Ernste Fragen zum Mord an einem Berliner Kind

Der tragische Tod eines 7-jährigen Jungen in Berlin-Zehlendorf, ermordet durch einen 16-Jährigen aus der Nachbarschaft, wirft ernste Fragen auf.

Am 27. August wurde Christian Sch. im Berliner Bezirk Zehlendorf tot aufgefunden. Er war kurz vor einem Familienausflug zum Spielen gegangen und nicht zurückgekehrt. Der 16-jährige Ken M. (Name geändert), der im Nachbarhaus bei seinen Großeltern wohnte, hat die Tat gestanden und erklärt, er habe den Jungen aus "Frustration" erschlagen. Christian habe ihn "Arschloch" genannt. Inzwischen ermittelt die Polizei auch wegen sexuellen Missbrauchs. Das Kind war nackt gefunden worden, und seine Kleidung blieb bis heute verschwunden. Ken M., der durch eine DNA-Probe überführt wurde, sitzt inzwischen in einer Einzelzelle der Jugendstrafanstalt Plötzensee unter strenger Beobachtung. Er wird als suizidgefährdet eingestuft.

Dieses entsetzliche Ereignis ist nicht nur ein großer Schock für die Familie und die Nachbarn. In ganz Berlin stockte Eltern und Schülern der Atem. Wie kann es passieren, dass ein Jugendlicher, der selbst erst 16 Jahre alt ist, ein solches Verbrechen begeht?

Unmittelbar nach dem Ereignis forderten Politiker, Polizei und Medien strengere Gesetze, eine größere Härte des Staats und das "Wegsperren krimineller Jugendlicher". Die CDU-Fraktion im Berliner Senat brachte einen "Dringlichen Antrag" ein, in dem eine Verschärfung des Jugendstrafrechts, die Einrichtung von geschlossenen Heimen und die Herabsetzung des Alters der Strafmündigkeit gefordert wird. Bush lässt grüßen!

Auch die SPD hat dem prinzipiell nichts entgegenzusetzen. Justizsenatorin Karin Schubert kritisierte zwar die CDU-Vorschläge und erklärte, eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters auf zwölf Jahre sei indiskutabel. Berlin setze statt auf Gefängnisse auf faktisch geschlossene Heime mit intensiver Betreuung. Doch zuvor hatte sich SPD-Innensenator Ehrhart Körting für schärfere Gesetze ausgesprochen und erklärt, man hätte Ken M. zu einem früheren Zeitpunkt "tatsächlich wegsperren" sollen.

Selbst Sozialpädagogen wie der Leiter des "Anti-Gewalt-Zentrums Berlin/Brandenburg" in Zehlendorf, Lars-Oliver Lück, fordern einen härteren Umgang mit jugendlichen Straftätern. Lück, der zwar den "Zusammenhang zwischen sozialer Situation, Bildungsstand und jugendlicher Gewaltkriminalität" beklagt, schlägt als Lösung des Problems vor, eine "Drohkulisse" gegenüber solchen Jugendlichen aufzubauen.

Einige Kommentatoren in den Medien gehen noch weiter: "Brutale Jugendliche müssen früh Grenzen erfahren - notfalls hinter Gittern", schreibt Werner van Bebber im Tagesspiegel vom 2. September. Jegliche Gesellschaftskritik lehnt er strikt ab. "Wer aber ‚die Gesellschaft’ verpflichtet, macht es sich zu einfach. Nicht bloß, weil ‚die Gesellschaft’ jahrzehntelang versucht hat, die Probleme der schwierigen - mildherzig gesagt: der allein gelassenen - jungen Gewalttäter wegzupädagogisieren..." Nicht ein "schöner Jugendclub" sei wichtig, so van Bebber, sondern "den jungen Gewaltfetischisten Grenzen zu setzen". Van Bebber vergisst nicht hinzuzufügen, dass es "wie üblich Polizei und Justiz" seien, die diese Aufgabe erledigen. "Sie brauchen entsprechende Möglichkeiten".

Schock und Trauer sollten nicht dazu verleiten, in diese Forderungen von Politikern, Polizei und Medien nach dem starken Staat einzustimmen. Um die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist vielmehr eine nüchterne Bilanz der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland und insbesondere in Berlin nötig.

Der Mord an Christian ist kein Einzelfall. Nur wenige Wochen vorher starben neun Menschen, darunter Jugendliche und Kinder, bei einem Brand in einem Mietshaus in Berlin-Tiergarten, weil ein zwölfjähriger Junge in der Nacht an einem im Treppenhaus abgestellten Kinderwagen gezündelt hatte. In Hamburg ließ ein junges Paar ihre siebenjährige Tochter verhungern. In Frankfurt (Oder) tötete eine alkoholabhängige Mutter neun ihrer Kinder unmittelbar nach der Geburt, ohne dass ihre engsten Angehörigen und Bekannten irgendetwas bemerkt hätten. Erst vor drei Jahren löste der Amoklauf des 18-jährigen ehemaligen Schülers Robert Steinhäuser am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt, bei dem 15 Lehrer und Schüler starben, in ganz Deutschland Entsetzen aus.

So unterschiedlich diese Fälle jeweils sein mögen, sie haben dennoch eine Gemeinsamkeit: Sie stellen eine völlig individualistische Reaktion auf eine gesellschaftliche Situation dar, die durch immer schärfere soziale Ungleichheit und soziale Kälte gekennzeichnet ist.

Vor allem Kinder und Jugendliche bekommen dies zu spüren. Es ist schon makaber, dass sich die Mordtat eines 16-Jährigen nur zwei Tage nach der Bekanntgabe neuer Zahlen zur Kinderarmut ereignete.

Nach Angaben des Paritätischen Wohlfahrtsverbands (DPWV) ist die Zahl der von Armut betroffenen Kinder unter 15 Jahren in den letzten acht Monaten, seit Inkrafttreten der Hartz-IV-Gesetze, von 1,2 auf 1,5 Millionen gestiegen. Ende letzten Jahres war jedes zehnte Kind in Deutschland arm, jetzt ist es bereits jedes siebte Kind. Spitzenreiter bei den Bundesländern ist Berlin mit rund 29,9 Prozent - fast jedem dritten Kind. Kinder, deren Familien von Arbeitslosengeld II leben müssen, so der DPWV-Geschäftsführer Ulrich Schneider, hätten kaum Möglichkeiten zu guter Bildung, Musik- oder Sportunterricht und kaum Zukunftschancen.

Radikale Streichungen im Jugend- und Sozialbereich haben die Lage zusätzlich verschärft. Der Berliner rot-rote Senat aus SPD und PDS hat bei der Jugendhilfe soviel gestrichen wie in keinem anderen Bundesland. Seit 2002, teilte die Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege mit, seien insgesamt 161 Millionen Euro und damit 40 Prozent des Gesamtbudgets bei den Erziehungshilfen gekürzt worden. Allein in Zehlendorf ist für nächstes Jahr die Schließung von 14 Schulstationen, die bei schwierigen Jugendlichen psychologische Betreuung anbieten, geplant. Im Haus der Jugend Zehlendorf sollen drei von fünf Mitarbeiterstellen gestrichen werden, und eine Schließung des beliebten Jugendzentrums droht.

Auch Ken M. ist ohne jede Zukunftsperspektiven aufgewachsen. Der Sohn eines farbigen GI der US-Armee, der offenbar tot ist, und einer Mutter, die in den USA lebt, wuchs bei den Großeltern auf. Seit langem ist er verhaltensauffällig. Bereits in der Grundschule fiel er durch Aggressivität gegen Mitschüler und Mitschülerinnen auf. Er galt von klein an als Außenseiter. Auch wurde er wegen seiner dunklen Hautfarbe gehänselt. Von der ersten Grundschule wurde er verwiesen, es folgten zahlreiche Anzeigen wegen Körperverletzung und unmittelbar nach Erreichen der Strafmündigkeit mit 14 Jahren die erste Verurteilung. Einer Einweisung ins Jugendheim stimmten die Großeltern nicht zu. Im letzten Jahr schlug er eine Verkäuferin nieder, die ihn beim Diebstahl von Bierdosen erwischt hatte. Am 17. Juni dieses Jahres verprügelte er an einer Tankstelle brutal einen jungen Bundeswehrsoldaten und verletzte ihn lebensgefährlich.

Kurz vor seiner letzten Tat hatte Ken gerade die Hauptschule abgeschlossen, die Schulform, die mittlerweile in Deutschland von vorneherein bedeutet, dass man so gut wie keine Chancen auf eine Lehrstelle hat. Nach dem Mord an Christian kamen Vorwürfe von einer der Schulen, in die Ken M. ging: Durch die Einsparungen in den letzten Jahren sei die Betreuung in der Schule stark verringert worden. Niemand habe sich zuletzt um die Verhältnisse bei den Großeltern von Ken gekümmert, die Alkoholprobleme haben sollen.

Die wachsende Armut hat ein hässliches Gesicht: Sie ist verbunden mit Bildungsmangel, mit Drogen, Gewalt, Alkoholismus und Krankheit. Aber die Armut allein ist nicht verantwortlich für ein derartiges Verbrechen wie der Mord an dem kleinen Christian. Dass ein Heranwachsender seine "Frustration" durch eine solche Tat beantwortet, ist nicht selbstverständlich.

Hätte Ken vor 80 Jahren gelebt, er hätte sich möglicherweise einer der Arbeiterorganisationen angeschlossen, um gemeinsam mit anderen gegen die Ursache seiner Frustration zu kämpfen.

Es ist die pausenlose Attacke auf jede Form der Solidarität in der Gesellschaft und die rasante Rechtswendung aller ehemaliger Arbeiterorganisationen wie SPD und Gewerkschaften, die solche psychisch kranken und gewalttätigen Menschen wie Ken M. oder Robert Steinhäuser in Erfurt hervorbringen. In einer Umgebung, in der Egoismus und persönliche Vorteilsnahme triumphieren, bricht sich ihre Wut und Frustration in reaktionären Formen des Individualismus Bahn. Wie der Sozialpädagoge Lück in Zehlendorf, der Ken M. persönlich kannte, richtig bemerkte: "Gewalt ist für sie das einfachste und oft das einzige Mittel, ein Erfolgserlebnis zu haben."

Vereinzelt versuchen Journalisten, die ihrem sozialen Gewissen noch nicht ganz abgeschworen haben, den Finger in die Wunde zu legen. Im Tagesspiegel vom 31. August, wenige Tage nach dem Mord in Zehlendorf, beklagt der Kommentator Gerd Nowakowski unter dem Titel "Die verwahrloste Gesellschaft": "Die Verwahrlosung und der Werteverfall sind längst universell. Die sozialstaatliche Gemütlichkeit gibt es nicht mehr. Jugendliche wachsen oft in einem moralischen Vakuum auf." Doch weiter zur Ursache des Übels wagt sich Nowakowski nicht vor. Stattdessen empfiehlt er der "Hauptstadt der Atheisten" Berlin einen Wertekunde-Unterricht.

Die "verwahrloste Gesellschaft" hat allerdings einen Namen - Kapitalismus. Im Namen des Profits und der Wettbewerbsfähigkeit werden heute in jedem Land amerikanische Verhältnisse eingeführt: extreme Armut auf der einen Seite, märchenhafter und geradezu perverser Reichtum auf der anderen. Welche Werte vermittelt denn eine Gesellschaft, die im Interesse der Bereicherung einiger weniger die Arbeitslosigkeit und Verarmung vieler Millionen Menschen zulässt? Die einen Angriffskrieg gegen ein nahezu wehrloses Land wie den Irak mit Zehntausenden Toten gutheißt, nur um sich die Ölquellen anzueignen, und dies auch noch mit Lügen rechtfertigt? Die junge Arbeiter, welche dunklere Hautfarbe als andere haben, im Namen des "Kampfs gegen den Terror" aus nächster Nähe erschießen lässt - wie gerade in einer Londoner U-Bahn geschehen? Die Menschen in Not nur deshalb verhungern, verdursten und ertrinken lässt, weil sie arm sind und nicht die Möglichkeit zu fliehen haben - wie gerade in New Orleans vorgeführt? Wie sollen Jugendliche zu zivilisiertem Verhalten erzogen werden, wenn die herrschende Gesellschaftsordnung in Barbarei versinkt?

Wirklich humane Werte kann man Kindern und Jugendlichen nur vermitteln, wenn ihnen ein progressiver Weg gezeigt wird, diese Gesellschaft zu verändern, das heißt ein Weg, gegen den Kapitalismus zu kämpfen.

Siehe auch:
Rasanter Anstieg der Kinderarmut in Deutschland
(3. September 2005)
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