unter Beteiligung internationaler Bebachter zu wiederholen. Erstmals lockte Brüssel auch mit einem möglichen Beitritt der Ukraine zur EU, was es bisher stets ausgeschlossen hatte.

Die Demonstranten, die in Kiew tagelang in eisiger Kälte ausgehalten und Juschtschenko unterstützt hatten, feierten das Gerichtsurteil als "Sieg der Demokratie". Doch sofern sie ernsthaft an eine demokratische Entwicklung glauben, dürfte es bald zu einem bösen Erwachen kommen. Das Programm, das Juschtschenko vertritt - eine radikale "Reform" der Wirtschaft nach neoliberalen Grundsätzen - bietet keine Grundlage für eine demokratische Entwicklung der ukrainischen Gesellschaft.

In Polen, Ungarn und anderen osteuropäischen Ländern hat eine derartige Politik nicht nur zur Zerstörung der Lebensgrundlage von Millionen Arbeitern und Bauern geführt, sie hatte auch ein rasches Abflauen des demokratischen Elans zur Folge - die Wahlbeteiligung ist in diesen Ländern minimal, die politische Lage instabil und von der allgemeinen Krise profitieren ultrarechte Parteien. Es ist nicht einmal zu erwarten, dass Juschtschenko ernsthaft gegen die Oligarchenclans vorgehen wird, die die Wirtschaft der Ukraine wie eine Krake dominieren - schließlich hat er ihren Aufstieg als Notenbankchef selbst mitverantwortet.

Die Hoffung auf demokratische Verhältnisse wird sich weitgehend als Illusion erweisen. Sehr real sind dagegen die Auswirkungen auf das europäische Kräfteverhältnis, die die Machtübernahme eines prowestlichen Regimes in der Ukraine nach sich zieht - mit potentiell explosiven Auswirkungen.

Die Gouverneure der Donbassregion hatten bereits vor der Urteilverkündung eine Abstimmung über Autonomieforderungen im Januar abgekündigt, und es ist nicht sicher, ob sie diese Drohung im Falle eines Wahlsiegs Juschtschenkos zurücknehmen werden. Auch der ungelöste Konflikt um die abtrünnige Region Transnistrien, die unter russischem Schutz steht, könnte wieder akut werden.

Russlands Präsident Putin hat auf die Entscheidung des Gerichts mit Erbitterung reagiert. Er richtete heftige Anschuldigungen gegen die USA und die Regierungen Europas, denen er die Unterstützung tschetschenischer Terroristen und eine "notorische Doppelmoral" vorwarf. Anlässlich eines Besuchs in Neu Delhi sagte er der indischen Zeitung The Hindu, Europa und die USA beherbergten "Terroristen-Abgesandte". Auch die US-Besatzung des Irak griff Putin ungewohnt scharf an. Wie einst Afghanistan sei das Land zur "bedeutenden Brutstätte" für Terrorismus geworden, in dem "Tausende zukünftige Terroristen von Terrornetzwerken rekrutiert werden", sagte er.

Nachdem Washington nach demselben Muster, wie es jetzt in Kiew Anwendung fand, bereits einen Regimewechsel in Belgrad und in Tiflis herbeigeführt und Truppen in ehemaligen Sowjetrepubliken Zentralasiens stationiert hatte, fühlt sich Moskau zunehmend unter Druck. Putin hatte sich in den vergangenen Jahren intensiv darum bemüht, die selbständigen ehemaligen Sowjetrepubliken wieder enger an Russland zu binden. Weißrussland, die Ukraine und Kasachstan standen dabei im Zentrum. Mit dem anstehenden Machtwechsel in Kiew droht dieser Kurs zu scheitern.

Zbigniew Brzezinski, einer der führenden amerikanischen Geostrategen, der bei den jüngsten Ereignissen in Kiew eine höchst aktive Rolle spielte, hatte schon vor sieben Jahren auf die entscheidende Rolle der Ukraine für die außenpolitische Bedeutung Russlands hingewiesen. "Selbst ohne die baltischen Staaten und Polen könnte ein Russland, dass die Kontrolle über die Ukraine behielte, noch immer die Führung eines selbstbewussten eurasischen Reiches anstreben," schrieb er in seinem, Buch "Die einzige Weltmacht". "Aber ohne die Ukraine mit ihren 52 Millionen slawischen Brüdern und Schwestern droht jeder Versuch Moskaus, das eurasische Reich wieder aufzubauen, Russland in langwierige Konflikte mit den national und religiös motivierten Nichtslawen zu verwickeln, wobei der Krieg mit Tschetschenien vielleicht nur ein Vorgeschmack war."

Noch ist nicht klar, wie Moskau auf die jüngste Entwicklung in der Ukraine reagieren wird. Verschärfte internationale Spannungen und Konflikte bis hin zu gewaltsamen Auseinandersetzungen dürften aber vorprogrammiert sein. Der Regimewechsel in Kiew, der nach dem Urteil des Obersten Gerichts höchst wahrscheinlich ist, wird auch den Appetit der Bush-Administration nach weiteren außenpolitischen Abenteuern steigern. Als nächstes könnte dies der Iran zu spüren bekommen.

Die Bevölkerung der Ukraine, Russlands, Europas und Amerikas kann sich gegen diese drohenden Gefahren nicht zur Wehr setzen, indem sie das eine oder das andere imperialistische Lager unterstützt. Notwendig ist eine unabhängige Politik, die die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms zusammenschließt.

Siehe auch:
Wie internationale Institutionen die ukrainische Opposition beeinflussen
(2. Dezember 2004)
Machtkampf in der Ukraine spitzt sich zu
( 1. Dezember 2004)
Wofür stehen Juschtschenko und Janukowitsch?
( 1. Dezember 2004)
Machtkampf in der Ukraine verschärft internationale Spannungen
( 25. November 2004)
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