US-Regierung stößt Irak an den Rand des Bürgerkriegs

Seit am vergangenen Mittwoch die Goldene Moschee in Samarra durch einen Anschlag zerstört wurde, versinkt der Irak in einem Strudel gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen schiitischen und sunnitischen Milizen. Ein Teufelskreis von gegenseitigen Vergeltungsmaßnahmen hat hunderte Menschenleben gefordert, darunter mehrere Dutzend Männer von beiden Seiten, die aus ihren Häusern gezerrt und auf offener Straße exekutiert wurden. Kurz vor dem dritten Jahrestag der US-Invasion spricht man von Bürgerkrieg.

Die Bush-Administration und die amerikanischen Medien zeigen sich angesichts dieser Entwicklung geschockt und empört. So heißt es im Editorial der New York Times vom Freitag: "Irakische Führer aus allen Religionsgemeinschaften müssen mäßigend wirken. ... Der Aufbau eines demokratischen, vereinten und stabilen Irak war nie eine leichte Aufgabe. Jetzt ist sie noch viel schwieriger geworden."

Hinter diesen Zeilen steckt eine beträchtliche Menge Zynismus und gezielte Täuschung. Die Times und andere Sprachrohre der amerikanischen herrschenden Elite glauben, die Leute würden angesichts der sektiererischen Zusammenstöße im Irak vergessen, dass die Bush-Administration im März 2003 einen unprovozierten, illegalen Krieg gegen den Irak vom Zaun gebrochen hat. Die Gefahr eines Bürgerkriegs ist eine direkte Folge dieses brutalen und rücksichtslosen Verbrechens.

Ziel der Invasion war nicht der Aufbau eines demokratischen, vereinten und stabilen Irak, sondern die Errichtung eines amerikanischen Marionettenregimes, das die Voraussetzungen für die Plünderung der zweitgrößten Ölreserven der Welt durch amerikanische Konzerne schafft. Die militärische Zerstörung eines Landes, von dem das Pentagon wusste, dass es wehrlos war, diente auch als Warnsignal an alle potentiellen Rivalen der USA von Europa bis nach China. Sie machte deutlich, was ihnen droht, wenn sie sich amerikanischen Interessen in den Weg stellen.

Die führenden Kriegsstrategen betrachteten die Eroberung des Iraks lediglich als erste einer ganzen Reihe von Interventionen im Nahen Osten mit dem Ziel, eine Region unter amerikanische Vorherrschaft zu bringen, aus der ein großer Teil der weltweiten Öl- und Gaslieferungen stammt. Inzwischen wird der Iran von der Bush-Administration wegen seiner angeblichen Atomprogramme in einer Weise bedroht, die stark an die Vorbereitung des Angriffs auf den Irak erinnert. Auch Syrien ist Gegenstand wiederholter Provokationen.

Der ehemalige Nachrichtensprecher Ted Koppel - ein Kriegsverteidiger und Ideologe der militärischen Mission der USA - schrieb am Freitag in der New York Times, seit über einem halben Jahrhundert bestehe "das Fundament der amerikanischen Außenpolitik darin, das Öl aus dem persischen Golf und durch die Straße von Hormuz am Fließen zu halten". Während der Leitartikel der Times die Propaganda über die Demokratie im Irak fortsetzte, erklärte Koppel unverblümt, Ziel der Invasion sei die Errichtung von Militärbasen, die Vorherrschaft über die Region und "Öl".

Die Kosten für die irakische Gesellschaft sind vernichtend. Nachdem das Land durch den Golfkrieg von 1991 und zwölf Jahre dauernde UN-Sanktionen ruiniert worden war, wurde seine Infrastruktur im März 2003 durch High-Tech-Waffen zerstört. Nach dem Einmarsch in Bagdad führten die amerikanischen Truppen Massaker durch und ermutigten Plünderungen, um die gesellschaftlichen Institutionen zu zerstören und die traumatisierte Bevölkerung zu erschöpfen.

Auf die ersten Anzeichen von Widerstand reagierten die Invasoren mit Unterdrückungsmaßnahmen: der wahllosen Tötung von Demonstranten, nächtlichen Durchsuchungen, Massenverhaftungen und perverser Folter in Gefängnissen wie Abu Ghraib. All das diente dazu, den Widerstandswillen der Bevölkerung zu brechen. Die sunnitisch arabischen Regionen des Landes, von denen man annahm, das frühere Baathisten-Regime verfüge dort über die größte Unterstützung, wurden besonders brutal aufs Korn genommen.

Gleichzeitig gab es kein ernsthaftes Bemühen, die durch Sanktionen und Krieg verursachten Schäden zu beheben. Milliarden Dollar für den so genannten Wiederaufbau wurden entweder gestohlen oder für dubiose Verträge mit Firmen wie Halliburton verschwendet.

Millionen Iraker sind zu höllischen Lebensumständen verurteilt, ohne Arbeit und ohne Grundvoraussetzungen für ein zivilisiertes Leben wie Elektrizität, Kanalisation, fließendes Wasser und Gesundheitsversorgung. Die wenigen verbliebenen Sozialleistungen für die Bevölkerung, wie subventionierter Treibstoff und Nahrungsmittel, werden systematisch abgebaut. Die öffentliche Ordnung ist zusammengebrochen, hunderte Menschen fallen Monat für Monat kriminellen Gewalttaten zum Opfer.

Gezielte Spaltung

In einem Kommentar, der am 24. Februar in der New York Times erschien, rechtfertigt Thomas Friedman die fortgesetzte US-Besatzung zynisch mit der Gefahr des Bürgerkriegs. "Die Sache ist einfach: Die Welt bewegt sich auf gefährlich Weise in Richtung einer weit verbreiteten religiösen und sektiererischen Spaltung, wie wir sie seit langer, langer Zeit nicht mehr gesehen haben. Amerika verfügt als einziges Land über die Macht, diesen giftigen Trend zu stoppen", schreibt er. In Wirklichkeit ist die US-Militärpräsenz direkt für die Spaltung verantwortlich.

Die US-Besatzung stützte sich von Anfang an auf eine Politik, die die Volksgruppen gegeneinander aufhetzt. Exil-Iraker, CIA-Marionetten und ausgewanderte Geschäftsleute, die im Irak keinerlei Unterstützung hatten, wie Iyad Allawi und Ahmad Tschalabi, wurden in wichtige Regierungsämter eingesetzt. Die wichtigsten Organisationen, auf die sich die USA stützten, waren die kurdischen Nationalisten, die einen ethnisch begründeten Kanton im Norden anstreben, und schiitische Fundamentalisten, die einen islamischen Staat nach iranischem Vorbild errichten wollen.

Der Nordirak, der schon durch die nach dem Golfkrieg von 1991 verhängte Flugverbotszone faktisch abgespalten wurde, ist zu einer separaten kurdischen Region mit eigener Regierung, eigenen Gesetzen und eigenen Streitkräften gemacht worden. Als Gegenleistung sind kurdische Truppen in Falludschah, Mosul und anderen vorrangig sunnitischen Gegenden stationiert worden, um das US-Militär bei der Zerschlagung des Widerstands zu unterstützen. Rund um die Stadt Kirkuk findet eine anhaltende ethnische Säuberungskampagne statt. Tausende Araber und Turkmenen werden unter Druck gesetzt, die ölreiche Region zu verlassen, damit diese nächstes Jahr in einen kurdischen Ministaat eingegliedert werden kann. Um diesen Plänen der kurdischen Nationalisten entgegenzutreten, wurden wiederum Milizen gebildet.

Der schiitischen Elite versprach die Bush-Administration Zugang zur Staatsmacht und zu den lukrativen Öleinnahmen als Gegenleistung für ihre Beteiligung an dem Regime. Die Wahlen im Januar 2005 ergaben eine große Mehrheit für die schiitischen Parteien und führten zur Ernennung des schiitischen Fundamentalisten Ibrahim al-Dschafari zum Premierminister. Die neue Verfassung - die in enger Konsultation mit US-Botschafter Zalmay Khalilzad verfasst wurde - schafft die Grundlagen für die Errichtung einer Regionalregierung im schiitischen Süden, die bis zu 60 Prozent des Öls und des Erdgases des Landes kontrollieren würde.

Die schiitischen Parteien haben ihre Kontrolle über die Regierung genutzt, um ihre Gegner zu terrorisieren. Viele Einheiten der irakischen Armee, die immer noch unter amerikanischem Kommando gegen die Aufständischen operiert, wurden in den schiitischen Regionen rekrutiert. Einige versuchen noch nicht einmal zu verbergen, dass ihre Loyalität vorrangig dem schiitischen Klerus gilt und dass sie die Sunniten mit sektiererischer Abscheu betrachten.

Das Innenministerium wird seit längerem vom Obersten Rat für die Islamische Revolution im Irak (SCIRI) kontrolliert. Der SCIRI hat Hunderte im Iran ausgebildete Milizionäre der Badr-Brigade in die Polizei eingegliedert und als Todeskommandos benutzt. Hunderte Sunniten und Nicht-Religiöse wurden so auf schreckliche Weise umgebracht.

Der schmutzige Krieg der schiitischen Regierung hat durch die reaktionären Angriffe zusätzlichen Auftrieb erhalten, die extremistische sunnitische Organisationen wie Al Qaida gegen schiitische Zivilsten durchführen. Diese Organisationen bezichtigen die gesamte schiitische Bevölkerung der Kollaboration mit den Besatzern. Als Reaktion auf ihre Anschläge ist die Zahl der schiitischen Milizen und der Ruf nach Rache im vergangenen Jahr stark angeschwollen.

Jetzt, nachdem die Spannungen zwischen Washington und der schiitischen Theokratie im Iran stark zugenommen haben, verlangt die Bush-Administration von den irakischen Schiitenorganisationen die Auflösung ihrer Milizen und die Übergabe der Sicherheitsministerien an sunnitische Parteien - d.h. an die Parteien, die sie zuvor hatten marginalisieren wollen. Schiitische Führer haben deshalb schwere Vorwürfe gegen die USA und die Sunnitenorganisationen erhoben.

In dieser Atmosphäre wachsender ethnischer Spannungen musste es unweigerlich dazu kommen, dass ein Zwischenfall eine offene Konfrontation auslöst. Die Zerstörung des schiitischen Heiligtums in Samarra hat dies nun getan.

Eine sozialistische Perspektive

Ein Bürgerkrieg im Irak hat das Potential, noch weit grauenhaftere Formen anzunehmen als die ethnischen Konflikte im Libanon oder im ehemaligen Jugoslawien. In Bagdad, einer hochintegrierten Stadt mit sechs Millionen Einwohnern, halten sich die Anhänger der beiden Strömungen des Islam ziemlich genau die Waage. Ein Konflikt im Irak würde zudem unweigerlich auf die Nachbarländer übergreifen - wie das sunnitisch dominierte Saudiarabien und Jordanien und den schiitischen Iran.

Die herrschende Elite der USA wusste, dass der Sturz des Baathisten-Regimes im Irak sektiererische Konflikte auslösen und den Mittleren Osten destabilisieren würde, ja die konsequentesten Verfechter - die sogenannten Neokonservativen - stützten ihre Strategie für die Region sogar auf eine solche Entwicklung.

So vertrat David Wurmser, mittlerweile für Vizepräsident Dick Cheney im Bereich nationale Sicherheit tätig, schon 1997 die Auffassung, die baathistischen Staaten Syrien und Irak befänden sich in einer tödlichen Krise. Er schrieb: "Hinter einer durch staatliche Repression erzwungenen Einheitsfassade wird ihre Politik vorrangig durch Stammeskriterien, Sektierertum und die Konkurrenz zwischen Banden und Clans bestimmt. Es ist unwahrscheinlich, dass eine von tyrannischen, säkularen, arabisch-nationalistischen Führern geschaffene Institution, insbesondere die Armee, der Zerreißprobe standhalten kann... Hier stellt sich die Frage, ob der Westen und Israel eine Strategie zur Beschränkung und Beschleunigung des chaotischen Zusammenbruchs entwickeln können, um dann zur Schaffung besserer Umstände überzugehen." (unsere Hervorhebung)

Dieser Strategie folgte die Bush-Administration nach den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten vom 11. September 2001. Sie plante, in den Irak einzumarschieren, das Hussein-Regime zu stürzen, die irakische Armee aufzulösen und ein proamerikanisches Marionettenregime zu installieren. Das Weiße Haus und das Pentagon waren der Auffassung, ein hartes militärisches Vorgehen werde die Bevölkerung einschüchtern und das Aufbrechen von religiösen, sozialen und Stammesgegensätzen verhindern.

In letzter Analyse unternahm der US-Imperialismus einen unbesonnen Versuch, die politische Landschaft neu zu gestalten, die Großbritannien und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg im Nahen Osten geschaffen hatten, als die meisten arabischen Staaten aufgrund willkürlicher, in den Sand gezogener Linien aus dem ehemaligen osmanischen Reich herausgeschnitten wurden. Soweit die Bush-Administration überhaupt eine Strategie hatte, basierte sie auf der berüchtigten Erklärung des Wall Street Journals von 1991: "Gewalt wirkt!" Nun ist sie mit der Tatsache konfrontiert, dass sich komplexe historische Widersprüche nicht wegbomben lassen.

Die Unterwürfigkeit der arabischen Regimes gegenüber dem US-Militarismus ist ein Ergebnis der Schwäche der Kapitalistenklasse in unterdrückten Regionen wie dem Nahen Osten. Leo Trotzki hatte zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts im Rahmen seiner Theorie der permanenten Revolution erklärt, dass die Bourgeoisie solcher Länder organisch unfähig sei, einen konsequenten Kampf gegen den Imperialismus zu führen. Ein solcher erfordert die Mobilisierung der Arbeiterklasse und unterdrückten Massen. Da die nationalistischen Führer aber unfähig sind, die demokratischen und sozialen Bestrebungen der gewöhnlichen Leute zu erfüllen, beugen sie sich unweigerlich dem Diktat des Imperialismus und ersticken soziale Erhebungen durch nackte Gewalt.

Das Baathisten-Regime im Irak war in dieser Hinsicht typisch. Der Irak wurde aus drei Provinzen des ehemaligen osmanischen Reichs unter britischem Mandat geschaffen. Die Briten ließen die sunnitisch-arabische besitzende Klasse, die zuvor in Bagdad den Osmanen gedient hatte, an der Macht. Sie herrschte über die schiitischen Stämme im Süden und die kurdische Bevölkerung im Norden. Die Kurden waren von den Imperialisten willkürlich auf die Länder Iran, Irak, Türkei und Syrien aufgeteilt worden.

Die Entwicklung der Industrie und einer großen Arbeiterklasse verschärfte die Gegensätze im Land. Die ungelösten nationalen und sozialen Gegensätze führten wiederholt zu Konflikten und Aufständen - durch schiitische Organisationen, kurdische Bewegungen und vor allem die Arbeiterklasse. Die Baathisten gelangten durch die Unterdrückung der Arbeiterklasse an die Macht, insbesondere ihrer militantesten Teile in der Kommunistischen Partei. Ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse wurden damals sowohl von der sunnitischen und der schiitischen religiösen Hierarchie wie auch von Washington unterstützt. Danach gingen die Baathisten mit massenhaften Repressionen gegen die kurdischen und schiitischen Rivalen des sunnitischen Establishments vor.

Auch die Widerstandsbewegung, die sich nach der amerikanischen Invasion in den vorwiegend sunnitischen, zentralen und westlichen Regionen des Irak entwickelte, widerspiegelt den verkommenen Charakter der irakischen herrschenden Klasse. Während ihre politische Führung die weit verbreitete und berechtigte Feindschaft der Bevölkerung gegen die Besatzung ausnutzt, verfolgt sie das unausgesprochene Ziel, die Besatzer durch Druck dazu zu bewegen, die Privilegien des traditionellen sunnitischen Establishments wieder herzustellen. Das sunnitische Establishment betrachtet die Bestrebungen der Massen mit Feindschaft. Es sieht darin eine weit größere Gefährdung seiner Interessen als in der Übernahme des Landes durch den amerikanischen Imperialismus.

Der Widerstand erweist sich daher als unfähig, an die Millionen schiitischen und kurdischen Arbeiter und armen Bauern zu appellieren, die jahrzehntelang unter der Unterdrückung durch die Baathisten gelitten haben. Stattdessen werden die Massen jeglicher Herkunft als Schachfiguren im Streit verschiedener Cliquen benutzt - sunnitischer, schiitischer und kurdischer -, die um ihre Stellung in einem von den USA abhängigen Staat kämpfen.

Die anderen Regime im Nahen Osten sind genau so. Im Interesse einer schmalen herrschenden Klasse unterdrücken sie die Bestrebungen der Massen nach Demokratie und einem anständigen Lebensstandard und unterstützen die transnationalen Konzerne bei der Plünderung der Region. Sie alle greifen zunehmend zu Nationalismus, Rassismus und Sektierertum, um eine unruhige Arbeiterklasse zu spalten und die sozialen Spannungen in die Sackgasse ethnischer Konflikte zu lenken.

Nur die Perspektive des Internationalen Komitees der Vierten Internationale bietet eine fortschrittliche Alternative: der Aufbau einer sozialistischen Massenbewegung, gestützt auf die Arbeiterklasse, die für die Beseitigung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, die Überwindung der irrationalen Grenzen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens eintritt.

Als Bestandteil eines umfassenden internationalen Kampfs für den Sozialismus können so die arbeitenden Menschen - Sunniten und Schiiten, Araber und Juden, Muslime und Christen, Kurden und Türken - vereint und politisch unabhängig von allen Flügeln der Bourgeoisie organisiert werden. In den Vereinigten Staaten und weltweit muss ausgehend von dieser Perspektive der sofortige und bedingungslose Rückzug aller amerikanischen und ausländischen Truppen aus der Region verlangt werden.

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