55. Berlinale - Teil 1

Gesellschaftliches Leben und Geschichte melden sich zu Wort

Dies ist der erste Teil einer Artikelserie zur 55. Berlinale, die vom 10. bis zum 20. Februar stattfand.

Auf der Berlinale 2004 hatte Festspielleiter Dieter Kosslick angemerkt, viele der ausgewählten Filme repräsentierten ein "dunkles und schwieriges" Kino, und in der Tat fiel auf, dass sich unter den Filmen im Hauptwettbewerb des vergangenen Jahres eine Reihe von Werken fanden, die zeitgenössische politische Themen behandelten.

Einige Kommentatoren und Filmkritiker haben in diesem Jahr eine ähnliche Tendenz festgestellt. Ein Journalist bemerkte, die Festival-Filmauswahl des Jahres 2005 umfasse ein Spektrum von "Genozid, Inzest, Selbstmordattentaten - die Perversionen der Macht, wie sie Politik und Privates infiltrieren und zerstören". Seiner Ansicht nach "wurde von Tag für Tag deutlicher: Die 55. Filmfestspiele begreifen Kino als moralische Anstalt, als Mittel zur politischen Agitation und Aufklärung." (Spiegel-online)

Tatsächlich - und dies kann vielleicht nicht wirklich überraschen - wurden Filme, die solche schwereren Themen behandelten, durch den unvermeidlichen neuen japanischen Schwertkampffilm (The Hidden Blade) und die neueste ‚feel-good’-Komödie aus den Vereinigten Staaten (Hitch - Der Date Doktor) aufgewogen. Auch wurde dem deutschen Fußballkönig Franz Beckenbauer gestattet, bei einem Auftritt für Fußballfilme und die Weltmeisterschaft in Deutschland 2006 zu werben. Gleichzeitig scheint eine Schicht von Filmemachern es zu bevorzugen, vor den wachsenden gesellschaftlichen Spannungen die Augen zu verschließen und den Kopf im Sand (oder dem nächsten Busen) zu vergraben.

Regisseure wie Michael Winterbottom, der wegen seines wertvollen Films In this World auf der letzten Berlinale ausgezeichnet wurde, hat gerade einen trägen und ausschweifenden Film zum Thema Sex and Drugs and Rock’n Roll herausgebracht (9 Songs). Insofern ähnelt er dem schwedischen Regisseur Lukas Moodysson, der auf sein sozialkritisches Werk Lilya 4-ever einen Film über die Welt der Amateurpornografie folgen ließ (A Hole in my Heart).

Entlang der Linie seines öffentlich verkündeten Credos für die 55. Berlinale - versprochen wurde eine Mischung aus "Sex, Fußball und Politik" - hatte Kosslick einen Workshop für all diejenigen eingerichtet, die einenähnlichen Weg einschlagen möchten. Dieser entpuppte sich als Diskussion über Sex im Kino, die von der französischen Regisseurin und radikalen Feministin Catherine Breillat (Romance u.a.) geleitet wurde. Breillats gesamte Gesellschaftskritik scheint sich auf die Forderung zu reduzieren, dass es Frauen in der heutigen Gesellschaft erlaubt sein sollte, ebenso egoistisch und ausbeuterisch zu sein, wie manche Männer es sind.

Nichtsdestotrotz hinterließ das Festival als Ganzes den starken Eindruck, dass eine bedeutende Zahl von Regisseuren und Filmemachern bereit sind, schwierige und umstrittene gesellschaftliche Fragen und Geschichten anzugehen, oder sich historischen Themen mit zeitgenössischem Bezug zu widmen.

Zwei der Filme im Wettbewerb (Hotel Rwanda - der schon auf der WSWS besprochen wurde - und Jedes Jahr im April) handeln von dem schrecklichen ethnischen Massaker in Ruanda, das vor einem Jahrzehnt stattfand. Andere Filme auf dem Festival beschäftigten sich mit dem Thema der Kindersoldaten in Afrika (Lost Children) und den fürchterlichen Folgen, die der Tschetschenienkrieg für Tschetschenen wie auch für Russen hat (Weiße Raben - Albtraum Tschetschenien und Coca - The Dove from Chechnya).

Zwei weitere Filme behandelten Aspekte der israelisch-palästinensischen Situation: So der Film Paradise Now, der über die Besetzten Gebiete erzählt und den Preis für den besten europäischen Film erhielt, wie auch Live and Become, der neue Film von Radu Mihaileanu (Regisseur von Zug des Lebens) und Gewinner des Publikumspreises. Zwei der Wettbewerbsfilme waren Biografien von wichtigen politischen Gestalten- dem ehemaligen französischen Präsidenten François Mitterand und dem japanischen Kaiser Hirohito.

Den Goldenen Bären, Hauptpreis des Festivals, gewann in diesem Jahr ein südafrikanischer Beitrag, U-Carmen eKhayelitsha, der auf Georges Bizets Oper Carmen beruht. Der britische Regisseur Mark Dornford-May hat Bizets Oper von ihrem ursprünglichen Schauplatz - einem armen Arbeiterviertel in Sevilla im Spanien des neunzehnten Jahrhunderts - in das zweitgrößte Township im heutigen Südafrika verlagert. Die Filmemacher haben die Originalmusik beibehalten, aber einige Veränderungen am Libretto vorgenommen - die Übersetzung der Opernlyrik in die Xhosa-Sprache funktioniert überraschend gut.

Eine Reihe von Szenen im Township machen deutlich, dass sich zehn Jahre nach dem Sturz des Apartheidsystems für den durchschnittlichen südafrikanischen Arbeiter kaum etwas verändert hat. Etwa eine Million Menschen leben immer noch in dem riesigen Ghetto Khayelitsha in Hütten, die aus Pappe, Holz oder Wellblech bestehen - ein Bild des sozialen Elends.

Die ursprüngliche Anziehungskraft von Bizets Oper, die das Zusammenstoßen menschlicher Emotionen - Sehnsucht nach Freiheit, Eifersucht, Begegnung mit dem Tod - lebendig darstellt und dabei gesellschaftliche Beziehungen auf nüchterne Weise bewertet, bleibt bei dem Transfer in eine andere Zeit und ein anderes Land intakt. Gleichzeitig gelingt es den Darstellern, die überwiegend Laien sind, mit vollkommener Leichtigkeit von afrikanischen Liedern zu den Anforderungen der europäischen Oper zu wechseln.

Deutsche Filme

Deutsche Filme waren in einigen Festivalkategorien stark vertreten. Viele deutsche Werke, die auf der Berlinale des vergangenen Jahres gezeigt wurden, so auch der Gewinner des Goldenen Bären Gegen die Wand, zeichneten sich durch eine gewisse Melancholie aus. Die Hauptcharaktere wurden dargestellt, als seien sie unfähig, entschlossen zu handeln, von nicht näher erklärten Stimmungen beherrscht und von dem unbestimmten Gefühl gepeinigt, etwas im Leben verpasst zu haben.

In den vergangenen Jahren sind einen Reihe von deutschen Filmen herausgekommen, in denen Individuum versuchen, aus ihren inneren Beschränkungen auszubrechen, die gesellschaftliche Realität zu erkennen und in einem gewissen Maße Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Diese Tendenz ist begrüßenswert. Sie hat Bewegung in den deutschen Film gebracht, Kinogänger angelockt und bei deutschen Filmemachern das Interesse an Fragen des Alltagslebens vergrößert. Heimische Filmproduktionen konnten ihren Anteil am deutschen Markt im vergangenen Jahr deutlich vergrößern.

Die meisten dieser Filme werden von jungen Regisseuren gedreht, deren Leben in der Zeit seit der Wiedervereinigung 1989/90 geprägt wurde. Soziale Instabilität und Massenarbeitslosigkeit sind Faktoren des Alltagslebens, und eine Reihe von Festivalfilmen griff Themen wie die psychologischen Folgen und Persönlichkeitszerstörung auf, die sich aus gesellschaftlichem Zerfall und fehlender Perspektive ergeben (zum Beispiel Netto).

Während der Prozess des sozialen Niedergangs sehr anschaulich dargestellt wird, werden einige Filme problematisch, wenn sie zu zeigen versuchen, wie zentrale Charaktere sich aus dem gesellschaftlichen Dilemma herauswinden möchten. In Situationen, wo Charaktere vor den Trümmern ihrer Existenz stehen, wird die verschwommene und nicht gänzlich überzeugende Hoffnung geweckt, dass zumindest die Liebe bleibt (Willenbrock) oder eine auseinander gerissene Familie am Ende die Kraft finden wird, sich zusammenzuraufen (Das Lächeln der Tiefseefische).

In einem anderen Fall glaubt der Protagonist, dass er das Gewicht der Vergangenheit loswerden kann, in dem er bildlich seine Erinnerungen zum Fenster hinauswirft und von Neuem beginnt (Katze im Sack). Obwohl man in diesen Filmen dem konkreten gesellschaftlichen Kontext Aufmerksamkeit geschenkt hat, wirkt die Lösung der Probleme, denen die Hauptcharaktere gegenüberstehen, erzwungen und kann nicht überzeugen.

Eine Reihe von deutschen Filmen auf dem Festival behandelten direkt historische Fragen. Nach anderen Filmen der jüngsten Zeit, die sich mit der Erfahrung des Faschismus in Deutschland beschäftigten (wie Der Untergang oder Der neunte Tag) rekonstruiert Sophie Scholl die letzten sechs Tage im Leben der Münchener Studentin, einem Mitglied der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", die von den Nazis verhaftet und hingerichtet wurde. Das Drehbuch basiert auf neu zugänglichen Quellen und wirft ein frisches Licht auf den Mut und die Unnachgiebigkeit einer Gruppe deutscher Studenten, die dem faschistischen Terror entgegentraten. Der Film gewann den Silbernen Bären für Regie (Marc Rothemund).

Sophie Scholl leistete zur gleichen Zeit Widerstand, als es auch eine ganz andere Gruppe deutscher Jugendlicher mit den Nazis aufnahm. Edelweißpiraten ist ein faszinierendes Werk, das von der proletarischen Opposition gegen die Nazis in der Stadt Köln erzählt. Nach Aussagen von überlebenden Mitgliedern der Gruppe nahmen allein in Köln zwischen 2.000 und 3.000 Jugendliche an den Aktionen der Edelweißpiraten teil. Weitere Gruppen von Edelweißpiraten waren während des Krieges im ganzen Ruhrgebiet aktiv. Ursprünglich beschränkte sich die Gruppe auf Straßenkämpfe mit Mitgliedern der Hitlerjugend, aber mit der Zeit nahmen ihre Aktionen immer offenere Formen des politischen Widerstands an.

Nach der Niederlage bei Stalingrad bemühte sich die Naziführung verzweifelt darum, Opposition im Innern zu ersticken. Die Führer der Edelweißpiraten wurden verhaftet, ins Gefängnis geworfen und dann von der Gestapo gehenkt. Während Sophie Scholl und die Weiße Rose wegen ihres Widerstands gegen die Nazis vom deutschen Staat offiziell anerkannt und geehrt wurden, sind die hingerichteten und überlebenden Mitglieder der Edelweißpiraten immer noch nicht rehabilitiert worden.

Zwei weitere wichtige Beiträge auf dem diesjährigen Filmfestival stachen heraus.

Fateless

Fateless ist der erste Film von Regisseur Lájos Koltai, der bei vielen Filmen des bekannten ungarischen Regisseurs István Szabó (Mephisto, Oberst Redl) als Kameramann mitwirkte. Fateless basiert auf dem weitgehend autobiografischen Roman eines Schicksallosen vom ungarischen Schriftsteller Imre Kertész, der auch das Drehbuch für den Film verfasst hat.

Zu Beginn des Films lernen wir den jungen Gyorgy Koves kennen, Sohn einer wohlhabenden jüdischen Familie in Budapest. Im Juni 1944 wurden die ungarischen Juden auf Befehl der Nazis von ungarischen Truppen systematisch zusammengepfercht und deportiert. Ihr erster Halt war Auschwitz. Diejenigen, die arbeiten konnten (oder ein falsches Alter angegeben hatten), entkamen den Gasöfen und wurden auf Arbeitslager in ganz Deutschland verteilt.

In einem Seufzer der Verzweiflung am Ende des Zweiten Weltkriegs hatte der deutsche Philosoph und Vertreter der Frankfurter Schule Theodor Adorno erklärt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Trotz Adorno haben Autoren natürlich weiterhin Gedichte verfasst, nachdem die Gräueltaten der Nazis in den Lagern bekannt wurden. Aber eine ähnliche Frage ist in Filmkreisen diskutiert worden: Inwiefern ist es möglich (und wünschenswert) im Film das zu zeigen, was sich in den Lagern abspielte? Die entsetzlichen Filmaufnahmen der ausgezehrten Opfer, die amerikanische Kameramänner am Ende des Krieges in den Lagern machten, sind wohlbekannt, aber Filmemacher haben davor zurückgescheut, die Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung in den Lagern als Thema zu bearbeiten.

Kertész selbst hatte erklärt, dass die Massenvernichtung der Juden unmöglich im Film darzustellen sei. Nichtsdestotrotz hat sich Koltai auf der Grundlage von Kertész’ Skript enorme Mühe gegeben, das Elend und Trauma des Lebens von Tag zu Tag im Arbeitslager nachzubilden. Das Ergebnis ist zutiefst bewegend und verstörend.

In eisiger Kälte, auf schlammigem Boden und inmitten von Wasserlachen führen die dünn bekleideten Häftlinge Knochenarbeit aus. Ihre einzige Entschädigung ist dünne Grütze und etwas Brot am Ende des Tages.

Früh im Film gibt ein erfahrener Lagerinsasse Gyorgy wertvolle Ratschläge, die ihm beim Überleben helfen sollen. Gib nie die Hoffnung auf nach Hause zurückzukehren, sagte er dem Jungen, und behalte immer einen Krumen Brot in deiner Tasche. Das Stück Brot bedeutet Respekt für sich selbst - die Selbstdisziplin, die notwendig ist, um ein kleines Stückchen Brot aufzuheben, obwohl man verhungert. Trotz dieser entsetzlichen Umstände sind Funken der Menschlichkeit und Solidarität zu sehen - an einem Punkt ist Gyorgy vor Kälte gelähmt und unfähig weiterzugehen. In der Eiseskälte zieht sich ein anderer Gefangener sein fadenscheiniges Hemd aus und legt es dem schwachen Gyorgy um.

Unglücklicherweise ist die Filmmusik des bekannten italienischen Komponisten Ennio Morricone übertrieben sentimental und monoton. Nichtsdestotrotz verdient der Film, der eine intensive Debatte über ein in Ungarn selbst weitgehend vernachlässigtes Kapital der Geschichte ausgelöst hat, ein großes Publikum.

Panzerkreuzer Potemkin

Ein großes Ereignis bei der diesjährigen Berlinale war die Aufführung einer restaurierten Version von Sergej Eisensteins Meisterwerk Panzerkreuzer Potemkin, das von der ersten Russischen Revolution des Jahres 1905 handelt. Als der Film zu ersten Mal im Ausland gezeigt wurde, 1926 in Berlin, erregte er großes Aufsehen und wurde zum Film des Jahres gewählt. Mehr als dreißig Jahre später, 1958, beauftragte die belgische Cinémathéque Royale ein Gremium von Filmexperten, das hauptsächlich aus Regisseuren bestand, den "besten Film aller Zeiten" zu bestimmen. Der Sieger war, wieder einmal, Panzerkreuzer Potemkin.

Trotz der Popularität und Bekanntheit ist nun klar, dass die Filmversion, die in Berlin und international gezeigt wurde, sich erheblich von der Originalversion unterscheidet, die das russische Publikum bei der Moskauer Premiere im Jahre 1926 zu sehen bekam. Noch in Deutschland wurden die fünf Akte von Eisensteins Original auf sechs ausgebaut und Schlüsselszenen entweder herausgeschnitten oder überarbeitet.

Bedeutenderweise wurde die ursprüngliche Einleitung des Films, die auf einem Zitat des russischen Revolutionsführers Leo Trotzki basierte, aus der Version herausgenommen, die in Berlin zu sehen war. Nachdem er die deutsche Version gesehen hatte, lautete Eisensteins eigenes Urteil, der Film zeige nicht länger "ein Glied in der Kette der revolutionären Arbeiterklasse Russlands" und nicht mehr den ersten Akt des sozialen Aufbegehrens, das zum Roten Oktober führte, sondern "eine Art Unfall, eine untypische Meuterei vor einem historisch neutralen Hintergrund".

Gewissenhafte Arbeit in Filmarchiven durch ein Team unter der Leitung des Filmhistorikers und Restaurators Enno Patalas hat dem Film seine ursprüngliche Form zurückgegeben und Panzerkreuzer Potemkin ist einmal mehr vor einem großen und begeisterten Publikum in Berlin aufgeführt worden. Der Film wurde von Musik begeleitet, die der deutsche Komponist Edmund Meisel extra für die Premiere 1926 geschrieben hatte. Das Deutsche Filmorchester Babelsberg spielte live bei den Aufführungen.

Weitere Artikel zur 55. Berlinale werden sich detaillierter mit einigen der oben erwähnten Filme auseinandersetzen.

Siehe auch:
"Weiße Raben - Alptraum Tschetschenien"
(18. Februar 2005)
"Hotel Rwanda": Film on African catastrophe conceals more than it reveals
( 25. Januar 2005)
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