London: Lehren aus dem Europäischen Sozialforum

Das dritte Jahrestreffen des Europäischen Sozialforums (ESF), das vom 15.-17. Oktober in London stattfand, endete mit einer Demonstration gegen die Besetzung des Irak. Die Demonstration unterstrich die Ohnmacht einer Bewegung, die einst als die Bewegung der Zukunft und als das neue Modell für progressive Politik gefeiert worden war.

Trotz weit verbreiteter Antikriegsstimmung und breiter Opposition gegen die Teilnahme Großbritanniens an der US-geführten Besetzung des Irak beschränkten sich die Demonstrationsteilnehmer fast ausschließlich auf Delegierte des ESF-Treffens. Ausnahmsweise lagen die Polizeiangaben über die Teilnehmerzahl mit etwa 20.000 der Wirklichkeit weitaus näher als die der Veranstalter, die von 50 bis 70.000 Teilnehmern sprachen.

Die auf der Veranstaltung gehaltenen Reden machten deutlich, warum die Demonstration keine breitere Resonanz fand. Nicht ein Redner zeigte eine Perspektive auf, von der aus man die Arbeiterklasse zu einem politischen Kampf gegen die Blair-Regierung mobilisieren könnte. Stattdessen teilten sich Befürworter begrenzter Proteste gegen Blairs Pro-Kriegs-Haltung das Podium mit Labour-Parlamentariern und Gewerkschaftsbürokraten, deren Unmutsäußerungen über den Krieg völlig ihrer Loyalität gegenüber Partei und Regierung untergeordnet sind.

Die radikalsten Aussagen von Labour-Funktionären konzentrierten sich auf die Forderung nach Blairs Rücktritt, während sich die politischen Alternativen zu Labour auf zwei Varianten verteilten: Unterstützung für die Amtsenthebungskampagne nationalistischer Parteien wie Plaid Cymru oder der Scottish National Party, oder Unterstützung für die Respect-Unity-Koalition George Galloways, die vornehmlich auf einer opportunistischen Anbiederung an muslimische Wähler basiert.

Daß die Proteste keine ernsthafte Herausforderung der Blair-Regierung darstellten, ist auch an ihren wichtigsten Finanzierungsquellen abzulesen. Diese liegen bei Londons Bürgermeister Ken Livingstone. Erst kürzlich wieder in die Labour-Party aufgenommen und bei deren Parteikonferenz letzten Monat von Blair mit Lob überschüttet, gestattet Livingstone gerne ein wenig Protestgeschrei gegen die proamerikanische Haltung des Premierministers in Sachen Irak. Weiß er doch genau, dass das ESF die politische Vorherrschaft Labours und der Gewerkschaftsbürokratie über die Arbeiterklasse in keiner Weise gefährdet.

Das diesjährige Treffen des ESF kennzeichnete in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt seines Schicksals. Selbst wenn man den von den Organisatoren angegebenen Teilnehmerzahlen Glauben schenkt, erschienen nur halb so viele Delegierte wie im letzten Jahr in Paris. Es gab weit verbreitete Beschwerden sowie Proteste einiger Hundert Anarchisten dagegen, dass Livingstone das ESF "kooptiert" habe und dass die über 400.000 Pfund, welche der Stadtrat von London und verschiedene Gewerkschaften zur Finanzierung des Treffens beisteuerten, dessen Autonomie und Unabhängigkeit untergraben hätten.

Trotz der Bekenntnisse zur Vielfalt und der über 500 Seminare, die während drei Tagen abgehalten wurden, war von der politischen Agenda bis hin zur Auswahl der Redner auf der Abschlussveranstaltung alles von Livingstone, seinen Unterstützern und den kontinentaleuropäischen Vertretern des ESF entschieden worden. Damit wurden Praktiken auf die Spitze getrieben, die im ESF seit seiner Gründung Gang und Gäbe sind.

Das Londoner ESF wurde von Livingstone "kooptiert", doch in ähnlicher Weise war das Pariser ESF im Jahr davor durch die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und sogar von Präsident Chiracs persönlichem Büro "kooptiert" worden. Ein weiteres Jahr zuvor, in Florenz, lagen Finanzierung und Kontrolle großenteils bei den zwei stalinistischen Parteien Italiens.

Wie diese Sponsorenschaft die Tagesordnung des ESF diktiert, zeigte sich anschaulich am ersten Abend an einer Versammlung, die angeblich der Opposition gegen die Besetzung des Irak gewidmet war und den Ton der Demonstration am Sonntag vorgeben sollte. Als Redner war auch Subji al Mashadani, der Vorsitzende des Irakischen Gewerkschaftsbundes (IGB), vorgesehen.

Auf Mashadanis Anwesenheit hatten die Gewerkschaftsfunktionäre unter den Unterstützern des ESF bestanden. Er ist Mitglied der Irakischen Kommunistischen Partei, die sich an dem von den USA aufgestellten Marionettenregime in Bagdad beteiligt. Der IGB stellt die offiziell anerkannte gewerkschaftliche Körperschaft der Regierung dar. Nur wenige Wochen zuvor hatte auf der Konferenz der Labour-Party ein von London unterstützter Vertreter der Organisation sich hinter Blairs kategorische Forderung gestellt, die britischen Truppen müssten im Irak bleiben. Auch Mashadani wollte gegen eine Verurteilung der Besetzung auftreten.

Protestäußerungen von Irakern und anderen gegen seine Teilnahme führten dazu, dass schließlich die ganze Diskussion abgesagt wurde. Diese erzwungene Absage der Eröffnungsveranstaltung war jedoch nur das erste Fiasko des Wochenendes. Am nächsten Abend wurde eine groß angelegte Debatte über Rassismus abgesagt - Grund waren Proteste gegen Livingstone, der als Redner angekündigt, jedoch nicht erschienen war.

Was sagen derartige Ereignisse über den politischen Charakter des ESF aus?

Die offizielle Medienunterstützung für das Treffen kam dieses Jahr von der Zeitung Guardian, die auf Blairs Seite steht. Am 18. Oktober brachte sie einen Leitartikel über die Möglichkeit, das ESF könnte die "Entwicklung einer tatsächlich neuen Politik der europäischen Linken" verkörpern.

Ehrlicher war noch die Vermutung, es sei "möglich, dass das Treffen vorbeigehen und lediglich als europäischer Basar für politische Ideen in Erinnerung bleiben" würde. "Dennoch", so das Blatt, "ist es ebenso gut möglich, dass die Bürgermeister großer europäischer Städte von nun an um das Treffen wetteifern werden, wie um eine Art politischer Olympiade."

Neben der schon genannten umfassenden Kontrolle durch die Geldgeber wird eine große Zahl der Delegierten von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) gesponsert, die ihrerseits wieder stark von der Unterstützung durch die Regierungen der großen kapitalistischen Mächte abhängen. Was die protestierenden Anarchisten und andere in Wahrheit beklagten, ist der Zusammenbruch der Illusion von Unabhängigkeit und Demokratie, die von den führenden politischen Tendenzen des ESF so sorgfältig gepflegt worden sind.

Das ESF ist ein Ableger des Weltsozialforums (WSF), das im Jahr 2000 unter Federführung der Arbeiterpartei Brasiliens von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der französischen Attac-Bewegung und anderen ins Leben gerufen wurde. Lula erhoffte sich von der Gründung des WSF einen antiimperialistischen Glaubwürdigkeitsgewinn, hinter dem er seine Bemühungen um die Durchsetzung IWF-diktierter Sparmaßnahmen verbergen konnte. Attac fungiert seinerseits als halboffizieller Berater der französischen Sozialistischen Partei. Dabei tritt die Organisation für minimale Reformen und Kontrollinstrumente über internationale Spekulationsgeschäfte ein - als Mittel, Frankreichs nationale Interessen zu verteidigen und den sozialen Frieden aufrecht zu erhalten. Das Projekt WSF zog in der Folge ähnliche politische Kräfte auf der ganzen Welt an.

Die nicht gewählten Führer von WSF und ESF stellen das Forum als weitgehend spontane Manifestation der antikapitalistischen Proteste dar, die 1999 in Seattle begannen, und - in jüngerer Zeit - als politischen Ausdruck der Massenbewegung gegen den Irakkrieg, die 2003 losbrach. Das Gegenteil ist der Fall.

Indem sie verschiedene diskreditierte politische Tendenzen unter einem Dach vereinen und die Illusion erzeugen, es sei etwas "Neues" entstanden, versuchen die kleinbürgerlichen Repräsentanten des Kapitals eine wirklich unabhängige Bewegung gegen Imperialismus und Krieg zu unterbinden. Ihr zentrales Anliegen ist es zu verhindern, dass jene, die sich aufgrund der Ausplünderung der Weltbevölkerung durch das internationale Kapital radikalisieren, sich einer sozialistischen Perspektive zuwenden.

Die Stalinisten, Sozialdemokraten und ehemaligen Radikalen, die dem ESF vorstehen, wissen aus ihrer eigenen politischen Erfahrung sehr gut, welche Bedrohung für die Bourgeoisie und ihre eigene privilegierte Stellung die explosiven Klassenspannungen darstellen, die heute das soziale Leben prägen. Um dieser Gefahr zu begegnen, verbieten die Gründungsprinzipien des ESF die Teilnahme von Parteiorganisationen und lehnen "reduktionistische Ansichten zu Wirtschaft, Entwicklung und Geschichte" ab - eine ignorante und feindselige Anspielung auf den Marxismus.

Der angebliche Ausschluss von Parteien sucht die Verwirrung auszunutzen, die der Verrat der alten Arbeiterorganisationen hervorgerufen hat. Er verhindert allerdings niemanden an der Teilnahme am ESF, der mit seiner prokapitalistischen Ausrichtung einverstanden ist. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass keine politische Herausforderung der sozialdemokratischen und stalinistischen Regierungen, Parteien und Gewerkschaftsbünde aufkommt, an denen sich ESF und WSF orientieren. Ihnen wird Gehör garantiert, wenn es im Programm heißt: "Regierungsmitglieder und Parlamentarier, welche die Grundsätze dieser Charta akzeptieren, sind zur persönlichen Teilnahme eingeladen."

Auf einer derartigen Grundlage kann sich niemals eine wirklich unabhängige Bewegung entwickeln. Während der vergangenen drei Jahre wurde dies vielen klar, die anfangs von dem Versprechen des ESF angezogen worden waren, eine Alternative zur Herrschaft der globalen Konzerne aufzuzeigen - das zeigen die sinkenden Teilnehmerzahlen.

Der tatsächliche Charakter von ESF und WSF wird aus ihrem Programm ersichtlich. Was die verschiedenen Organisationen in ihren Rängen vereint, sind die Verteidigung des Nationalstaats und die Bemühungen, diesen als Mittel zur Verteidigung der Unterdrückten dieser Welt darzustellen. Sie hoffen darauf, Teile der Bourgeoisie von einer Anwendung des Staatsapparates zur Einführung einer verwaschenen Variante der alten keynesianischen Regulationsmechanismen zu überzeugen, gepaart mit begrenzten sozialen Zugeständnissen. So soll die Entwicklung einer politischen Bewegung gegen den Kapitalismus verhindert werden.

Es lohnt sich, an den Standpunkt zu erinnern, den die World Socialist Web Site zur Zeit der Proteste von Seattle eingenommen hat. Heute erweist er sich als grundsätzliche Zurückweisung des desaströsen Kurses, den das ESF und seine Nachahmer propagieren. Die Erklärung "Politische Grundprinzipien für eine Bewegung gegen den globalen Kapitalismus" vom 4. Dezember 1999 stellte fest:

"Die Lehren vergangener Protestbewegungen, darunter des Kampfs gegen den Vietnamkrieg, beweisen, dass Aktivismus und selbst große Opferbereitschaft nicht ausreichen. Die komplizierteste Aufgabe der Menschen besteht darin, eine Bewegung gegen das bestehende System aufzubauen...

Es geht heute nicht darum, die Entwicklung auf ein weitgehend mystisches Zeitalter isolierter nationaler Wirtschaften zurückzuschrauben. Die große Frage lautet aber: Wer kontrolliert die globale Ökonomie, und wessen Interessen bestimmen über den Einsatz ihrer enormen technischen und kulturellen Möglichkeiten? Die einzige gesellschaftliche Kraft, die in der Lage ist, die globale Wirtschaft in einer progressiven Art und Weise zu organisieren, ist die internationale Arbeiterklasse.

Mit der Perspektive des Internationalismus ist eine weitere, nicht weniger grundlegende Frage verbunden: die unabhängige politische Organisierung der Arbeiterklasse. Die Fragen, die diese Woche in Seattle aufgeworfen werden, können nicht durch Proteste beantwortet werden. Keinerlei Druck auf die WTO oder irgend eine andere kapitalistische Institution wird die Situation, mit der die arbeitende und unterdrückte Bevölkerung dieser Erde konfrontiert ist, grundlegend ändern.

Wer gegen die heutigen Zustände ist, muss die Wurzel des Problems aufdecken: das System der Produktion für Profit. Daraus folgt ein Kampf für einen grundlegenden Wandel, um die Gesellschaft nach einem neuen sozialen Prinzip zu reorganisieren. Dies ist ein politischer Kampf, für den die Arbeiterklasse ihr eigenes Instrument, ihre eigene politische Partei braucht."

Es ist der Kampf um den Aufbau einer solchen Partei, von dem das Schicksal der Menschheit abhängt.

Siehe auch:
Politische Grundprinzipien für eine Bewegung gegen den globalen Kapitalismus
(4. Dezember 1999)
Europäisches Sozialforum: Die französische LCR versucht die Opposition gegen die staatstragenden Linksparteien aufzufangen
( 18. November 2004)
Die radikale Linke in Frankreich (Serie)
( 6. Mai 2004)
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