Zweiter Vortrag: Marxismus gegen Revisionismus am Vorabend des 20. Jahrhunderts

Die Socialist Equality Party (USA) und die World Socialist Web Site veranstalteten vom 14. bis 20. August 2005 eine Sommerschule in Ann Arbor, Michigan. Der vorliegende Vortrag stammt von David North, dem Chefredakteur der WSWS.

Der Triumph des Marxismus

Das Anwachsen der sozialistischen Bewegung in Europa und der zunehmende Einfluss des Marxismus auf die Arbeiterklasse in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zählen zu den außergewöhnlichsten politischen und intellektuellen Erscheinungen der Weltgeschichte. Gegen Ende des Jahres 1849 war Marx als politischer Flüchtling nach England gekommen, Engels folgte ihm wenig später. Während der nächsten zwei Jahrzehnte setzte Marx seine theoretischen Studien zu den Bewegungsgesetzen der kapitalistischen Gesellschaft unter den schwierigsten persönlichen Umständen fort. Ein Brief an Engels vom 8. Januar 1863 vermittelt uns eine Vorstellung von dem, was Marx ertrug:

"Mag der Teufel wissen, daß nichts als Pech jetzt in unsern Kreisen sich ereignet. Ich weiß auch absolut nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Meine Versuche, in Frankreich und Deutschland Geld aufzutreiben, sind gescheitert, und es war natürlich vorherzusehen, daß ich mit 15 £ die Lawine nur ein paar Wochen abhalten konnte. Abgesehen davon, daß wir nichts mehr kreditiert erhalten, außer Metzger und Bäcker, was auch mit Ende dieser Woche aufhört, bin ich wegen der Schule getreten, wegen der Miete und von der ganzen Rotte. Die paar, die ein paar Pfund Abzahlung erhielten, haben sie pfiffig eingesteckt, um mit doppelter Gewalt über mich herzufallen. Dazu haben die Kinder keine Kleider und Schuhe, um auszugehen. Kurz, der Teufel ist los [...]

Es ist scheußlich egoistisch von mir, daß ich Dir in diesem Augenblick diese horreurs erzähle. Aber das Mittel ist homöopathisch. Ein Unheil zerstreut das andre. Und, au bout du compte, was soll ich machen? In ganz London ist kein einziger Mensch, gegen den ich mich auch nur frei aussprechen kann, und in meinem eignen Hause spiele ich den schweigsamen Stoiker, um den Ausbrüchen von der andern Seite das Gegengewicht zu halten. Arbeiten aber under such circumstances wird rein unmöglich." [1]

Nur drei Tage, bevor dieser Brief geschrieben wurde, hatte Marx die Vorarbeiten zum Hauptteil seiner monumentalen dreibändigen Theorien über den Mehrwert abgeschlossen, ein bedeutender Schritt zum Verfassen des Kapitals, dessen erster Band im August 1867 erschien.

Innerhalb von 25 Jahren nach der Fertigstellung des Kapitals - ein Werk, dessen Veröffentlichung von den bürgerlichen Ökonomen jener Zeit praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde - lieferte der Marxismus die theoretische Inspiration und Führung für das Wachstum der ersten Massenpartei in Europa. Dass dieser Triumph sich in Deutschland vollzog, war dabei kein Zufall. Der Marxismus fand zum ersten Mal ein Massenpublikum in der Arbeiterklasse des Landes, in dem das kulturelle und intellektuelle Leben in der Ära der Aufklärung ein Niveau von beinahe unvorstellbarer Brillanz erreicht hatte.

Das große Erbe des klassischen deutschen idealistischen Philosophie - am stärksten repräsentiert von Kant, Fichte und vor allem Hegel - wurde nach der Revolution von 1848 durch Marx und Engels an die Arbeiterklasse weitergegeben. Tatsächlich hatte Marx die außergewöhnliche Rolle der Philosophie vorhergesehen, die diese - befreit von allem idealistischen Drumherum, auf einer materialistischen Basis kritisch überarbeitet, verwurzelt in der Natur und gerichtet auf ein Studium der ökonomischen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft - bei der Befreiung der deutschen Arbeiterklasse spielen sollte. Er schrieb im Jahre 1843:

"Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift." [2]

"Wie die Philosophie im Proletariat ihre materiellen, so findet das Proletariat in der Philosophie seine geistigen Waffen [...] Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen. Der Kopf dieser Emanzipation ist die Philosophie, ihr Herz das Proletariat. Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie." [3]

Diese Passage wurde geschrieben, als Marx seine Kritik der idealistischen Philosophie Hegels in Angriff nahm. Das Herausarbeiten des rationalen Kerns von Hegels idealistischem System - d.h. die Überarbeitung der Dialektik von Kategorien und Begriffen, die von Hegel als die Selbstentfremdung und Rekonstruktion der Absoluten Idee verstanden wurde, auf materialistischer Grundlage - bedeutete eine theoretisch-intellektuelle Errungenschaft von größter Bedeutung. Die Hinausgehen über den Hegelianismus war allerdings nicht durch eine Kritik möglich, die in den Grenzen des spekulativen Denkens verharrte. Vor Marx hatte bereits der deutsche Philosoph Feuerbach die Grundlagen für eine materialistische Kritik des Hegelianismus gelegt. Doch Feuerbachs Kritik war beschränkt durch den vorwiegend naturalistischen und mechanischen Charakter seines Materialismus. Der "Mensch" lebte nach Feuerbachs Philosophie in der Natur, aber nicht in der Geschichte. Solch einem ahistorischen Wesen fehlte jede gesellschaftliche Konkretheit.

Feuerbach beharrte zwar auf dem Primat der Materie vor dem Denken, doch er konnte auf dieser Basis nicht die Komplexität und Vielfalt der Formen menschlichen Bewusstseins erklären. Insbesondere war er nicht in der Lage, eine Erklärung für die Änderungen im Bewusstsein zu liefern, die sich im Laufe der historischen Entwicklung des Menschen zeigten.

Das Europa und Deutschland, in das Hegel 1770 und Feuerbach 1804 hineingeboren waren, wurden durch die Umwälzungen der Französischen Revolution und die Napoleonischen Kriege verwandelt. Aber wie waren solche Ereignisse zu erklären? Waren sie einfach nur das Produkt der Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Und selbst wenn man die Macht dieser Ideale anerkannte, von woher kamen sie? Die Antwort Hegels - dass diese Ideale als logisch determinierte Momente in der Selbstentfremdung der Absoluten Idee entstanden - war völlig unangemessen, um einen konkreten historischen Prozess zu erklären. Nur indem man die Geschichte des Menschen als gesellschaftliches Wesen studierte, wurde es möglich, auf einer materialistischen Basis die Ursprünge und die Entwicklung des gesellschaftlichen Bewusstseins abzuleiten.

Die wesentlichen Elemente der materialistischen Geschichtskonzeption wurden von Marx und Engels im Laufe von drei außergewöhnlichen Jahren entwickelt - zwischen 1844 und 1847. Während dieser Zeit schrieben sie Die heilige Familie, Das Elend der Philosophie und schließlich Das Manifest der kommunistischen Partei. Während der nächsten 20 Jahre lieferte Marx’ Studium der politischen Ökonomie, aus dem Das Kapital hervorging, die theoretische Untermauerung der dialektischen Methode der Analyse wie auch der materialistischen Geschichtskonzeption. Im Jahre 1859, als Marx Arbeit zur politischen Ökonomie bereits sehr weit fortgeschritten war, fasste er den "Leitfaden" seines theoretischen Werkes folgendermaßen zusammen:

"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. [4]

Auch nach fast 150 Jahren überwältigt einen die durchdringende Kraft der ontologischen und erkenntnistheoretischen Prinzipien, die in dieser Passage vorgebracht werden. Wie gering, intellektuell unreif und, um es direkt zu sagen, dumm erscheinen die zynischen Postulate der Postmodernisten, wenn man sie vergleicht mit Marx’ Ausführungen zu den Treibkräften der Geschichte und den Grundlagen des menschlichen Bewusstseins in all seinen komplexen Formen. Wie die andere erstaunliche Errungenschaft des Jahres 1859, Darwins Über die Entstehung der Arten, bedeuteten die theoretischen Konzeptionen, die Marx in seinem Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie dargelegt hatte, einen höchst bedeutenden Meilenstein in der intellektuellen Entwicklung der Menschheit. Tatsächlich besteht ein tiefer innerer Zusammenhang zwischen den beiden Werken.

Marx und Darwin haben mit diesen Werken nicht nur das Studium der Geschichte, bzw. das Studium der Biologie und Anthropologie für immer verändert. Das trifft natürlich zu und ist keine kleine Errungenschaft. Aber diese Werke sind noch mehr. Im Jahre 1859, durch das Werk von Marx und Darwin, war der Mensch endlich an dem Punkt angelangt, wo es ihm möglich war, die Gesetzen unterliegenden Prozesse seiner eigenen biologischen und sozioökonomischen Entwicklung zu erkennen. Die intellektuellen Vorbedingungen waren nun gegeben, damit der Mensch bewusst in den bis dahin unbewussten Prozess seiner eigenen biologischen und gesellschaftlichen Entwicklung eingreifen konnte.

Das Anwachsen des sozialistischen Einflusses und die bürgerliche Gegenoffensive

Wenn auch zunächst langsam, so machte sich der Einfluss des theoretischen Werks von Marx und Engels doch bemerkbar. Die Erste Internationale, gegründet 1864, war trotz der erbitterten Konflikte mit Bakunin und seinen Anhängern ein wichtiges Forum zur Verbreitung marxistischer Ideen. Im August 1869 wurde auf einer Versammlung in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei gegründet. Diese Partei stützte sich nicht auf ein theoretisch einheitliches marxistisches Programm. Die Konzeptionen von Lassalle übten - auch über viele weitere Jahre noch - einen beträchtlichen politischen Einfluss auf die deutsche Arbeiterklasse aus.

Doch im darauf folgenden Jahrzehnt erlangte der Marxismus eine dominante Stellung unter den sozialistisch gesonnenen Arbeitern in Deutschland. Die Bemühungen des Bismarck-Regimes, die Sozialdemokratische Partei zu unterdrücken, erwiesen sich als kontraproduktiv. Bei den Wahlen des Jahres 1890, elf Jahre nachdem der Staat die so genannten "Sozialistengesetze" in Kraft gesetzt hatte, erhielt die SPD 19,7 Prozent der Stimmen. Das Auftreten der Arbeiterklasse als mächtige politische Kraft, geführt von einer Partei, die in ihrem Programm die Totenglocke der bürgerlichen Ordnung anschlug, musste unvermeidlich weitreichende Folgen für die allgemeinen intellektuellen und politischen Anschauungen der herrschenden Klasse haben.

In den 1880-er Jahren konnte die Bourgeoisie den wachsenden und immer mächtigeren Einfluss des Marxismus auf das politische und intellektuelle Leben in Europa nicht mehr ignorieren. Sie stellte fest, dass ein so gewaltiger Angriff auf die existierende gesellschaftliche Ordnung nicht Bismarck und seiner politischen Polizei überlassen werden konnte. Auch reichte die einfache Verurteilung des Sozialismus nicht aus. Der Kampf gegen den Sozialismus nahm unvermeidlich eine ausgefeiltere ideologische Form an. In verschiedenen und vielfältigen Bereichen - Ökonomie, Soziologie und Philosophie - nahmen intellektuelle Vertreter der Bourgeoisie den Kampf mit dem Marxismus auf und versuchten Schwächen in seinen theoretischen Grundlagen zu finden. Ein beharrliches Element der neuen Kritik, die mit einer Wiederbelebung der Kantschen Philosophie verbunden war, lautete, dass sich der Marxismus fälschlich als Wissenschaft darstelle.

Die neuen Gegner argumentierten, der Marxismus könne keine Wissenschaft sein, weil seine nicht zu leugnende Verbindung mit einer politischen Bewegung ihn der Objektivität und Distanziertheit beraube, die die Vorbedingungen für wissenschaftliche Forschung seien. Der Soziologe Emile Durkheim schrieb, dass Marx’ Forschung "unternommen wurde, um eine Doktrin zu etablieren [...], weit entfernt davon, dass die Doktrin das Resultat der Forschung sei. [...] Es war die Leidenschaft, die all diese Systeme inspirierte; was sie hervorbrachte und ihnen Stärke verlieh, ist der Hunger nach einer höheren Gerechtigkeit [...] Der Sozialismus ist keine Wissenschaft, keine Soziologie en miniature, er ist ein Schmerzensschrei". [5] Der liberale italienische Historiker Benedetto Croce argumentierte auf ähnliche Weise, dass der Marxismus keine Wissenschaft sein könne, weil seine Schlussfolgerungen das Ergebnis revolutionärer politischer Leidenschaften seien. [6]

Über ein Jahrhundert hinweg konzentrierten sich die bürgerlich-liberalen Angriffe auf die Gültigkeit des Marxismus darauf, seinen wissenschaftlichen Charakter zu leugnen. Diese Kritik beinhaltete immer eine Verfälschung dessen, was Marx und Engels mit der Aussage meinten, sie hätten den Sozialismus auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt. Sie haben niemals behauptet, sie hätten Gesetze entdeckt, die den sozioökonomischen Prozess so exakt steuern, wie dies bei physikalischen Gesetzen der Fall ist, mit denen sich die Bewegungen und Umlaufbahnen von Planeten und interstellaren Phänomenen bestimmen lassen. Solche Gesetze existieren nicht.

Dies beeinträchtigt jedoch keineswegs den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus, der folgendermaßen verstanden werden muss: Die Projekte und Ideen einer früheren Generation utopischer Denker konnten keine notwendige, objektive kausale Beziehung zwischen den bestehenden Gesellschaftsverhältnissen und den eigenen Plänen zur Reform und Neugestaltung der Gesellschaft herstellen. Von ihnen unterschied sich der Sozialismus von Marx und Engels. Sie überwanden diese Beschränkung erstens mit der Ausarbeitung eines materialistischen Geschichtsverständnisses und zweitens mit der Entdeckung der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise. Dass diese Gesetze sich als Tendenzen äußern und nicht in vollständig voraussagbaren und wiederkehrenden Abläufen, ist kein Mangel des Marxismus, sondern eine Folge des heterogenen und in sich widersprüchlichen Charakters der objektiven gesellschaftlichen Realität.

Allgemein gesprochen haben die Entdeckung und der Nachweis der entscheidenden Rolle, die ökonomische Prozesse und Beziehungen in der menschlichen Gesellschaft spielen, es möglich gemacht, die Geschichte zu entmystifizieren und bewusst zu verstehen. Die Kategorien, die Marx im Laufe seiner Untersuchung des Kapitalismus entwickelte, bereicherte und anwandte - wie Arbeitskraft, Wert, Profit - waren abstrakte theoretische Ausdrücke realer, objektiv existierender sozioökonomischer Beziehungen.

Die Behauptung, dass politische Parteinahme mit wissenschaftlicher Objektivität nicht zu vereinbaren sei, ist ein Scheinargument. Die Validität von Forschung wird weder durch Parteinahme ausgeschlossen noch durch Gleichgültigkeit garantiert. Parteinahme ist kein Argument gegen den wissenschaftlichen und objektiven Charakter des Marxismus; es müsste bewiesen werden, dass die Parteinahme die Integrität der Untersuchung in Mitleidenschaft gezogen und nachweislich zu falschen Schlussfolgerungen geführt hat.

Mitte der 1890er Jahre machte sich die beharrliche bürgerliche Kritik am Marxismus innerhalb der sozialistischen Bewegung bemerkbar. Eduard Bernstein, eine der wichtigsten Gestalten in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, begann - zunächst vorsichtig und dann mit dem zügellosen Enthusiasmus, wie er für politische Renegaten charakteristisch ist - seine Einwände gegen das revolutionäre Programm des Marxismus zu artikulieren. Angesichts der prominenten Stellung, die Bernstein in der deutschen und internationalen sozialistischen Bewegung innehatte - er war der Nachlassverwalter von Friedrich Engels - wurde seine Kritik am Marxismus unvermeidlich zu einer politischen cause célèbre, die interne Kämpfe in den sozialistischen Parteien ganz Europas auslöste. Das Ausmaß des Konflikts über Bernsteins "Revision" des Marxismus, das Bernstein weder erwartet noch gewollt hatte, machte deutlich, dass der Disput tiefe gesellschaftliche und nicht nur rein persönliche Wurzeln hatte.

Wie ich bereits bemerkt habe, hatten bürgerliche Theoretiker - als eine Art ideologischer Verteidigungsmechanismus - in den 1890er Jahren begonnen, aggressiv auf das Anwachsen der sozialistischen Bewegung zu reagieren. Doch die Wirkung dieser Gegenoffensive war durch bedeutende Veränderungen im weltweiten ökonomischen Klima bedingt. Die lang anhaltende Wirtschaftsdepression, die Mitte der 1870er Jahre begonnen hatte, machte endlich einer Erholung der Profitrate und einer robusten Expansion in Industrie und Finanzen Platz. Trotz einiger Rückschläge hielt die wirtschaftliche Expansion, die in den 1890er Jahren begann, bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs an. Grob empirisch und positivistisch betrachtet stellten die sichtbare Stärkung der grundlegenden Indizes der kapitalistischen Produktion und des Handels sowie die positiven und spürbaren Folgen für den Lebensstandard großer Teile des Kleinbürgertums und Schichten der Arbeiterklasse, die damit einher gingen, die marxistische Analyse des kapitalistischen Systems - und insbesondere seines baldigen revolutionären Zusammenbruchs - in Frage

Hinter den Widersprüchen der deutschen Arbeiterbewegung stand die massive Industrialisierung Deutschlands nach dem französisch-preußischen Krieg von 1870 und der formalen Gründung des Kaiserreiches 1871 (die die Einigung Deutschlands unter Bismarck abschloss). Sie ermöglichte das außergewöhnlich schnelle Wachstum der Arbeiterbewegung und die formale Annahme des Marxismus als theoretische, revolutionäre Grundlage ihres Programms, aber auch das Anwachsen des Revisionismus.

Die neuen Industrien Deutschlands entwickelten sich auf der Grundlage modernster Technologien, woraus eine gebildete und hochqualifizierte Arbeiterklasse hervorging. In dieser Schicht fanden die marxistischen Auffassungen ein aufgeschlossenes Publikum. Darüber hinaus leistete die ängstliche liberale Bourgeoisie keinen ernsthaften Widerstand gegen den erzreaktionären Hohernzollern-Bismarckschen Staat, der die politische Macht in den Händen einer Grundbesitzerelite konzentrierte, die tief in der Tradition des preußischen Militarismus verwurzelt war und jede Form von Demokratie für das Volk mit pathologischem Hass ablehnte.

Die sozialistische Bewegung war der Brennpunkt der Massenopposition gegen den Staat. Die Sozialdemokratie schuf ein gewaltiges Netzwerk von Organisationen, das buchstäblich jeden Aspekt des Lebens der Arbeiterklasse umfasste. Die SPD unter der Führung von August Bebel stellte einen "Staat im Staate" dar. Wilhelm II mochte der Kaiser des Deutschen Reiches sein, doch Bebel - der sein gesamtes Erwachsenenleben seit den frühen 1860er Jahren dem Aufbau der sozialistischen Bewegung gewidmet hatte und dafür u.a. fünf Jahre im Gefängnis zubrachte - wurde in der Bevölkerung als "Kaiser" der Arbeiterklasse betrachtet.

Die Praxis der sozialistischen Bewegung, die sich aus den schwierigen Kämpfen gegen die Sozialistengesetze der 1880er Jahre ergab, konzentrierte sich auf die systematische Entwicklung und Stärkung ihrer Organisationen. Das legendäre deutsche Organisationstalent wurde durch die theoretischen Einsichten, die der Marxismus bot, noch gesteigert. Darüber hinaus war das Anwachsen der deutschen Arbeiterorganisationen organisch mit der Entwicklung der deutschen Industrie verbunden. Die tragischen politischen Auswirkungen der tiefen inneren Verbindung zwischen der deutschen industriell-ökonomischen Entwicklung und dem Anwachsen der nationalen Arbeiterbewegung wurden in der Krise von 1914 nur allzu deutlich.

Wie schockierend die Ereignisse des Augusts 1914 auch sein mochten, sie waren über eine ziemlich lange Periode vorbereitet worden. Ich werde darauf an späterer Stelle noch ausführlicher eingehen. Ich will aber darauf hinweisen, dass bestimmte Kennzeichen der sozialdemokratischen Bewegung, sowohl organisatorischer wie politisch-praktischer Art, die zur Tragödie von 1914 führen sollten, bereits Mitte der 1890er Jahre in Erscheinung traten.

Mit der Annahme des Erfurter Programms im Jahre 1893 hatte sich die SPD formal zu einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft verpflichtet, doch die Praxis der deutschen sozialistischen Bewegung - die in großem Maße von den vorherrschenden objektiven Bedingungen in einer Periode rascher wirtschaftlicher Expansion geprägt war - hatte einen vorrangig reformistischen Charakter. Trotzki sagte später, dass sich der Marxismus im Deutschland der Hohenzollern in der besonderen Lage befand, eine revolutionäre Perspektive mit einer reformistischen Praxis in Einklang zu bringen. In diesem Rahmen waren zwei Aktionsfelder besonders wichtig: Die Beteiligung an Wahlen, um die sozialdemokratische Vertretung im deutschen Reichstag und verschiedenen Landtagen zu vergrößern, und die Gewerkschaftsarbeit - d.h. die Organisierung und Vertretung der Arbeiter innerhalb der kapitalistischen Industrie.

In beiden Bereichen erzielte die SPD bedeutende praktische Resultate, für die sie aber vom revolutionär-strategischen Standpunkt betrachtet einen hohen Preis zahlte. Die Arbeit der Parlamentsfraktionen warf in unzähligen Formen das Problem auf, wie die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse vom bürgerlichen Staat gewahrt werden konnte, während gleichzeitig der Druck stieg, praktische Ergebnisse zu erzielen. Obwohl die SPD die größte politische Partei in Deutschland war, hatten ihre aristokratischen und bürgerlichen Gegner im Reichstag zusammen die Mehrheit. Auf sich allein gestellt konnte sie nichts weiter tun, als sich als parlamentarische Minderheit gegen Maßnahmen der Regierung zu stellen.

Für diese frustrierende Situation gab es keine einfachen oder gar prinzipiellen Lösungen. Es gab aber Elemente innerhalb der Sozialdemokratie, insbesondere in Süddeutschland, die eine Lösung sahen - in einer Art parlamentarischen Allianz mit den bürgerlichen Liberalen. Die nationale Führung lehnte das ab und Bebel weigerte sich, diese Form der Klassenkollaboration im Reichtag zu sanktionieren, wo er die Parteifraktion führte. Aber der Druck, mit Teilen der deutschen Bourgeoisie praktisch zusammenzuarbeiten, war da.

Der andere Arbeitsbereich, die Gewerkschaften, warf sogar noch größere Probleme auf. Die SPD hatte sich in den 1870er und 1880er Jahren als Geburtshelferin für die deutschen Gewerkschaften betätigt. Sie stellte die Führung und finanzierte die Gewerkschaften in ihrer Entwicklungsphase. Doch zu Beginn der 1890er Jahre begann sich das Kräfteverhältnis zwischen den Gewerkschaften und der Partei zu verändern. Die Gewerkschaften wuchsen schneller als die Partei, und letztere wurde mit der Zeit immer stärker von der organisatorischen und finanziellen Unterstützung der Gewerkschaften abhängig. Die großen Gewerkschaften in Deutschland wurden von Sozialdemokraten geleitet, die formal der politischen Linie verbunden blieben, die die Bebel-Fraktion in der SPD-Führung vertrat. Doch die tagtägliche Arbeit der Gewerkschaftsführer wies unvermeidlich einen allgemein reformistischen Charakter auf.

Selbst wenn die theoretischen Formeln Bernsteins direkt auf den Einfluss verbreiteter und vorherrschender Tendenzen in der bürgerlichen antimarxistischen Philosophie zurückzuführen war, lag der materielle Impuls für Bernsteins Revisionismus in den objektiven sozioökonomischen Bedingungen in Europa und Deutschland. In diesem objektiven Zusammenhang entstand Bernsteins Revisionismus als theoretischer Ausdruck einer generell reformistischen Praxis der deutschen sozialistischen Bewegung. Da diese objektiven Voraussetzungen und Formen praktischer Aktivität in geringerem oder stärkerem Maße auch in anderen Ländern existierten, fand Bernsteins Reformismus ein internationales Echo.

Der Revisionismus von Eduard Bernstein

Wann trat Bernsteins Revisionismus erstmals in Erscheinung? Es gab viele Symptome. Bernstein hatte bereits früh in seinem sozialistischen Werdegang eine Anfälligkeit gezeigt, den revolutionären Marxismus mit einem kleinbürgerlichen humanistischen Jargon zu verwässern. In den späten 1870er Jahren hatte sich Bernstein mit Karl Höchberg zusammengetan, einem wohlhabenden Gönner der jungen sozialdemokratischen Bewegung, der glaubte, der Sozialismus hätte als volkstümliche, alle Klassen umfassende Bewegung bessere Erfolgaussichten und sollte insbesondere auf moralischer Grundlage an die Mittelklasse appellieren. Unter dem Druck von Bebel und Engels trat Bernstein von diesem Standpunkt zurück; aber wie es so oft in der Politik der Fall ist, stellte sich das, was zunächst als Jugendsünde erschien, schließlich als frühes Symptom einer politischen Tendenz heraus.

Später siedelte Bernstein nach England über, wo er freundschaftliche Beziehungen zur reformistischen Bewegung der Fabier entwickelte. Höchstwahrscheinlich haben die Erfahrungen in Großbritannien, wo sich nach dem Zusammenbruch des revolutionären Chartismus der Reformismus in der Arbeiterbewegung wie Unkraut ausbreitete, einen tiefen Einfluss auf Bernstein ausgeübt. Im reichen Großbritannien, mit seiner stabilen Mittelklasse und einem tief verwurzelten parlamentarischen System, schienen Bernstein die Aussichten auf einen revolutionären Sturz des Kapitalismus in sehr weiter Ferne.

Zu Beginn des Jahres 1895 war Engels zutiefst erschüttert, als er entdeckte, dass seine Einleitung zu einer neuen Ausgabe von Marx’ 1850 verfassten Buch Die Klassenkämpfe in Frankreich von Bernstein und Kautsky verändert worden war. Die veränderte Fassung hinterließ den Eindruck, der alte Revolutionär sei zu einem Anhänger des friedlichen Wegs zum Sozialismus geworden. Am 1. April 1895, nur vier Monate vor seinem Tod, schrieb Engels wütend an Kautsky:

"Zu meinem Erstaunen sehe ich heute im ‚Vorwärts’ einen Auszug aus meiner ‚Einleitung’ ohne mein Vorwissen abgedruckt und derartig zurechtgestutzt, daß ich als friedfertiger Anbeter der Gesetzlichkeit quand même dastehe. Um so lieber ist es mir, daß das Ganze jetzt in der N[euen] Z[eit] erscheint, damit dieser schmähliche Eindruck verwischt wird. Ich werde L[ieb]k[necht] sehr bestimmt darüber meine Meinung sagen und auch denjenigen, die, wer sie auch seien, ihm diese Gelegenheit gegeben haben, meine Meinung zu entstellen, und das, ohne mir ein Wort mitzuteilen." [7]

Im Oktober 1896, etwas mehr als ein Jahr nach Engels Tod, veröffentlichte Bernstein einen Artikel zur Frage der "Probleme des Sozialismus", mit dem seine offene Zurückweisung des revolutionären Programms des Marxismus formal seinen Anfang nahm. Er begann seinen Artikel damit, die raschen Fortschritte und den wachsenden Einfluss der sozialistischen Bewegung in Europa herauszustellen. Selbst die bürgerlichen Parteien müssten den Forderungen Gehör schenken, die die Sozialisten aufstellten. Auch wenn diese Erfolge nicht bedeuteten, dass der Sozialismus kurz vor dem entgültigen Sieg stände, argumentierte Bernstein, so sei es doch sicherlich notwendig geworden, die größtenteils negative Einstellung aufzugeben, die die sozialistische Bewegung zur existierenden Realität einnehme. Anstelle dessen hätten die Sozialisten "mit positiven Reformvorschlägen herauszutreten". [8]

Im Laufe der nächsten zwei Jahre sollte Bernstein seine Kritik am orthodoxen Marxismus ausarbeiten, die schließlich in der Veröffentlichung von Die Vorbedingungen des Sozialismus gipfelte. Seine Schriften machten deutlich, dass es buchstäblich kein Element des Marxismus gab, mit dem Bernstein übereinstimmte. Er wies das philosophische Erbe Hegels und das Eintreten für die dialektische Methode zurück. Er argumentierte, dass die tatsächliche Entwicklung des Kapitalismus die ökonomische Analyse von Marx widerlegt hätte. Insbesondere lehnte er das ab, was er "sozialistische Katastrophitis" nannte - die Überzeugung, dass sich der Kapitalismus aufgrund seiner inneren Widersprüche auf eine extreme Krise hinbewege. Während er die Möglichkeit periodischer Krisen akzeptierte, bestand Bernstein darauf, dass der Kapitalismus "Anpassungsmittel" - wie etwa das Kreditwesen - entwickelt habe und entwickeln werde, durch die solche Krisen entweder endlos hinausgezögert oder gemildert werden könnten.

In jedem Fall, so Bernstein, sollte die Zukunft des Sozialismus nicht an die Unvermeidlichkeit einer größeren Krise im kapitalistischen System gebunden werden. 1898 schrieb er an den Stuttgarter Parteitag der Sozialdemokratischen Partei:

"Ich bin der Anschauung entgegengetreten, daß wir vor einem in Bälde zu erwartenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft stehen und daß die Sozialdemokratie ihre Taktik durch die Aussicht auf eine solche bevorstehende große soziale Katastrophe bestimmen beziehungsweise von ihr abhängig machen soll. Das halte ich in vollem Umfang aufrecht." [9]

Dies war ein zentraler Punkt: Es ging nicht darum, die Form, die eine "Katastrophe" annehmen würde, präzise und detailliert vorherzusagen. Solche Vorhersagen, die zu allen Zeiten und unter allen Umständen richtig sind, können nicht getroffen werden. Es ging vielmehr um die Frage, ob es überhaupt eine objektive und notwendige Verbindung zwischen der Entwicklung des Sozialismus und tatsächlich existierenden inneren Widersprüchen des kapitalistischen Systems gibt oder nicht. Wenn solch eine Verbindung nicht existiert, dann ist es unmöglich, vom Sozialismus als einer historischen Notwendigkeit zu sprechen.

Wenn keine Notwendigkeit besteht, welchen Grund gibt es dann für den Sozialismus? Bernstein zufolge konnte und sollte der Sozialismus auf einer moralischen und humanistischen Grundlage vertreten werden - d.h. als politische Anwendung von Kants Kategorischem Imperativ, der die folgende Anweisung beinhaltet: "Handle so, dass Du den Menschen, in Deiner eigenen Person wie in der jedes anderen, immer als Ziel, niemals als Mittel ansiehst."

Bernsteins Bemühungen um eine moralische Basis für den Sozialismus waren nicht originell. In den 1890er Jahren gab es eine einflussreiche Gruppe von neokantianischen Akademikern, die der Überzeugung waren, Kants Kategorischer Imperativ führe logisch zum Sozialismus. Einige, wie der prominente neokantianische Philosoph Morris Cohen, erklärten Kant auf der Grundlage seiner Moral "zum wahren und wirklichen Begründer des deutschen Sozialismus". [10]

Dies war ebenso falsch wie naiv. Der Kategorische Imperativ nimmt im Bereich des moralischen Verhaltens den gleichen Platz ein, wie der gesunde Menschenverstand im Alltagsverhalten des Durchschnittsmenschen. So wie der Einsatz des gesunden Menschenverstandes in anspruchslosen Situationen recht befriedigende Resultate zeitigen kann, kann der Kategorische Imperativ innerhalb eines begrenzten gesellschaftlichen Rahmens als Richtschnur für akzeptables Verhalten dienen. Im Bereich rein privater und persönlicher Beziehungen wäre es äußerst begrüßenswert, wenn die Mitmenschen als Ziel und nicht als Mittel betrachtet würden. Aber im öffentlichen Bereich ist ein striktes Festhalten an diesem Imperativ höchst problematisch.

Ernsthaft politisch betrachtet ist die universelle Anwendung dieser Maxime in einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft unmöglich. Kant lebte zu einer Zeit, als sich der Industriekapitalismus in Deutschland noch kaum entwickelt hatte. Er konnte nicht verstehen, dass sein zentrales ethisches Postulat mit den Produktionsverhältnissen in einer kapitalistischen Gesellschaft objektiv unvereinbar war. Was ist der Lohnarbeiter für den Kapitalisten, wenn nicht das Mittel, mit dem Mehrwert und Profit erzeugt werden?

Innerhalb der deutschen Sozialdemokratischen Partei herrschte ursprünglich große Zurückhaltung, Bernstein öffentlich entgegenzutreten. Die russischen Marxisten, zunächst Parvus und dann Plechanow, bestanden auf einem offenen und umfassenden Kampf gegen Bernsteins Revisionen. Plechanow, der seine theoretischen Polemiken nach dem Motto "ohne Rücksicht auf Verluste" zu verfassen pflegte, schrieb eine Reihe von vernichtenden Essays, die den Bankrott von Bernsteins philosophischen Konzeptionen herausstellten. Diese Essays gehören zu den besten Darstellungen der dialektischen Methode und der theoretischen Grundlagen des Marxismus. Noch bekannter ist die brillante polemische Schrift der 27-jährigen Rosa Luxemburg Sozialreform oder Revolution?. Im ersten Kapitel fasst sie präzise und knapp die Grundfragen zusammen, die sich aus Bernsteins Angriff auf den Marxismus ergeben:

"Die Bernsteinsche Theorie steht vor einem Entweder-Oder. Entweder folgt die sozialistische Umgestaltung nach wie vor aus den objektiven Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung, dann entwickeln sich mit dieser Ordnung auch ihre Widersprüche, und ein Zusammenbruch in dieser oder jener Form ist in irgendeinem Zeitpunkt das Ergebnis, dann sind aber auch die ‚Anpassungsmittel’ unwirksam und die Zusammenbruchstheorie richtig. Oder es sind die ‚Anpassungsmittel’ wirklich solche, die einem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems vorbeugen, also den Kapitalismus existenzfähig machen, also seine Widersprüche aufheben, dann hört aber der Sozialismus auf, eine historische Notwendigkeit zu sein, und er ist dann alles, was man will, nur nicht ein Ergebnis der materiellen Entwicklung der Gesellschaft.

Dieses Dilemma läuft auf ein anderes hinaus: entweder hat Bernstein in bezug auf den Gang der kapitalistischen Entwicklung recht, dann verwandelt sich die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft in eine Utopie, oder der Sozialismus ist keine Utopie, dann muß aber die Theorie der ‚Anpassungsmittel’ nicht stichhaltig sein. That ist the question, das ist die Frage." [11]

Liest man Die Vorbedingungen des Sozialismus, so wundert man sich, dass Bernstein das bedrohliche Rumoren unter der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft am fin de siègle scheinbar überhaupt nicht wahrnahm. Er ging mit einer unglaublichen Selbstgefälligkeit davon aus, dass die Indizes der ökonomischen Entwicklung endlos ansteigen und dabei den Lebensstandard der Massen ständig anheben würden. Die Vorstellung einer größeren Krise erschien Bernstein als reiner Wahnsinn. Selbst die Warnungen, dass die neuen Erscheinungen des Kolonialismus und Militarismus zu einem gewaltsamen Zusammenstoß zwischen den massiv aufgerüsteten kapitalistischen Staaten führen würden - eine der möglichen Formen der bevorstehenden Katastrophe - wurde von Bernstein als Panikmache abgetan. "Wir gewöhnen uns glücklicherweise immer mehr daran", bemerkte er selbstzufrieden, "politische Differenzen anders als durch Schießerei zu erledigen." [12] Und das zu Beginn des 20. Jahrhunderts!

Trotz der Zurückhaltung der SPD-Führer war ein offener Kampf gegen Bernsteins Ansichten nicht zu umgehen. Auch wenn er seine Feder so lang wie möglich liegen ließ, reihte sich schließlich Kautsky - der Papst in Hinblick auf alle theoretischen Fragen innerhalb der deutschen und europäischen sozialistischen Bewegung - in die Reihen gegen Bernstein ein und wies seine Hauptpunkte nüchtern zurück. Auf dem Parteitag von 1898 und allen anderen in den folgenden Jahren wurde Bernsteins Häresie offiziell verurteilt. Auf theoretischer Ebene blieb die Herrschaft des Marxismus unangetastet. Aber auf einer anderen Ebene, der von Parteipraxis und -organisation, hatte der Kampf gegen den theoretischen Revisionismus keinerlei Konsequenzen.

Als Plechanow die SPD aufforderte, Bernstein aus der Partei auszuschließen, wurde der Vorschlag von den Parteiführern rundweg zurückgewiesen. Unter den Parteiführern herrschte kein großes Bedürfnis danach, die sehr reale Verbindung zwischen revisionistischer Theorie und Praxis und Organisation der SPD zu erforschen und offen zu legen. Hätte man dies getan, so wäre unvermeidlich das Verhältnis zwischen der SPD und den Gewerkschaften in Frage gestellt worden, die zumindest nominell unter der Kontrolle der Partei standen.

Es gab viele Gründe, warum die SPD-Führer die Aussichten auf einen offenen Kampf gegen die praktischen Formen des Opportunismus nicht begrüßten, insbesondere diejenigen nicht, die mit der tagtäglichen Praxis der Gewerkschaften verbunden waren. Sie hatten Angst, dass ein solcher Kampf die Partei spalten, einen Riss in den Reihen der Arbeiterklasse erzeugen, die Jahrzehnte des organisatorischen Fortschritts unterhöhlen und sogar die staatliche Unterdrückung der SPD erleichtern könnte. Dies waren gewichtige Bedenken. Und doch waren die Konsequenzen daraus, dass die SPD den Kampf gegen den politischen Opportunismus vermied, weitreichend und tragisch.

Zudem war der Revisionismus nicht einfach ein deutsches Problem. Er zeigte sich in verschiedenen Formen in der gesamten Zweiten Internationale. Im Jahre 1899 wurde die französische Sozialistische Partei erschüttert, als einer ihrer Führer, Alexandre Millerand, die Einladung des französischen Präsidenten Waldeck-Rousseau akzeptierte, als Handelsminister in sein Kabinett einzutreten. Dieses Ereignis zeigte nur allzu deutlich, dass die logische Konsequenz von Bernsteins Konzeptionen Klassenkollaboration, politische Kapitulation vor der Bourgeoisie und die Verteidigung des bürgerlichen Staates war.

Nur in einer Sektion der Zweiten Internationale, in der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, wurde der Kampf gegen den Revisionismus systematisch entwickelt und mit weit reichenden politischen Schlussfolgerungen geführt.

Quellen:

[1] Marx an Engels in Manchester, 8. Jan. 1863, in: MEW Bd. 30, S. 310f.

[2] Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, S. 16., in: MEW Bd. 1, S. 385.

[3] Ebenda, S. 391.

[4] Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 4ff, in: MEW Bd. 13, S. 8.

[5] Emile Durkheim, Le Socialisme, Paris 1971, S. 37.

[6] Vgl. H. Stuart Hughes, Conciousness and Society, New York 1977, S. 88.

[7] Engels an Karl Kautsky, 1. April 1895, MEW Bd. 39, S. 452.

[8] Eduard Bernstein, Utopismus und Eklekticismus (1896), in: ders., Zur Theorie und Geschichte des Socialismus - Gesammelte Abhandlungen, Berlin 1904, Teil 2: Probleme des Socialismus, S. 33.

[9] Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, 2. Aufl. Berlin 1921, S. 6.

[10] Zit. nach: Gay, Das Dilemma des demokratischen Sozialismus, Nürnberg 1954, S. 181.

[11] Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution? In: dies., Politische Schriften, Berlin 1969, S. 17f.

[12] Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus, S. 203.

Siehe auch:
Die Russische Revolution und die ungelösten Probleme des 20. Jahrhunderts
(14. September 2005)

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