Deutschland: Höchste Arbeitslosigkeit seit 1933

Mit über 5,2 Millionen hat die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland den höchsten Stand seit 1933, dem Jahr der Machtübernahme der Nationalsozialisten erreicht.

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) meldete für Februar eine Zahl von 5.216.434 Menschen, die offiziell als Arbeitslose registriert sind. Das entspricht einer Quote von 12,6 Prozent - 10,4 Prozent in den alten und 20,7 Prozent in den neuen Bundesländern. Den Spitzenwert hält Mecklenburg-Vorpommern, wo fast jeder Vierte ohne Arbeit ist. Bundesweit sind mehr als ein Drittel der Betroffenen Langzeitarbeitslose, das heißt, sie sind seit einem Jahr oder länger ohne Beschäftigung.

Die Bundesregierung hat versucht, diese Zahlen zu relativieren, indem sie auf die veränderte Zählweise aufgrund der Hartz-IV-Gesetze sowie den harten Wintereinbruch im Februar hinwies. Doch selbst wenn man diese Faktoren berücksichtigt, handelt es sich immer noch um die höchste Arbeitslosenzahl seit 1998, als SPD und Grüne die Regierung übernahmen. Und vom Anstieg um 161.000 gegenüber Januar sind gerade 16.000 auf die saisonale Winterarbeitslosigkeit zurückzuführen.

Hinzu kommt, dass auch die neue Zählweise mehrere Hunderttausend Arbeitslose und Unterbeschäftigte nicht berücksichtigt. Teilnehmer von ABM-Maßnahmen, die vorübergehend auf Kosten der Arbeitsagentur arbeiten, werden ebenso wenig gezählt wie Arbeitslose, die sich nicht mehr registrieren lassen, weil sie keine Aussicht auf das neue Arbeitslosengeld haben. 76.000 Hartz-IV-Fälle tauchen in der Statistik nicht auf, weil sie laut BA von den Kommunen nicht rechtzeitig gemeldet wurden. Auch die zahlreichen Minijobber - allein im letzten Jahr stieg ihre Zahl um 322.000 - und die 220.000 Ich-AG’s, die teilweise Gelder von der BA beziehen, sind in der Statistik nicht enthalten. Der tatsächliche Bedarf an Arbeitsplätzen dürfte daher zwischen 6 und 8 Millionen liegen.

Diese Zahlen sind ein Offenbarungseid der SPD und der Grünen. Sie waren vor sechseinhalb Jahren vor allem deshalb an die Regierung gelangt, weil sich die Wähler von der Abwahl der Kohl-Regierung einen Rückgang der Arbeitslosigkeit und ein Ende des Sozialabbaus versprachen. Doch das Gegenteil ist eingetreten. Die Arbeitslosigkeit hat Rekordwerte erreicht und der Sozialabbau wurde mit der Gesundheitsreform, den Hartz-Gesetzen und ständig sinkenden Renten in beschleunigtem Tempo fortgesetzt.

Der vergangene Sommer war von der Auseinandersetzung über Hatz IV beherrscht. Während Montag für Montag Zehntausende gegen die neuen Gesetze protestierten, erklärten Bundeskanzler Schröder und Arbeits- und Wirtschaftsminister Clement, flankiert von grünen "Wirtschaftsexperten", arrogant, die Streichung der Arbeitslosenhilfe, die Senkung der Zumutbarkeitsregeln und eine bessere Vermittlung durch die Arbeitsagenturen würden die Arbeitslosigkeit überwinden. Die neuen Zahlen haben dies gründlich widerlegt.

Wie absurd die Behauptung ist, bei der Arbeitslosigkeit handle es sich vorrangig um ein Vermittlungsproblem, zeigen die aktuellen Zahlen aus den neuen Bundesländern. Dort stehen 1,8 Millionen Arbeitslosen gerade einmal 54.000 freie Stellen gegenüber. Das entspricht einer Stelle auf 33 Arbeitslose! Als aber BA-Chef Frank-Jürgen Weise kürzlich erklärte, ältere Arbeitslose ließen sich im Osten nicht mehr vermitteln, löste er in offiziellen Kreisen einen Sturm der Entrüstung aus. Zu offensichtlich hatte er das Scheitern der Hartz-Gesetze enthüllt.

Die Bundesregierung reagierte auf die Hiobsbotschaft aus Nürnberg nach bekanntem Muster: mit einer Mischung aus Arroganz, Ignoranz und Ratlosigkeit. Mittlerweile versucht sie noch nicht einmal mehr den Eindruck zu erwecken, als habe sie eine Antwort auf die Massenarbeitslosigkeit.

Bundeskanzler Gerhard Schröder verbreitete Durchhalteappelle. Die Regierung müsse jetzt das Rückrat haben, ihre "Reformen umzusetzen und daran nicht zu zweifeln", sagte er.

Arbeits- und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, in dessen Ressort die Verantwortung für die Arbeitsmarktpolitik fällt, schloss staatliche Konjunkturprogramme zur Überwindung der Arbeitslosigkeit kategorisch aus. Die Vorstellung, man pumpe in irgendwelche Maßnahmen einfach "Geld rein und es läuft", sei falsch, sagte er, und richtete einen hilflosen Appell an die Unternehmer, einen "modernen Patriotismus" zu zeigen und wieder mehr Jobs zu schaffen.

Clement hatte schon Tage vor dem Bekannt werden der neuen Zahlen eine absurde Kampagne gegen die Kommunen gestartet, denen er vorwarf, sie würden Aids-Kranke, Drogensüchtige und selbst Koma-Patienten zu Arbeitsfähigen deklarieren, um damit die Sozialhilfekosten auf den Bund abzuwälzen - als würde die Umschichtung einiger Fälle von einer Statistik in die andere das Problem lösen.

Der Ruf nach einer Großen Koalition

Die Union reagierte auf die neuen Arbeitslosenzahlen mit einem Angebot der Zusammenarbeit an die Regierung. Die Vorsitzenden von CDU und CSU, Angela Merkel und Edmund Stoiber, schlugen dem Kanzler in einem gemeinsamen Brief einen "Pakt für Deutschland" vor und sicherten ihm "faire und konstruktive Beratungen" zu.

Der zehn Punkte umfassende Vorschlag der Union empfiehlt eine höhere Dosis derselben Medizin, die SPD und Grüne in den vergangenen Jahren verabreicht haben. Er zielt auf die Beseitigung aller gesetzlichen, tariflichen und sonstigen Regelungen, die Arbeitnehmern bisher noch einen gewissen Schutz vor willkürlicher Ausbeutung boten - vom Tariflohn und geregelten Arbeitszeiten über den Kündigungsschutz bis hin zur Arbeitssicherheit und zum Jugendschutz.

Angebote der Union zur Zusammenarbeit haben sich in letzter Zeit mit schrillen Attacken abgewechselt. So machte CSU-Chef Stoiber Bundeskanzler Schröder für das Anwachsen der NPD verantwortlich, sein Generalsekretär Söder schob dem Kanzler sogar die Schuld an Kindesmissbrauch und Sexualmord zu, während der nordrhein-westfälische CDU-Vorsitzende Jürgen Rüttgers in der Visa-Politik von Außenminister Joschka Fischer "die größte Menschenrechtsverletzung seit 1945" erblickte. Das Außenministerium hatte die Hürden zur Erlangung von Visa leicht gesenkt.

Doch trotz dieser Hysterie sind die Offerten der Union nicht nur rhetorisch gemeint. Angesichts der wachsenden sozialen Spannungen wachsen sowohl in der Union als auch in der SPD die Bemühungen um eine Große Koalition.

So hat sich in Schleswig-Holstein, wo die jüngste Landtagswahl mit einem Patt endete, CDU-Landeschef Peter Harry Carstensen intensiv für eine Koalition mit der SPD stark gemacht. Nachdem diese abgelehnt hat und mit Unterstützung des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) eine rot-grüne Minderheitsregierung bilden will, hofft Carsten auf die Stimmen abtrünniger SPD-Abgeordneter, um doch noch Ministerpräsidenten zu werden.

Auch der wachsende Druck auf Außenminister Fischer, wegen der Visa-Affäre zurückzutreten, muss in diesem Zusammenhang gesehen werden. Ein Rücktritt Fischers würde aller Voraussicht nach das Ende der rot-grünen Koalition in Berlin bedeuten und den Weg für eine Große Koalition auf Bundesebene frei machen.

Die letzte - und bisher einzige - Große Koalition auf Bundesebene gab es 1966, als die bis dahin regierende Union unter wachsenden Druck aus der Arbeiterklasse geriet und die SPD als Juniorpartner in die Regierung holte. Diese Große Koalition diente dazu, Massenentlassungen in der Montanindustrie durchzusetzen und gegen massive Opposition aus der Bevölkerung die Notstandsgesetze zu verabschieden. Sie wurde schließlich 1969 durch die erste SPD-geführte Bundesregierung der Nachkriegszeit abgelöst, die die Studenten- und Arbeiterproteste der Jahre 1968/69 durch soziale und demokratische Zugeständnisse auffing.

Heute bestände die Aufgabe einer Großen Koalition darin, eine Sozial- und Wirtschaftspolitik umzusetzen, die in der Bevölkerung auf breite Ablehnung stößt und über keinerlei demokratische Legitimation verfügt. Das Zusammenrücken der großen Parteien angesichts der katastrophalen Arbeitslosenzahlen ist Ausdruck der tiefen Kluft, die sie von der breiten Bevölkerung trennt und der sie sich zunehmend bewusst werden.

Anders als 1969 würde eine derartige Koalition nicht in eine neue Periode von sozialen Reformen münden. Die globale Wirtschaft, dominiert von transnationalen Konzernen und internationalen Finanzmärkten, lässt dafür keinen Spielraum mehr. Sie wäre der Auftakt zu verschärften Angriffen auf demokratische und soziale Rechte.

Das katastrophale Ausmaß der Arbeitslosigkeit liefert den anschaulichen Beweis für das Scheitern des sozialreformistischen Programms der SPD, das sich die Zähmung des Kapitalismus im Interesse der arbeitenden Bevölkerung zum Ziel gesetzt hatte. Die Überwindung der Arbeitslosigkeit und die Verteidigung sozialer und demokratischer Rechte erfordert heute mehr als das Auswechseln einer Regierung durch eine andere. Notwendig ist die Umgestaltung des gesamten sozialen und wirtschaftlichen Lebens auf der Grundlage eines sozialistischen Programms, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft höher stellt als die Profitinteressen der Wirtschaft. Ein solches Programm kann nur im internationalen Maßstab durch das vereinte politische Handeln der Abeiterklasse verwirklicht werden.

Siehe auch:
Deutschland: Über 5 Millionen Arbeitslose im Januar
(1. Februar 2005)
Hartz IV in Kraft: Kürzungen Schikanen und Billiglohnarbeit auf breiter Basis
( 15. Januar 2005)
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