Bundesverfassungsgericht legitimiert vorgezogene Neuwahl

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am Donnerstag mit sieben zu einer Stimme entschieden, dass die vorgezogenen Neuwahlen verfassungskonform sind. Damit steht der Bundestagswahl vom 18. September nichts mehr im Wege. Diese Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen. Die Verfassungsrichter legitimieren dadurch ein Manöver des Kanzlers, mit dem eine Politik durchgesetzt werden soll, die von der großen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt wird.

Das Gericht wies die Klage der Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD) zurück, die die vorzeitige Auflösung des Bundestages als verfassungswidrig angegriffen hatten. Bundespräsident Horst Köhler hatte am 29. Juli das Parlament aufgelöst, nachdem Bundeskanzler Schröder zuvor die Vertrauensfrage mit dem Ziel gestellt hatte, sie zu verlieren. Schröder hatte die Vertrauensfrage damit gerechtfertigt, dass er nicht mehr über eine stetige und verlässliche Basis für seine Politik verfüge.

Schulz und Hoffmann begründeten ihre Klage damit, dass der Bundeskanzler jederzeit über das Vertrauen der Mehrheit des Parlaments verfügt habe. Noch am Vortag der Vertrauensabstimmung hatte die rot-grüne Parlamentsmehrheit rund 40 Gesetze problemlos verabschiedet. Die Vertrauensfrage sei daher "unecht" und die Verfassung kenne kein Selbstauflösungsrecht des Parlaments. Rhetorisch stellten sie die Frage, ob künftig der Kanzler dem Parlament oder, als Konsequenz der Argumentation von Schröder und Köhler, das Parlament dem Kanzler verantwortlich sein solle.

Das Bundesverfassungsgericht hat ihre Klage nun als "unbegründet" zurückgewiesen und die Macht der Exekutive gegenüber dem Parlament erheblich gestärkt. Im Vergleich zu seiner früheren Rechtssprechung hat es den Handlungsspielraum des Bundeskanzlers deutlich ausgeweitet. Mit der Einführung des Begriffs einer "auflösungsgerichteten Vertrauensfrage" hat das Gericht dem Kanzler praktisch das Recht zur Parlamentsauflösung eingeräumt.

"Karlsruhe hat heute die politische Rolle des Bundeskanzlers so weit gestärkt, dass es künftigen Regierungschefs gestattet sein wird, ihr - nennen wir es - gefühltes Misstrauen zum wichtigsten politischen Maßstab in der Republik zu machen", schrieb Spiegel online in einer ersten Stellungnahme. "Wenn künftige Bundeskanzler Neuwahlen für politisch opportun oder unvermeidbar halten, ... dann werden sie von diesem Bundesverfassungsgericht jedenfalls nicht gestoppt."

Der innenpolitische Ressortchef der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl, der das von Schröder gewählte Verfahren stets abgelehnt hat, kommentiert: "Das gestrige Urteil, wird Geschichte machen, weil es einem autokratischen Regierungsstil den verfassungsrechtlichen Segen gibt."

Das Bundesverfassungsgerichts folgte in seinem Urteil im Wesentlichen der Argumentation von Bundespräsident Köhler, der erklärt hatte, es liege im Ermessenspielraum des Bundeskanzlers festzustellen, ob er noch über eine stabile Mehrheit verfüge oder nicht.

"Derartige Einschätzungen haben Prognosecharakter und sind an höchstpersönliche Wahrnehmungen und abwägende Lagebeurteilungen gebunden", begründete der Vizepräsident des Gerichts, Winfried Hassemer, die Entscheidung. "Eine Erosion und der nicht offen gezeigte Entzug des Vertrauens lassen sich ihrer Natur nach nicht ohne weiteres in einem Gerichtsverfahren darstellen und feststellen."

Damit wird die Auflösung des Bundestags an rein subjektive Kriterien gebunden, völlig unabhängig von den tatsächlichen, durch Wahlen zustande gekommenen parlamentarischen Mehrheiten.

Hatte das Gericht 1983, als es in einem vergleichbaren Fall über die Auflösung des Bundestags durch die Regierung Kohl urteilen musste, noch erklärt, bloße "Schwierigkeiten" bei der Umsetzung der Regierungspolitik reichten nicht aus, um die Vertrauensfrage zu stellen, so hat es nun diese Einschränkung fallen lassen. "Die Handlungsfähigkeit einer Regierung geht auch dann verloren, wenn der Kanzler zur Vermeidung offenen Zustimmungsverlusts im Bundestag gezwungen ist, von wesentlichen Inhalten seines politischen Konzepts abzurücken und eine andere Politik zu verfolgen", heißt es in dem Urteil.

Mit dieser Begründung wird die in der Verfassung verankerte Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament ad absurdum geführt. Stimmt die Bundestagsmehrheit der Politik des Kanzlers nicht widerspruchslos zu, kann er das Parlament in die Wüste schicken. Er bekommt so einen wirksamen Hebel in die Hand, um das Parlament zu disziplinieren und widerspenstige Abgeordnete einzuschüchtern.

Verschwörung gegen die Bevölkerung

Die Partei für Soziale Gleichheit ist weit davon entfernt, das Grundgesetz zu idealisieren. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst, um die durch das Naziregime diskreditierte kapitalistische Ordnung zu retten und zu festigen. Es ist von einem undemokratischen Geist durchtränkt, der eine direkte Einflussnahme des Volkes auf die Politik verhindern soll. Bezeichnenderweise wurde es nie durch eine Volksabstimmung ratifiziert - weder zur Zeit seines Inkrafttretens 1949 noch 1990, nach dem Anschluss der ehemaligen DDR.

Das Grundgesetz beruht auf dem Prinzip der repräsentativen oder indirekten Demokratie, in der gewählte Volksvertreter souverän und ohne direkte Eingriffsmöglichkeiten des Volkes die politischen Entscheidungen treffen. Es enthält zahlreiche Sicherungen, die die staatlichen Institutionen gegen Druck von unten immunisieren und stabiler gestalten sollen.

So schließt eine generelle Fünf-Prozent-Klausel kleinere Parteien aus den Parlamenten aus. Um ständige Regierungswechsel und Neuwahlen zu verhindern, wurde das konstruktive Misstrauensvotum - wonach Sturz des Bundeskanzler nur möglich ist, wenn gleichzeitig ein Nachfolger gewählt wird - im Grundgesetz verankert und das Recht des Präsidenten zur Auflösung des Parlaments stark eingeschränkt. Eine Parlamentsauflösung durch den Bundeskanzler bzw. die ihn tragende Parlamentsmehrheit wurde nur unter strikten Vorbehalten zugelassen.

Es liegt uns fern, diese Regelungen zu verteidigen, die dem Erhalt der bürgerlichen Ordnung dienen. Aber bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung geht es um grundlegende Klassenfragen, gegenüber denen wir uns nicht gleichgültig verhalten. Die volle Bedeutung des Verfassungsgerichtsurteils wird deutlich, wenn man den politischen Hintergrund betrachtet, vor dem es zustande kam.

Mit der Entscheidung, das Parlament vorzeitig aufzulösen, reagierte Schröder auf den wachsenden Widerstand gegen seine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die für fünf Millionen Arbeitslose und ein rasches Anwachsen der Armut verantwortlich ist. Die weit verbreitete Opposition gegen die Agenda 2010 und Hartz IV äußerte sich in Massenprotesten und massiven Stimmen- und Mitgliederverlusten der SPD. Sie drohte auf die Parlamentsfraktion überzugreifen, wie Schröder selbst dies anschaulich schilderte, als er am 1. Juli die Vertrauensfrage stellte.

"Die SPD hat seit dem Beschluss der ‚Agenda 2010’ bei allen Landtagswahlen und der Europawahl Stimmen verloren - in vielen Fällen sogar die Regierungsbeteiligung in den Ländern," sagte er vor dem Bundestag. "Das war ein hoher Preis für die Durchsetzung der Reformen. Das wir diesen hohen Preis - zuletzt in Nordrhein-Westfalen - zu zahlen hatten, hat innerhalb meiner Partei und meiner Fraktion zu heftigen Debatten um den künftigen Kurs der SPD geführt. Das gilt in ähnlicher Weise für unseren Koalitionspartner." Einige SPD-Mitglieder hätten sogar damit gedroht, "sich einer rückwärts gewandten, linkspopulistischen Partei" unter dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine anzuschließen.

Schröder war eher bereit, die Regierungsmacht an die Union und die FDP auszuhändigen, als dem Druck der eigenen Wähler und Mitglieder nachzugeben. Er folgte damit dem bewährten Muster der SPD, die die Macht stets an die Rechte übergeben hat, wenn sie dem Druck von unten nicht mehr standhalten konnte.

So trat Herrmann Müller, der letzte sozialdemokratische Kanzler der Weimarer Republik, 1930 die Macht an den Zentrumspolitiker Heinrich Brüning ab und unterstützte dessen gegen die Arbeiter gerichteten Notstandsmaßnahmen. Willy Brandt war 1972 bereitet, kampflos vor Rainer Barzel zu kapitulieren, falls er das durch Stimmenkauf herbeigeführte Misstrauensvotum verloren hätte. Drei Jahre später übergab er die Regierung an den Parteirechten Helmut Schmidt. Und schließlich überließ Oskar Lafontaine 1999 Gerhard Schröder widerstandslos das Feld, als er unter den Beschuss von Wirtschaftskreisen geriet.

Das ausdrückliche Ziel der vorgezogenen Wahl besteht darin, die unpopuläre Agenda 2010 zu legitimieren. "Wenn diese Agenda fortgesetzt und weiterentwickelt werden soll - und das muss sie -, ist eine Legitimation durch Wahlen unverzichtbar," rechtfertigte Schröder sein Vorgehen vor dem Bundestag.

Mit der vorgezogenen Neuwahl hat Schröder die Wähler vor ein Ultimatum gestellt: ‚Entweder ihr akzeptiert die Agenda 2010 mit allem, was dazu gehört, oder ihr bekommt eine unionsgeführte Regierung, die es noch viel schlimmer treibt.’ Die große Mehrheit der Bevölkerung hat nicht die geringste Möglichkeit, ihre Ablehnung der vorherrschenden gesellschaftspolitischen Entwicklung zum Tragen zu bringen. Während Bundespräsident Köhler die Auflösung des Parlaments damit rechtfertigte, dass nun der Wähler das Wort habe, ist der Wähler in Wirklichkeit durch Schröders Vorgehen entmündigt worden.

Mit dem Bundesverfassungsgericht haben sich sämtliche staatlichen Organe hinter diese Verschwörung gestellt: Regierung, Bundestag, Bundespräsident und höchstes Gericht. Auch alle politischen Parteien, allen voran die SPD, haben die Entscheidung begeistert begrüßt. Der Innenpolitische Sprecher der SPD, Dieter Wiefelspütz, sagte, das Urteil werde auch über den Tag hinaus bedeutsam und wichtig sein.

In der Tat! Mit der Legalisierung der vorgezogenen Wahl und der Aufwertung der Exekutivgewalt durch das Bundesverfassungsgericht sieht sich die herrschende Elite nun in der Lage, die nächste Runde jener Angriffe auf soziale und demokratische Rechte durchzuführen, die immer wieder auf heftigen Widerstand in der Bevölkerung gestoßen sind. Unabhängig davon, welche Mehrheiten die Wahl ergeben wird - eine Koalition von Union und FDP, eine Große Koalition oder (was wenig wahrscheinlich ist) eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition - werden diese Angriffe an Schärfe und Intensität zunehmen.

Während SPD und Grüne unmissverständlich klar gemacht haben, dass sie keine Abstriche an der Agenda 2010 zulassen werden, plant die Union mit Gesundheitspauschale und einheitlichem Steuersatz die Abschaffung des seit über hundert Jahren bestehenden Solidarprinzips und die größte Umverteilung von Einkommen und Vermögen in der deutschen Geschichte. Ein Hilfsarbeiter soll nach diesen Plänen denselben Krankenkassenbeitrag und denselben Steuersatz bezahlen wie ein Manager. Die Halbierung der Steuern für die Reichen soll durch die Besteuerung von Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschlägen und Streichung der Pendlerpauschale finanziert werden, die Nachtschwester die Steuersenkung für den Millionär bezahlen.

Derartige Maßnahmen lassen sich nur mit einem autoritären Regime durchsetzten, das frei von jeder demokratischen Kontrolle ist. Mit der Auflösung des Bundestags, die nun von den Verfassungsrichtern mit großer Mehrheit abgesegnet worden ist, hat die SPD den Weg dafür geebnet.

Zynischer Umgang mit der Legalität

Die Leichtigkeit, mit der das Bundesverfassungsgericht legale Normen über Bord geworfen hat, die jahrzehntelang als unantastbar galten - die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament und das fehlende Selbstauflösungsrecht des Bundestags - zeigt, dass die herrschende Elite entschlossen ist, diesen Weg zu gehen. Die größte Gefahr besteht darin, ihre Entschlossenheit zu unterschätzen. Sind die geltenden legalen Normen erst einmal gesprengt, entwickelt die Entfaltung autoritärer Herrschaftsformen ihre eigene Dynamik.

Heribert Prantl, selbst ein ausgebildeter Jurist, weist in der Süddeutschen Zeitung zu Recht darauf hin, wie oberflächlich das Urteil des Verfassungsgerichts begründet ist. "So sehen Urteile aus, bei denen zuerst das Ergebnis festgelegt und dann die Begründung gesucht wird," schreibt er. "Das Gericht tut so, als prüfe es - in Wirklichkeit aber überprüft es nichts."

Diese leichtfertige und zynische Haltung der herrschenden Elite gegenüber ihren eigenen legalen Normen ist ein internationales Phänomen. Im Interesse kurzfristiger politischer Ziele - die oft direkt aus den Chefetagen der mächtigsten Konzerne vorgegeben werden - wirft sie legale Grundsätze über Bord, die lange Zeit als Grundlage für die Stabilität der bürgerlichen Ordnung galten.

Der Aufstieg des Bush-Regimes in den USA ist ohne dieses Phänomen nicht zu verstehen.

Bereits 1999 hatte eine ultrarechte Verschwörung versucht, durch das Impeachmentverfahren gegen Clinton einen gewählten Präsidenten mittels eines aufgebauschten, inhaltlich völlig belanglosen Sexskandals aus dem Amt zu hieven. Dieses Verfahren, das der Verfassungstradition der USA Hohn sprach, wurde vom obersten Gericht abgesegnet. Ein Jahr später sanktionierte dasselbe Gericht Bushs Ernennung zum Präsidenten entgegen dem Wählervotum, indem es die Nachzählung der Stimmen in Florida unterdrückte. 2003 organisierte die politische Rechte dann in Kalifornien mit dem Geld eines Multimillionärs die Abwahl des demokratischen Gouverneurs Gray Davies und seine Ablösung durch den Republikaner Arnold Schwarzenegger.

In all diesen Fällen konnte eine kleine rechte Minderheit ihren Willen dank der Unterstützung des Obersten Gerichts und der Komplizenschaft der demokratischen Opposition durchsetzen. Die Demokraten kapitulierten kampflos vor den Rechten oder unterstützten sogar deren Kampagnen. Die weitverbreitete Opposition in der Bevölkerung fand keine Möglichkeit, sich zu artikulieren. Das Ergebnis ist die Bush-Regierung, die sich auf eine kleine, ultrarechte Minderheit stützt, andere Länder mit Krieg überzieht, demokratische Rechte mit Füssen tritt und eine soziale Polarisierung herbeigeführt hat, die für ein industriell entwickeltes Land ohne Beispiel ist.

Es wäre eine gefährliche Illusion zu glauben, eine derartige Entwicklung sei in Deutschland nicht möglich.

Hinter Angela Merkel, der karrierebewussten brandenburgischen Pastorentochter, bringen sich Kräfte in Stellung, die auch in Deutschland so schnell wie möglich amerikanische Verhältnisse einführen wollen. Die Ernennung von Paul Kirchhof zum Finanzexperten in Merkels Kompetenzteam hat in dieser Hinsicht Signalwirkung. Kirchhof vertritt noch radikalere Steuerpläne als der im vergangenen Jahr zurückgetretene CDU-Finanzexperte Friedrich Merz. Merkels eigene Sympathien für Bush sind nicht nur außenpolitisch, sondern auch innen- und sozialpolitisch motiviert.

Durch die vorzeitige Auflösung des Bundestags und ihre eigenen Angriffe auf demokratische und soziale Rechte haben die SPD und die Grünen diesen rechten Kräften den Weg geebnet, obwohl deren politischen Konzepte in der Bevölkerung sonst kaum Unterstützung finden.

Die Kläger

Es ist bezeichnend, dass von den insgesamt 601 Bundestagsabgeordneten nur zwei, Werner Schulz und Jelena Hoffmann, den Mut gefunden haben, gegen die Auflösung des Bundestags zu klagen. Sie gerieten deshalb unter enormen Druck und wurden von den eigenen Kollegen in einer Weise gemobbt, die in der Geschichte des Bundestags einmalig ist.

Von den acht Verfassungsrichtern des zuständigen Zweiten Senats gab nur einer den Klägern recht. Hans-Joachim Jentsch begründete seine abweichende Meinung damit, dass das Urteil die Stellung des Bundestags schwäche. Es erlaube einem Bundeskanzler, "über eine ‚unechte’ Vertrauensfrage eine Neuwahl herbeizuführen, wenn er die akklamatorische Bestätigung seiner Politik für erforderlich hält, um parteiinterne Widerstände zu überwinden".

Die Richterin Gertrude Lübbe-Wolff schloss sich zwar dem Urteil an, distanzierte sich aber von der Begründung. Sie sagte, durch das Urteil seien "bloße Inszenierungen fehlender Verlässlichkeit der Bundestagsmehrheit nicht wirksam zu bekämpfen", sondern es drohe solche hervorzurufen. Den Stabilitätsinteressen sei dies "abträglicher als jede Neuwahl".

Die Verfassungsklage von Schulz und Hoffmann war weniger von der Sorge um demokratische Rechte geprägt, als von der Furcht vor einer zunehmenden Instabilität der staatlichen Institutionen.

Ihre Klageschrift sieht in der Zulassung vorzeitiger Neuwahlen vor allem ein Schritt weg von der "repräsentativen" hin zur "plebiszitären" oder "unmittelbaren" Demokratie, in der politische Entscheidungen direkt vom Volk legitimiert werden müssen. Schulz warf dem Kanzler "Flucht vor der Verantwortung" vor. "Eine Abstimmung über den jeweiligen Regierungskurs, also Stimmungsdemokratie, widerspricht unserer Verfassung", schrieb er in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 29. Juli.

Immer wieder nimmt die Klageschrift Bezug auf die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes und erinnert daran, dass dieses in bewusster Abkehr von der Weimarer Verfassung einen "Zwang zu politischer Stabilität und Kontinuität" habe festschreiben wollen. In der Weimarer Republik hatte keine einzige Regierungskoalition ihre volle Amtszeit ausschöpfen können. Der Reichspräsident hatte das Parlament zahlreiche Male aufgelöst, der Sturz des Reichskanzlers durch verfeindete parlamentarische Flügel, die sich nicht auf einen Nachfolger einigen konnten und wollten, kam häufig vor.

Schulz und Hoffmann befürchten, dass mit der Auflösung des Bundestags ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen wird, der die staatlichen Institutionen in zukünftigen Krisen unterhöhlt. Ähnlich argumentiert auch Prantl. Er hatte in einer früheren Ausgabe der Süddeutschen Zeitung geschrieben, es sei besser, durch einen Stopp der Neuwahl Kanzler, Bundespräsident und Parlament zu blamieren und eine unmittelbare politische Krise in Kauf zu nehmen, als langfristig die staatlichen Institutionen zu schwächen.

Auch die Verfassungsrichter scheinen die Frage anfangs ähnlich gesehen zu haben, wie Verfassungsrichter Hassemer in einer persönlichen Bemerkung vor der Urteilsbegründung andeutete. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit habe das Gericht lediglich die Wahl zwischen "Pest und Cholera" gehabt, sagte er. Es habe entweder das Grundgesetz zurechtbiegen oder eine Staatskrise auslösen können, indem es die bereits laufende "Wahlmaschinerie" stoppt. Dieser Gedanke sei ihm zunächst auch gekommen, er sei ihm aber im Laufe der Beratungen "gründlich abhanden gekommen". Das Gericht habe selbstbewusst formuliert.

Man kann diese Worte nur so interpretieren, dass das Gericht in seinen Beratungen zum Schluss gelangte, dass es nicht mehr darum geht, die überkommenen Strukturen zu verteidigen, die in Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums für politische Stabilität gesorgt haben, sondern die Exekutive zu stärken, um für kommende soziale Konfrontationen gewappnet zu sein.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts macht deutlich, dass die Sicherungen, die ins Grundgesetz eingebaut wurden, um Weimarer Verhältnisse zu vermeiden, in dem Moment durchbrennen, in dem sie erstmals ernsthaft unter Strom gesetzt werden.

Die arbeitende Bevölkerung muss sich auf eine Rückkehr der sozialen Verhältnisse und autoritären Herrschaftsformen vorbereiten, die die letzten Jahre der Weimarer Republik prägten. Sie kann ihre demokratischen und sozialen Rechte nur verteidigen, indem sie als unabhängige gesellschaftliche Kraft handelt. Das erfordert den Aufbau einer neuen internationalen sozialistischen Partei. Darin besteht die Bedeutung der Wahlteilnahme der Partei für Soziale Gleichheit.

Siehe auch:
Aufruf der Partei für Soziale Gleichheit zur Bundestagswahl 2005
(25. Juni 2005)
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