Niederlande: Kampagne gegen Ausländer nach dem Mord an van Gogh

In den Niederlanden spitzen sich die Spannungen nach dem Mord an dem Regisseur und Publizisten Theo van Gogh in ungeheurem Ausmaß zu. Politiker, Medien und Teile der Intelligenz schüren dabei gezielt Fremdenfeindlichkeit.

Van Gogh war am 2. November von einem Niederländer marokkanischer Abstammung, bei dem es sich offenbar um einen islamischen Fundamentalisten handelte, in Amsterdam brutal ermordet worden. Nun wird im Namen des "Kampfs gegen den Terror" eine regelrechte Hetze gegen die gesamte muslimische Minderheit des Landes betrieben. Unter den rund 16 Millionen Einwohnern der Niederlande leben etwa 900.000 Muslime, von denen etwa ein Drittel aus Marokko stammt. Nicht wenige von ihnen leben schon in der dritten Generation in Holland.

Die hysterische Reaktion auf den Mord an van Gogh lässt eine zu tiefst gespaltene Gesellschaft sichtbar werden. Politiker und Journalisten rufen zum "Ende der Toleranz" auf und stempeln die muslimische Minderheit zum Sündenbock für die wachsenden sozialen Spannungen, die die Gesellschaft zu sprengen drohen.

Am 5. November, drei Tage nach dem Attentat auf van Gogh, erklärte Vize-Premierminister und Finanzminister Gerrit Zalm, ein Mitglied der rechtsliberalen Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD), dem islamischen Fundamentalismus im Namen der Koalitionsregierung "den Krieg". "Mit Stumpf und Stiel" werde man diesen "ausrotten", Geld spiele dabei keine Rolle, sagte Zalm. Öffentliche Kritik erntete er deshalb nicht; vielmehr wurde der Koalition aus christdemokratischem CDA, rechtsliberaler VVD und Demokraten 66 vorgeworfen, bisher nicht hart genug gewesen zu sein.

Der parteilose Parlamentsabgeordnete Geert Wilders forderte die Verabschiedung von Gesetzen, die es den Behörden erlauben, alle unter Beobachtung stehenden Muslime zu verhaften und ohne bürokratische Hindernisse auszuweisen. Wilders - ein bekannter Islam-Hasser - ist erst vor kurzem mit der Begründung aus der VVD ausgetreten, sie stelle sich nicht konsequent gegen einen EU-Beitritt der Türkei. Im vergangenen Jahr hatte er ein fünfjähriges Moratorium für Einwanderer aus der Türkei und Marokko gefordert.

Wilders hatte bereits vor dem Attentat auf van Gogh angekündigt, er wolle eine neue rechte, antiislamische Partei gründen. Er zielt damit auf den rechten Bodensatz der Gesellschaft, der sich durch die Haltung der Regierung ermutigt fühlt und seiner Fremdenfeindlichkeit in den letzten Tagen durch Brandanschläge auf Moscheen und islamische Schulen Ausdruck verlieh.

Auch die rechtspopulistische Liste Pim Fortuyn (LPF) greift zu den übelsten Methoden, um die antiislamische Hysterie anzuheizen. Am Donnerstag vergangener Woche teilte ein Justizsprecher mit, dass der an den LPF-Vorsitzenden Sergej Moleveld gerichtete Drohbrief einer "islamischen Terrorgruppe" eine Fälschung sei. Moleveld hatte diesen "Drohbrief" in den Tagen zuvor medienwirksam eingesetzt. Schließlich gab er gegenüber der Staatsanwaltschaft in Rotterdam zu, dass er das Schreiben selbst verfasst und an den LPF-Abgeordneten Mat Herben sowie an sich selbst geschickt habe.

Zwei Tage zuvor hatte die Ministerin für Ausländerfragen, Rita Verdonk (VVD), auf der Trauerfeier für van Gogh unter Hinweis auf derartige Drohbriefe ein "Ende der Toleranz" gefordert und erklärt: "Wir müssen gegen diese Art von terroristischen Taten gemeinsam die Fäuste ballen."

Pogromstimmung

Die pauschalen Anschuldigungen, mit denen die Regierung auf den Mord an van Gogh reagiert, hat gewaltbereite Rechtsradikale zu Gewalttaten ermutigt. Seit Finanzminister Zalms dem islamischen Fundamentalismus den "Krieg" erklärt hat, rollt eine pogromartige Welle von Brand- und Bombenanschläge über das Land, die wahllos Einrichtungen der muslimischen Gemeinde trifft.

Bisher gab es rund zwanzig solche Angriffe auf Moscheen und islamische Schulen - u.a. in Eindhoven, Huizen, Breda, Heerrenveen und Rotterdam - sowie einen Brandanschlag auf das marokkanische Konsulat. Es ist dem Zufall zu verdanken, dass bei diesen Anschlägen bisher keine Opfer zu beklagen waren.

In Uden, einer Kleinstadt in Brabant, brannte in der Nacht vom 9. auf den 10. November eine islamische Grundschule bis auf die Grundmauern nieder. Die Täter hatten das Gebäude vorher mit Parolen wie "R.I.P. Theo" und "White Power" beschmiert.

Bei der Verfolgung dieser rassistischen Straftaten legen die Sicherheitsbehörden bedeutend weniger Energie an den Tag, als bei der Verfolgung und Verhaftung mutmaßlicher islamischer Fundamentalisten. In Uden hatte beispielsweise vor dem Anschlag auf die dortige muslimische Grundschule eine Gruppe aus Vertretern der städtischen Behörden und der Polizei getagt und beschlossen, wegen Personalmangels keine verstärkten Sicherheitsmaßnahmen für gefährdete Objekte der islamischen Minderheit zu treffen.

Teile der Bevölkerung reagierten ganz anders. Zeitungen haben gemeldet, dass überall im Land Komitees aus Muslimen und Nicht-Muslimen den nächtlichen Schutz islamischer Gebäude übernommen haben.

Allerdings häufen sich auch Meldungen über Gegengewalt. Auf mehrere Kirchen des Landes wurden ebenfalls Brandanschläge verübt. Die islamistischen Tawhid-Brigaden drohten, das Land würde "einen hohen Preis zahlen", wenn der Staat die Anschläge auf muslimische Einrichtungen nicht unterbinde. Es droht eine Eskalation der Gewalt, die in Zukunft nicht mehr nur Gebäude der jeweils anderen Religionsgemeinschaft treffen könnte.

Der Staat reagiert darauf mit verschärften Repressionsmaßnahmen, und indem er demonstrativ Härte und Entschlossenheit gegen mögliche islamische Extremisten demonstriert.

Am Mittwoch, den 10. November, führte die Staatsanwaltschaft in Den Haag eine Festnahmeaktion durch. Laut Generalstaatsanwalt Haan Moraal war diese Aktion im überwiegend von Einwanderern bewohnten Stadtviertel Laak Bestandteil "andauernder Terrorismus-Ermittlungen".

Als die Spezialeinheiten der Polizei auf Widerstand stießen, verwandelte sich der Stadtteil in einen Kriegsschauplatz. Das gesamte Gebiet wurde von der Polizei abgeriegelt, Personen die den Bezirk verlassen wollten, mussten sich ausweisen. Wer nicht nachweisen konnte, dass er Bewohner des Stadtteils war, wurde in Gewahrsam genommen und verhört. Sonderkommandos des Militärs und Panzerwagen zogen auf, das Gebiet wurde von Hubschraubern überwacht und der Luftraum in einem Umkreis von sieben Kilometern gesperrt. Ein Krisenstab der Sicherheitskräfte auf höchster Ebene koordinierte den Einsatz. Später wurde die Verhaftung von zwei 19 und 22 Jahre alten Niederländern bekannt gegeben.

Auf allen staatlichen Ebenen wird die Angst vor "islamistischer Gewalt" geschürt. Hieß es aus Geheimdienstkreisen bisher nur, die Niederlande seien ein mögliches "Ziel terroristischer Angriffe", veröffentlichte der niederländische Geheimdienst AVID nun einen Bericht, der Holland als "wichtiges Rekrutierungsgebiet neuer Kämpfer" für das Terrornetzwerk Al Qaeda bezeichnet. Unter den moslemischen Immigranten der zweiten Generation würden in Moscheen, Cafes oder Gefängnissen Dutzende von "entwurzelten Jugendlichen" angeworben, heißt es in dem Bericht. "Die Rekrutierung dieser Jugendlichen zeigt, dass eine gewalttätige radikal-islamische (islamistische) Strömung heimlich ihre Wurzeln in die holländische Gesellschaft gräbt." Diese Strömung bilde Terrorzellen im Land, die bereit seien, "jeden Moment" zuzuschlagen.

Auch in Deutschland wurde diese Argumentation aufgegriffen. Obwohl es keine direkten Verbindungen zwischen den Ereignissen in Holland und Deutschland gibt, entfesselten Politiker und Medien auch hier eine hysterische Diskussion über das "Scheitern der Integration", das "Ende der Toleranz" und die "Gefahren des Islamismus".

So forderte Baden-Württembergs Kultusministerin Annette Schavan eine Pflicht für Imame, in deutscher Sprache zu predigen. "Wir dürfen nicht weiter zulassen, dass in Moscheen in Sprachen gepredigt wird, die außerhalb der islamischen Gemeinde nicht verstanden werden", sagte die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende. Auch Staatsschützer erklärten: "Wir fürchten, dass gewaltbereite Islamisten die Vorgänge in den Niederlanden zum Anlass nehmen, auch in Deutschland zuzuschlagen", wie die Nachrichtenagentur ddp Mitte November berichtete. Und die Zeitung Die Welt erinnerte daran, dass erst vor kurzem der Präsiden des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziecke, darauf hingewiesen habe, dass islamistische Terroristen jeder Zeit in Deutschland zuschlagen könnten.

Soziale Krise

In den Niederlanden steht die angebliche Unfähigkeit vieler Muslime zur Integration im Mittelpunkt von Medienberichten und öffentlicher Diskussion. Der Schriftsteller Leon de Winter behauptete, diese Menschen seien "nicht reif, in der niederländischen Gesellschaft zu leben". Kaum thematisiert wird dagegen die Rolle der Rechtsradikalen, der christlich-fundamentalistische Hintergrund der Regierung und das Anwachsen der sozialen Krise.

In den Niederlanden existiert seit mehreren Jahren eine gut organisierte rechtsradikale Szene, die sich durch die Politik der Regierung von Jan Peter Balkenende gestärkt fühlt und immer aggressiver auftritt. Mehrere Sprecher muslimischer Gemeinden haben in den vergangenen Tagen darauf aufmerksam gemacht, dass seit Jahren Überfälle auf Moscheen und muslimische Schulen oder Gemeindehäuser stattfinden, die aber bisher immer totgeschwiegen wurden.

Ministerpräsident Balkenende entstammt einer christlich-fundamentalistischen Tradition und steht an der Spitze des erzkonservativen Christlich-Demokratischen Appell (CDA), der sich in den 60er-Jahren aus dem Zusammenschluss von drei religiösen Gruppierungen - der Katholische Volkspartei (KVP), der Anti-Revolutionären Partei (ARP) und der Christlich-Historischen Union (CHU) - bildete. "Die Ideologie der Partei basiert auf religiösen Überzeugungen", heißt es im offiziellen Dokument "welcome to the netherlands".

In den vergangenen Jahren musste die niederländische Bevölkerung einen massiven sozialen Abstieg hinnehmen. Während die Löhne stagnieren und an Kaufkraft verlieren, werden die Unternehmenssteuern gesenkt. Um die dadurch entstehenden Haushaltslöcher zu stopfen, werden Sozialleistungen drastisch gekürzt. Über ein Fünftel aller Niederländer würden ohne die noch bestehenden Sozialleistungen unter die Armutsgrenze sinken. Die jüngsten Sparprogramme der Regierung und ihre Aussagen über weitere notwendige Einsparungen machen deutlich, dass diese Leistungen nicht mehr lange Bestand haben werden.

Die Folge ist schon jetzt eine enorme soziale Polarisierung. Vor allem in den Vorstädten konzentriert sich die Armut in zunehmenden Maß. Hier liegt die Rate von Arbeitslosen und Menschen ohne Schulabschluss weit über dem landesweiten Durchschnitt.

Die Immigranten sind von der Polarisierung besonders betroffen. Während die offizielle Arbeitslosenquote bei 4,5 Prozent liegt, beträgt sie bei Immigranten 14 Prozent, bei Türken und Marokkanern über 16 Prozent. Dabei liegt die tatsächliche Arbeitslosenzahl noch wesentlich höher, denn wie in anderen Ländern auch bedienen sich die staatlichen Statistiker diverser Rechenmodelle, um bestimmte Gruppen von Menschen ohne Beschäftigung aus der Statistik heraus zu rechnen

Während die bevorzugten Wohnviertel in vielen niederländischen Großstädten zu ausländerfreien Zonen werden, bilden sich in anderen Gebieten regelrechte Gettos, die in Hoffnungslosigkeit und sozialem Elend versinken. Die ständigen Sozialkürzungen der Regierung haben gerade in diesen Gebieten eine auswegslose Situation geschaffen, die von Drogen, Prostitution und Kriminalität geprägt ist. Die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung vieler Menschen bildet in diesen Gebieten den Nährboden für religiöse Fanatiker.

Die Regierung reagiert darauf mit staatlicher Repression, was sich unter anderem in einer wachsenden Zahl von Gefängnisinsassen niederschlägt. Anfang der 1980er-Jahre gab es in den Niederlanden rund 4.000 Gefangene, bis heute stieg diese Zahl auf 16.500. Nur Großbritannien, Spanien und Portugal haben neben den osteuropäischen Staaten eine höhere Gefangenenrate. Mehr als die Hälfte der Gefangenen sind Einwanderer. Damit ist ihr Anteil an Inhaftierten weitaus größer als der Anteil der Einwanderer an der Gesamtbevölkerung.

Vor wenigen Wochen, Anfang Oktober, demonstrierten 200.000 Menschen gegen die sozialen Angriffe der Regierung. Das war die größte gewerkschaftliche Protestaktion in der Geschichte der Niederlande. Nicht wenige Ausländer beteiligten sich an dieser Kundgebung. Aber weder die Gewerkschaften noch die sozialdemokratische PvdA (Partij van de Arbeid) haben eine Antwort auf die soziale Krise. Sie arbeiten mit der Regierung zusammen, die gezielt versucht, den Mord an van Gogh zu nutzen, um alle Muslime in den Niederlanden zu Sündenböcken zu machen und die soziale Wut in rassistische Bahnen zu lenken.

Siehe auch:
Niederlande: Theo van Gogh auf offener Straße ermordet
(9. November 2004)
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