Großbritannien: Der Mythos von Labours wirtschaftlichen Erfolgen

Im Wahlkampf der britischen Labour Party sind Premierminister Tony Blair und Finanzminister Gordon Brown bemerkenswert oft gemeinsam aufgetreten. Obwohl bekannt ist, dass sich die beiden gegenseitig verabscheuen und dass die Partei in ein Blair- und ein Brown-Lager gespalten ist, haben Labours Wahlstrategen dem Premierminister angeblich nahe gelegt, er könnte verlieren, falls Brown nicht in den Mittelpunkt der Kampagne gestellt wird.

Meinungsumfragen haben wiederholt gezeigt, dass eine Mehrheit Brown als Labour-Vorsitzenden bevorzugt. Die Times /Yougov-Umfrage von letzter Woche ergab, dass 47 Prozent Labour mehr wirtschaftliche Kompetenz zutrauen, den Konservativen dagegen nur 29 Prozent. 57 Prozent gaben an, dass man Blair nicht glauben könne, wenn er etwas sage, über Brown meinten das nur 28 Prozent. Blair musste den Glauben in Rechnung stellen, Labour habe mit Brown als Finanzminister wirtschaftliche Erfolge erzielt, und Brown zum "vielleicht erfolgreichsten Finanzminister der letzten 100 Jahre" erklären.

Neben den angeblichen Wirtschaftserfolgen von Labour hat der Eindruck, die Konservativen würden eher Kürzungen bei Gesundheit und Bildung vornehmen, die Meinungsumfragen zugunsten von Labour beeinflusst. Tatsächlich haben es die Tories noch nicht einmal gewagt, für Kürzungen einzutreten, weil sie so unpopulär sind. Ihr Parteichef Michael Howard sah sich sogar gezwungen, den stellvertretenden Vorsitzenden Howard Flight zu entlassen, nachdem dieser angekündigt hatte, im Falle des Wahlsieges würden Ausgabenkürzungen "ständig auf der Tagesordnung" stehen.

Die von den Tories anvisierten öffentlichen Ausgaben unterscheiden sich kaum von jenen Labours, und die Konservativen haben die Wirtschaftspolitik weitgehend aus dem Wahlkampf herausgehalten. Stattdessen haben sie versucht, Labour beim Schüren von ausländerfeindlichen Ängsten vor Einwanderern und Flüchtlingen zu übertreffen. Das Institut für Haushaltsstudien errechnete, dass die Differenz zwischen den Haushaltsplänen von Labour und Tories bei nur 0,3 Prozent der gesamten Ausgaben im Jahr 2008 liegt.

Stimmen Labours Bekundungen über ihren angeblichen Wirtschaftserfolg?

Die Wachstumsraten während der letzten acht Jahre Labour-Regierung waren das Ergebnis von außergewöhnlichen Umständen. Im Jahr 1997 traf ihre Entscheidung, die Bank von England unabhängig zu machen und ihr die Kontrolle der britischen Geldpolitik zu überlassen, sicherlich auf das Wohlwollen der Finanzmärkte. Während seiner ersten Amtszeit erwarb sich Brown durch eine strikte Ausgabenkontrolle einen Ruf der "Besonnenheit". Aber Großbritannien war vor allem deshalb die attraktivste Wirtschaft in Westeuropa, weil Labour auf Arbeitskräfte zurückgreifen konnte, die bereits erhebliche Einbußen bei ihren Löhnen und Rechten erlitten hatten.

Erreicht worden war dies während 18 Jahren Tory-Herrschaft, dank der Verrätereien der Gewerkschaftsbürokratie. Wie es der Economist in seiner Berichterstattung über die Wahl ausdrückte: "Mit der Zeit hat diese bittere Medizin zu einem sehr viel flexibleren Arbeitsmarkt geführt." Die Arbeitslosigkeit konnte auf dem Tiefstand von 4,7 Prozent gehalten werden, weil die von den Tories durchgeführten Sozialkürzungen dazu dienten, Arbeiter in Billiglohnjobs zu zwingen.

Es gab unter Labour keinen Durchbruch im Bereich des Wirtschaftswachstums. Wie der Economist erklärte, war das Wachstum von 2,4 Prozent von 1996 bis 2003 nicht höher als es im Durchschnitt zwischen 1982 und 1996 war. Es gab Großbritannien aber einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Frankreich und Deutschland, wo in der Zeit von 1990 bis 2003 das Bruttosozialprodukt pro Kopf im Durchschnitt nur um 1,3 bzw. 1,2 Prozent wuchs.

Als Labours zweite Amtszeit begann, war der von der Vorgängerregierung ererbter Vorteil in der globalen Wirtschaft bereits untergraben. Brown bewahrte Großbritannien nur vor einer Rezession, indem er den Konsum ankurbelte, was ein starkes Anwachsen der Verschuldung und der Staatsausgaben zur Folge hatte. Die hochschnellenden Preise für Immobilien - die der IWF als um nunmehr 50 Prozent überwertet schätzt - haben laut dem Economist "den Konsum zu einer Zeit hochgetrieben, wo sonst die Sorgen um Renten und fallende Börsenkurse verstärktes Sparen begünstigt hätten". Im Ergebnis sei der "Konsument der Hauptstützpfeiler des Wirtschaftswachstums während der letzten acht Jahre".

Im Ergebnis ist die Konsumentenverschuldung auf Rekordhöhe angewachsen, die private Verschuldung in Großbritannien nähert sich mittlerweile der Marke von 1 Billion Pfund.

Die strikte Ausgabenbeschränkung der ersten Amtszeit, als ein großer Haushaltsüberschuss angehäuft wurde, um den Finanzmärkten die Verlässlichkeit von Labour zu beweisen, wurde in der zweiten gelockert. Im Zeitraum 2004-2005 wuchs das Haushaltsdefizit auf 34 Mrd. Pfund, 2,9 Prozent des Bruttosozialprodukts. Teil dieser Verschuldung waren die Ausgaben für den Irak-Krieg, aber auch für das Gesundheitswesen, um die große Opposition unter Arbeitern zu dämpfen, die sich Brown durch den Sparkurs seiner ersten Amtszeit zugezogen hatte.

Der produktive Sektor der Wirtschaft ist ständig zurückgegangen. Seit Labours Amtsantritt sind im Fertigungsbereich eine Million Arbeitsplätze verloren gegangen. Das ist nur durch das Anwachsen eines Niedriglohnsektors im Dienstleistungsbereich, der keine berufliche Qualifikation erfordert, ausgeglichen worden. Auch die Produktivität hat sich nicht verbessert. Dem Economist zufolge war "im Jahr 2003 die Produktion pro Arbeitsstunde in Frankreich um 25 Prozent, in Amerika um 16 Prozent und in Deutschland um 8 Prozent höher. Die Arbeitsproduktivität ist in Großbritannien geringer, weil pro Arbeiter weniger Kapital eingesetzt wird, die Firmen weniger innovativ und die Arbeiter weniger qualifiziert sind."

Der Glaube, dass Brown durch seine überlegene Führungskraft Großbritannien zu einer gesunden Wirtschaft verholfen habe, ist ein von Labour gepflegter Mythos. Realität ist eine Wirtschaft, die von der Verschuldung der Konsumenten getragen wird und der ein Zusammenbruch der Immobilienpreise bevorsteht. Dies würde den Konsum ins Trudeln bringen und damit einhergehend zu wachsender Armut und Arbeitslosigkeit führen.

Brown bemüht sich nicht nur, die Schwäche der britischen Wirtschaft zu verdecken. Als Vorsitzender des Ausschusses für Internationale Währungs- und Finanzfragen (IMFC) ist er sich auch über die gefährliche Lage der Weltwirtschaft bewusst, von der das zukünftige Wachstum der britischen Wirtschaft abhängt.

Trotzdem hat Brown seine für die nächste Amtszeit angekündigte Wirtschaftspolitik auf eine geschätzte Wachstumsrate von 3 bis 3,5 Prozent für 2005 und weiteres Wachstum in der Zukunft gestützt. Er sagt voraus, dass die Steuereinnahmen, die während der letzten vier Jahre gesunken sind, plötzlich wieder steigen und das Haushaltsdefizit ausgleichen werden. Der Financial Times zufolge glauben nur 2 von 41 Wirtschaftsexperten, die das Finanzministerium befragt hat, dass Browns Vorhersagen eintreffen werden.

Als der IWF warnte, Großbritannien müsse seine Staatsausgaben reduzieren, griff Brown dessen Geschäftsführer Rodrigo de Rato scharf an. Auf einer Pressekonferenz in Washington erklärte Brown: "Ich muss sagen, dass bei allem Respekt vor den Mitarbeitern des IWF sie in Bezug auf das britische Wachstum falsch liegen. Wir haben ein höheres britisches Wachstum erreicht als vorhergesagt wurde, und ich glaube dass die Zahlen vom IWF wieder falsch sind. Deshalb werde ich diese Empfehlungen nicht akzeptieren."

Brown hat die Wirtschaftselite der USA mit seinem Kurs sichtlich gegen sich aufgebracht. Das Wall Street Journal hat sich beschwert, dass Labour und Tories praktisch identische Wirtschaftsprogramme haben. Das Journal wies auf die fehlenden Investitionen in Großbritannien hin und erklärte: "Die Alternative liegt natürlich in wirklichen Ausgabenkürzungen, insbesondere wenn man bedenkt, wie wenig die Blair-Regierung als Ergebnis ihrer Verschwendungssucht vorweisen kann."

Wegen seiner Abneigung gegenüber den höheren Staatsausgaben von Labour hat der Medienmogul Rupert Murdoch Labour in dieser Wahl nur noch mit großem Zögern unterstützt. Sein Boulevardblatt Sun lobte unter der Überschrift "Noch eine letzte Chance" zwar Blair und Brown für ihre "Festigkeit in Bezug auf Irak", unterstützte sie aber nur weil "eine wirkliche Alternative fehlt". Bezüglich der Staatsfinanzen warnte es: "Wenn die Regierung keine Reformen durchsetzt und weiterhin diese hungrige, stolpernde Bestie mit Geld füttert, wird sie unser sauer verdientes Geld dazu benutzen, den Weg zum Ruin von Großbritannien zu pflastern."

In einem Interview in der Sendung "Today" auf Radio BBC klagte Murdochs Wirtschaftsberater Dr. Irwin Steltzer, der Direktor der Abteilung für Wirtschaftsstudien am Hudson Institute, dass die Staatsausgaben durch Labour nun einen Anteil von 40 Prozent des Bruttosozialprodukts ausmachten. Er wiederholte die Kritik des Wall Street Journals und ging sogar noch weiter. Er erklärte, das Problem sei nicht das Defizit an sich, sondern das Zögern von Blair und Brown, sich ganz auf eine "neo-konservative" Politik festzulegen. Er empfahl den Tories, "der neo-konservativen Linie in Amerika zu folgen, also erst die politischen Ziele festzulegen und danach die Buchführung. Die Besessenheit der Tories mit Haushaltslöchern und Defiziten behindert sie meiner Meinung nach dabei, Alternativen zu Labours Politik der hohen Ausgaben zu präsentieren."

Steltzer fungiert als Murdochs Verbindungsmann zur Labour-Regierung. Praktisch warnt er Blair und Brown, dass sie zwar die Wahl gewinnen mögen, aber nicht erwarten dürfen, nur wegen ihrer kriegstreiberischen Politik Außenpolitik als Juniorpartner der Vereinigten Staaten weiterhin unterstützt zu werden. Sie sollen auch im Innern den Stier bei den Hörnern packen, alle Überbleibsel des Sozialstaats zerschlagen, die Unternehmenssteuern radikal senken und in entschlossene Konfrontation mit jeder Opposition aus der Arbeiterklasse gehen. Trotz der beruhigenden Wahlerklärung von Labour, die beteuert, wie sehr sie sich der Bildung, Gesundheit und Sozialem verpflichtet fühle, werden diese Forderungen von Murdoch das wirkliche Programm ihrer dritten Amtszeit darstellen.

Siehe auch:
Die britische Arbeiterklasse und die Parlamentswahl 2005
(19. April 2005)
Loading