Trotzkis "Verteidigung des Marxismus"

Der Arbeiterpresse Verlag stellt eine Neuausgabe vor

Im Rahmen der Leipziger Buchmesse stellte der Arbeiterpresse Verlag am 18. März das Buch "Verteidigung des Marxismus" von Leo Trotzki vor, das noch in diesem Jahr in einer neuen Ausgabe erscheinen soll. Wir dokumentieren hier den Beitrag von Peter Schwarz. Zu der halbstündigen Veranstaltung in den Messehallen waren über 70 Zuhörern erschienen.

Es gibt politische und theoretische Auseinandersetzungen, die auch nach Jahrzehnten noch brennend aktuell sind. Dazu gehört die Bernstein-Debatte, die Ende des 19. Jahrhunderts die deutsche und internationale Sozialdemokratie erschütterte - die Auseinandersetzung zwischen Opportunismus und Marxismus, zwischen Reformismus und revolutionärem Internationalismus, die schließlich zur Spaltung zwischen sozialdemokratischer und kommunistischer Bewegung führte.

Ähnlich bedeutsam wie die Bernstein-Debatte ist die Auseinandersetzung, die in dem Band "Verteidigung des Marxismus" dokumentiert wird. Sie fand 1939 innerhalb der Socialist Workers Party, der amerikanischen trotzkistischen Bewegung statt. Leo Trotzki nahm persönlich daran teil. Er lebte damals im mexikanischen Exil und wurde kurz danach von einem stalinistischen Agenten ermordet.

Vor allem zwei Dinge machen diese Auseinandersetzung so bedeutsam und aktuell:

Erstens ging es um eine Schlüsselfrage des zwanzigsten Jahrhunderts: den Charakter der Sowjetunion. Handelte es sich bei der Sowjetunion, trotz der Verbrechen der stalinistischen Führung, um einen Arbeiterstaat? Gab es daran etwas zu verteidigen?

Ein halbes Jahrhundert später schien sich diese Frage erledigt zu haben. Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Auflösung der Sowjetunion wurde überall lautstark verkündet, nicht nur der Stalinismus sei gescheitert, sondern der Marxismus überhaupt sei tot. Das gesamte sozialistische Projekt habe sich als grandiose Illusion erwiesen. Die Entwicklung der Menschheit habe mit dem Kapitalismus ihren Gipfelpunkt erreicht, die Geschichte sei an ihr Ende gekommen.

Doch heute, fünfzehn Jahre danach, sieht die Sache etwas anders aus. Die Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion und Osteuropa hat zu einer sozialen Katastrophe geführt. Nie zuvor in Friedenszeiten ist die soziale Infrastruktur eines Landes - Bildungssystem, Gesundheits- und Altersversorgung, usw. - so radikal zerstört worden wie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.

Innerhalb von 15 Jahren ist die Lebenserwartung für Russen um fünf Jahre auf knapp 59 Jahre gesunken. Die Todesrate liegt weit über der Geburtenrate. Hält die gegenwärtige Entwicklung an, hat das Land in fünfzig Jahren ein Drittel seiner Bevölkerung eingebüsst. Eine kleine, märchenhaft reiche Minderheit hat das staatliche Eigentum an sich gerafft, während die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Armut, Arbeitslosigkeit und ständiger Unsicherheit vegetiert.

Doch nicht genug damit. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat auch die herrschende Klasse im Westen jede Hemmung verloren, soziale Errungenschaften zu beseitigen. Lautete das Argument im Kalten Krieg, die Marktwirtschaft könne den Arbeitern einen höheren Lebensstandard gewähren und die soziale Frage besser lösen, als eine staatlich gelenkte Planwirtschaft, gilt heute jeder, der sich dem Sozialabbau widersetzt, als verstockter Reaktionär und "Reformgegner".

Ohne mit der Frage der Sowjetunion klar zu kommen - ohne zu verstehen, wie sie entstand, was sie darstellte, warum sie entartete und zusammenbrach, was daran zu verteidigen und was zu verurteilen war - ist ein fortschrittlicher Ausweg aus der gesellschaftlichen Sackgasse und eine Neubelebung des Sozialismus nicht möglich. Die Frage der Sowjetunion bleibt auch im 21. Jahrhundert eine politische Schlüsselfrage.

Als Zweites ist die in "Verteidigung des Marxismus" dokumentierte Auseinandersetzung so aktuell, weil hier Weichen mit langfristiger Wirkung gestellt wurden. Die beiden wichtigsten damaligen Kontrahenten Trotzkis - James Burnham und Max Shachtman - sind zu Stichwortgebern rechter politischer Tendenzen im Kalten Krieg und der heutigen Zeit geworden: Burnham wurde zu einem Ideologen der amerikanischen Rechten, Shachtman der antikommunistischen Gewerkschaftsbürokratie. Ich werde darauf zurückkommen.

Charakter der Sowjetunion

"Verteidigung des Marxismus" enthält eine Sammlung von Briefen und Artikeln, die Leo Trotzki in den Jahren 1939/1940 kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs schrieb. Trotzki antwortet darin auf eine kleinbürgerliche Fraktion innerhalb der Socialist Workers Party, die in den USA die Politik der Vierten Internationale vertrat.

Die Fraktion war im Herbst 1939 unter Führung Max Shachtmans, eines Gründungsmitglieds der amerikanischen trotzkistischen Bewegung, und des Philosophieprofessors James Burnham entstanden. Sie reagierten auf den Abschluss des Nichtangriffspakts zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland und den anschließenden Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen, der den Zweiten Weltkrieg eröffnete.

Burnham vertrat den Standpunkt, dass die Vierte Internationale als Konsequenz aus diesen Ereignissen ihr Programm ändern müsse: Nachdem sich Stalin mit Hitler verbündet habe, sei die Sowjetunion kein Arbeiterstaat mehr und dürfe nicht mehr verteidigt werden. Trotzki widersprach dem heftig und wurde dabei von der Mehrheit der Socialist Workers Party unter ihrem Vorsitzenden James P. Cannon unterstützt. Er beharrte darauf, dass die Sowjetunion nach wie vor ein Arbeiterstaat sei, wenn auch ein degenerierter.

Trotzkis Verteidigung der Sowjetunion bedeutete weder eine Unterstützung des stalinistischen Regimes, noch des Hitler-Stalin-Pakts. Trotzki war seit der Gründung der Linken Opposition im Jahr 1923 der schärfste und unermüdlichste Gegner der stalinistischen Bürokratie gewesen, die er konsequent von einem internationalen sozialistischen Standpunkt kritisierte.

In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wurden Trotzki und seine Anhänger aus der Partei ausgeschlossen, verfolgt, eingesperrt und ins Exil getrieben, in den dreißiger Jahren zu Zehntausenden - mit und ohne Gerichtsprozess - erschossen oder im Gulag in den Tod gehetzt. Es war ein politischer Völkermord, dem schließlich die ganze Generation von Revolutionären und herausragenden Intellektuellen zum Opfer fiel, die die Oktoberrevolution getragen und ermöglicht hatten. Trotzki hatte also nicht den geringsten Grund, irgendwelche Zugeständnisse an das stalinistische Regime zu machen.

Aber die Definition der Sowjetunion und die Politik, die daraus folgte, konnte nicht allein vom reaktionären Charakter der regierenden Clique abgeleitet werden, und schon gar nicht von einer einzelnen außenpolitischen Maßnahme, wie dem Hitler-Stalin-Pakt, den Trotzki übrigens seit langem vorausgesehen hatte.

"Wenn Burnham ein dialektischer Materialist wäre", schreibt er an einer Stelle, "hätte er die folgenden drei Fragen untersucht: (1) Welches ist der historische Ursprung der UdSSR? (2) Welche Veränderungen hat dieser Staat während seiner Existenz durchgemacht? (3) Wurden diese Veränderungen von quantitativen zu qualitativen? d.h., schufen sie eine historisch notwendige Herrschaft einer neuen Ausbeuterklasse? Die Beantwortung dieser Fragen hätte Burnham gezwungen, die einzig mögliche Schlussfolgerung zu ziehen - die UdSSR ist immer noch ein degenerierter Arbeiterstaat."

Die stalinistische Bürokratie stützte sich ungeachtet ihrer reaktionären Politik nach wie vor auf die Eigentumsverhältnisse, die durch die Oktoberrevolution geschaffen worden waren - und diese galt es zu verteidigen. Die Sowjetunion war ein Übergangsregime zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Ihr historisches Schicksal war noch nicht entschieden. Sie konnte sich sowohl vorwärts zum Sozialismus entwickeln, als auch rückwärts zum Kapitalismus. Zwischen den Eigentumsverhältnissen und dem stalinistischen Regime bestand ein fundamentaler Widerspruch.

"So birgt das Regime der UdSSR bedrohliche Widersprüche," schrieb Trotzki dazu im Gründungsprogramm der Vierten Internationale. "Aber es ist noch immer das Regime eines entarteten Arbeiterstaates. Das ist die soziale Diagnose. Die politische Prognose stellt sich als Alternative: Entweder stößt die Bürokratie, die immer mehr zum Werkzeug der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen um und wirft das Land in den Kapitalismus zurück, oder die Arbeiterklasse zerschlägt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus."

Aus dieser Einschätzung, die ein Jahr vor der Auseinandersetzung in der Socialist Workers Party geschrieben wurde, geht klar hervor, dass Trotzki den Sturz der stalinistischen Bürokratie durch die Arbeiterklasse als Voraussetzung für die Verteidigung der Sowjetunion betrachtete. Burnham und Shachtman dagegen schütteten das Kind mit dem Bade aus. Sie weigerten sich wegen der Verbrechen der Bürokratie, die Sowjetunion zu verteidigen.

Was oberflächlich betrachtet äußerst radikal und moralisch konsequent klang, lief in Wirklichkeit auf eine Kapitulation vor dem Imperialismus hinaus. Sie waren nicht bereit, sich im Krieg auf die Seite der Sowjetunion zu stellen. Der stalinistischen Bürokratie schrieben sie Eigenschaften zu, die diese nicht hatte: Sie betrachteten sie als neue Ausbeuterklasse, während sie in Wirklichkeit nur ein parasitäres Geschwür am Organismus des Arbeiterstaats war.

In einem der letzten im Buch enthaltenen Artikel begründet Trotzki die Verteidigung der Sowjetunion mit den Worten: "Wir verteidigen die UdSSR ... aus zwei wesentlichen Gründen: Erstens, die Niederlage der UdSSR würde dem Imperialismus riesige Hilfsmittel in die Hand geben und könnte den Todeskampf der kapitalistischen Gesellschaft um viele Jahre verlängern. Zweitens, die soziale Grundlage der UdSSR, befreit von der parasitären Bürokratie, kann grenzenlosen wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt sichern, während die kapitalistischen Grundlagen nur weiter verfaulen können."

Über ein halbes Jahrhundert später ist die Weitsicht dieser Worte in dramatischer Weise bestätigt worden. Dass die Rückkehr zu kapitalistischen Grundlagen zum Verfaulen der sozialen Grundlagen in der ehemaligen Sowjetunion geführt hat, habe ich eingangs schon dargelegt.

Und das Ende des Kalten Kriegs aufgrund der Liquidation der Sowjetunion hat nicht etwa eine Epoche des Weltfriedens, sondern ein neues, bösartiges Stadium des Todeskampfs der kapitalistischen Gesellschaft eingeleitet, in dem der Irakkrieg nur den vorläufigen Höhepunkt bildet. Die Bush-Administration hat deutlich gemacht, dass sie jedes Land angreifen wird - allen voran den Iran -, das der Vormacht des amerikanischen Imperialismus im Wege steht. Die nationale Sicherheitsstrategie, die das Weiße Haus am Donnerstag veröffentlicht hat, bekräftigt ausdrücklich das Vorrecht der USA, potenzielle Angriffe vermeintlicher Gegner durch "präventive" Maßnahmen abzuwehren.

Auch eine weitere Voraussage Trotzkis hat sich bestätigt: 1991 war es die herrschende stalinistische Bürokratie selbst - die KPdSU unter Gorbatschow und Jelzin -, die die neuen Eigentumsformen umstieß und das Land in den Kapitalismus zurückwarf.

Materialistische Dialektik

In der Auseinandersetzung mit der kleinbürgerlichen Fraktion in der Socialist Workers Party spielte die Frage der materialistischen Dialektik, der philosophischen Grundlage des Marxismus, eine wichtige Rolle.

Burnham, von Beruf Philosophieprofessor, lehnte die Dialektik ab. Shachtman akzeptierte sie. Aber, schrieben beide, bisher habe noch niemand "gezeigt, dass Übereinstimmung oder Meinungsverschiedenheiten über die eher abstrakten Lehren des dialektischen Materialismus notwendigerweise die konkreten politischen Streitfragen von heute und morgen berühren."

Trotzki wandte sich entschieden gegen diesen, wie er es nannte, theoretischen Eklektizismus. "Was bedeutet diese sehr erstaunliche Argumentation?" schrieb er. "Da ja einige Leute durch eine schlechte Methode manchmal zu richtigen Folgerungen kommen und da ja einige Leute durch eine richtige Methode nicht selten zu falschen Folgerungen kommen, deswegen... hat die Methode keine große Bedeutung."

Auf Shachtmans Behauptung, politische Parteien und Programme beruhten auf konkreten Streitfragen, entgegnete Trotzki: "Die Partei des Proletariats ist keine Partei wie alle anderen. ... Ihre Aufgabe ist die Vorbereitung der sozialen Revolution und die Regenerierung der Menschheit auf neuer materieller und moralischer Grundlage. Um nicht dem Druck der bürgerlichen öffentlichen Meinung oder der Polizeirepression nachzugeben, braucht der proletarische Revolutionär, um so mehr noch ein Führer, eine klare, weitsichtige, vollkommen durchdachte Weltanschauung. Nur auf der Grundlage einer vereinheitlichten marxistischen Vorstellung ist es möglich, an ‚konkrete’ Fragen richtig heranzugehen."

Trotzki kam immer wieder auf die Frage der marxistischen Methode zurück. Er hat zwar nie ein theoretisches Lehrbuch über den dialektischen Materialismus verfasst, aber "Verteidigung des Marxismus" gehört zum Besten, was zu diesem Thema jemals geschrieben wurde.

Gleichzeitig verstand Trotzki sehr gut, dass die Entstehung einer kleinbürgerlichen Opposition innerhalb der Socialist Workers Party nicht einfach das Ergebnis falscher theoretischer Auffassungen war. Das politische Klima in den USA hatte sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs geändert.

Viele Intellektuelle und Liberale hatten sich Mitte der dreißiger Jahre von der Sowjetunion angezogen gefühlt, als diese 1935 die Volksfrontpolitik verkündete. Die stalinistische Bürokratie versuchte mit dieser Wendung, die "demokratische Bourgeoisie", d. h. die herrschende Klasse Großbritanniens, Frankreichs und der USA, für eine gemeinsame Front gegen das nationalsozialistische Deutschland zu gewinnen. Zu dieser Zeit unterstützte die Kommunistische Partei der USA die Roosevelt-Regierung und deren Politik des "New Deal", ein Programm von staatlichen Interventionen in die Wirtschaft wie z. B. Arbeitsbeschaffungsprogrammen. Damit versuchte die amerikanische Bourgeoisie der Radikalisierung der Arbeiterklasse durch die große Depression nach dem Börsenkrach von 1929 zu begegnen.

Der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin beendete das Liebäugeln der Liberalen mit den Stalinisten abrupt. Die Sowjetunion wurde am 14. Dezember 1939 wegen der Invasion Finnlands aus dem Völkerbund ausgeschlossen. Kleinbürgerliche Schichten wandten sich nach den verheerenden Niederlagen der Arbeiterklasse in Deutschland 1933 und im spanischen Bürgerkrieg, nach den Moskauer Prozessen und schließlich dem Kriegsbeginn von revolutionären Perspektiven ab. Die kleinbürgerliche Opposition in der Socialist Workers Party reagierte auf diesen sozialen und politischen Druck.

Weg nach rechts

James Burnham ging den Weg ins bürgerliche Lager, der ihn schließlich an den äußersten rechten Rand der amerikanischen Politik führte, sehr rasch und konsequent. 1940 verließ er die Socialist Workers Party und gründete mit Max Shachtman die Workers Party, trat aber sofort wieder aus und entwickelte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem glühenden Antikommunisten.

1941 veröffentlichte er in den USA das Buch "Das Regime der Manager". Darin vertrat er die These, dass die kapitalistische Gesellschaft durch eine neue Ausbeutergesellschaft der Manager abgelöst werde, zu der sowohl der Stalinismus wie der Faschismus und Roosevelts New Deal gehörten.

Dieses Buch übte nachhaltigen internationalen Einfluss aus. Die Gleichsetzung von Faschismus und Stalinismus gehört bis heute zum gängigen Handwerkszeug der bürgerlichen Politik. Man findet sie z.B. in der Totalitarismus-Theorie von Hannah Arendt, die in der Bundesrepublik auch in so genannten linken Kreisen einen nachhaltigen Einfluss ausübte.

In Frankreich führt eine direkte Linie von Burnham zu den neuen Philosophen, die ihre Karriere im linken Milieu begannen und in den neunziger Jahren zu Befürwortern imperialistischer Militärinterventionen in Jugoslawien und im Irak wurden - André Glucksmann, Bernard-Henry Lévy und andere. Sie entwickelten sich unter dem Einfluss einer Gruppe namens "Sozialismus und Barbarei", die sich 1949 unter der Führung von Cornélius Castoriadis aus der trotzkistischen Bewegung gelöst und die Schriften von Hannah Arendt und James Burnham propagierte. Burnhams "Regime der Manager" erschien in Frankreich mit einem Vorwort von Léon Blum, dem Chef der Volksfrontregierung von 1936, und hatte großen Erfolg. "Sein Werk war in den sechziger Jahren an der (politischen Eliteuniversität) Science Po obligatorischer Lesestoff und hat die französischen Eliten maßgeblich beeinflusst", schreibt ein Zeitzeuge.

Burnham selbst ging kontinuierlich weiter nach rechts. Er gehörte 1950 zu den Gründungsmitgliedern des "Congress for Cultural Freedom", einer CIA-gesteuerten Organisation, die Intellektuelle für den Kalten Krieg mobilisierte. Er befürwortete einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion und wurde führender Mitarbeiter der extrem rechten Zeitschrift The National Review. Dort empfahl er unter anderem, schwarzen Arbeitern das Stimmrecht zu verweigern und die Atombombe über Vietnam abzuwerfen. In den achtziger Jahren verlieh Präsident Ronald Reagan Burnham die Freiheitsmedaille.

Shachtmans Wendung nach rechts verlief weniger rasant. Noch fast ein ganzes Jahrzehnt lang bekundete er seine Anhängerschaft zum Sozialismus. Aber 1950, zur Zeit des Ausbruchs des Koreakrieges, unterstützten Shachtman und seine Gefolgsleute die militärische Intervention der USA. Schließlich wurde Shachtman ein enger Berater der antikommunistischen Bürokratie des amerikanischen Gewerkschaftsverbandes AFL-CIO und des US-Außenministeriums. Er unterhielt enge Verbindungen zum demokratischen Senator Henry Jackson, einem notorischen Kriegstreiber, der jeden Kompromiss mit Moskau ablehnte. Aus Jacksons Umfeld wiederum stammen zahlreiche Falken in der Bush-Regierung - wie Paul Wolfowitz, Doug Feith, Richard Perle und Elliot Abrams, die zeitweilig hohe Stellungen im Pentagon einnahmen und maßgeblich an der Vorbereitung des Irakkriegs beteiligt waren.

Grenzen des Antikommunismus

Burnham und Shachtman haben zur Begründung eines Antikommunismus beigetragen, der die Verbrechen des Stalinismus nutzte, um jede sozialistische Perspektive zu diskreditieren. Diese Form von Antikommunismus war nicht nur in rechten Kreisen weit verbreitet, sondern auch in den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie. Kein geringerer als Kurt Schumacher, der erste Führer der SPD nach dem Weltkrieg, hat die Kommunisten als "rotlackierte Faschisten" bezeichnet.

Während des Kalten Kriegs übte diese Ideologie großen Einfluss aus. Und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kannte sie scheinbar keine Grenzen mehr. Die Parole, "der Sozialismus ist gescheitert", diente als Begründung, um jede soziale Errungenschaft anzugreifen und einen hemmungslosen Militarismus zu unterstützen.

Die Sozialdemokratie, die Kommunistischen Parteien (oder was von ihnen übrig geblieben ist) und die Gewerkschaften haben dies voll mitgetragen. Hier in Deutschland hat die rot-grüne Regierung den weitestgehenden Sozialabbau seit dem Krieg durchgeführt. Die Maße der Bevölkerung war dem hilflos ausgeliefert, weil ihr eine alternative Perspektive fehlte.

Doch nun beginnt sich das zu ändern. Es regt sich Widerstand. In Frankreich findet heute eine der größten Demonstrationen der Geschichte statt - gegen den Versuch der Regierung, den Kündigungsschutz für junge Arbeiter zu beseitigen. Hier in Deutschland befinden sich die Beschäftigten des öffentlichen Diensts seit sechs Wochen im Streik, um eine Verlängerung der Arbeitszeit zu verhindern, und die Klinikärzte haben soeben mit 98 Prozent für einen unbefristeten Arbeitskampf votiert.

Es ist aber klar, dass bloßer Druck die Regierungen nicht zum Nachgeben bringen wird. Selbst wenn sie zurücktreten müssten - was in Frankreich durchaus möglich ist -, würde lediglich eine andere Regierung an ihre Stelle treten, die dieselbe Politik in leicht veränderter Form durchführt. Die Frage nach einer neuen politischen Perspektive stellt sich immer dringender. Sie lässt sich nicht beantworten, ohne die Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts zu verstehen - insbesondere die Erfahrung der Sowjetunion.

Der Sozialismus ist dort nicht gescheitert, sondern durch eine korrupte Bürokratie unterdrückt und verraten worden. Die stalinistische Bürokratie hat das Programm des internationalen Sozialismus durch die nationalistische Konzeption des "Sozialismus in einem Land" ersetzt und eine ganze Generation von revolutionären Marxisten liquidiert.

Trotzkis Schriften und das demnächst vorliegende Buch bilden einen Leitfaden, um diese Erfahrung zu verstehen und die Perspektive des wirklichen Sozialismus neu zu beleben: Die Reorganisation der Gesellschaft nach den menschlichen Bedürfnissen und nicht den Profitinteressen der Unternehmen. Das ist nur im internationalen Maßstab möglich.

"Verteidigung des Marxismus" ist zudem eine wertvolle Einführung in die marxistische Methode. Die materialistische Dialektik ermöglicht ein lebendiges, wissenschaftliches Verständnis der Wirklichkeit in ihrer ständigen Veränderung. Sie steht in völligem Gegensatz zu den leblosen, abstrakten Schemen, in die der Stalinismus den Marxismus verwandelt hat.

Siehe auch:
Marxismus und die Grundprobleme des zwanzigsten Jahrhunderts
Web Site des Arbeiterpresse Verlags
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