Berliner Charité im Streik

Am 4. September gaben die Gewerkschaften Verdi und dbb-Tarifunion das Scheitern der Tarifverhandlungen mit dem Vorstand des Berliner Klinikums Charité bekannt.

Seit dem Jahre 2004 führten die Gewerkschaften in 26 (!) erfolglosen Runden ein Verhandlungstheater um einen neuen Tarifvertrag auf, das für die Klinikleitung äußerst nützlich war: Seit vier Jahren arbeitet das nichtärztliche Personal der Charité nun im tariflosen Zustand. Die Gehälter der 14.000 betroffenen Schwestern, Pfleger und sonstigen Mitarbeiter des weltweit bekannten Universitätsklinikums wurden seit 2002, als die Regierungsparteien SPD und PDS das Land Berlin aus der Tarifgemeinschaft der deutschen Länder herauskündigten um freiere Hand für ihre Kürzungspolitik zu haben, nicht mehr erhöht.

Die Urabstimmung des Klinikpersonals endete in der vergangenen Woche mit über 91 Prozent zugunsten des Streiks. Diese enorme Streikbereitschaft der Mitarbeiter wird, wie Schwestern berichteten, von den Patienten allgemein unterstützt.

Am Dienstag begann nun der Streik, allerdings lediglich in den Operationssälen und der Anästhesie und auch das nur an zwei der drei Standorten. Gewerkschaftssekretär Werner Koop verkauft dieses Misstrauen erweckende Vorgehen von Verdi als eine besondere Strategie. Man gehe davon aus, dass der Streik lange dauern werde, und deshalb sei es gut, bei der Streikstrategie darauf zu achten, dass man steigerungsfähig sei!

In einem Gespräch vor der Charité drückte eine der etwa 250 streikenden Schwestern ihre Besorgnis über den schleppenden Beginn des Streikes aus. "Warum nur die OPs, was soll das?" fragte sie nachdenklich. Sie bemerkte, dass der Informationsfluss zwischen den Mitarbeitern der Standorte nicht funktioniere und die Mobilisierung insgesamt viel zu träge und gering sei. Sie wirkte besorgt und hilflos.

Die gegenüber der Klinik erhobenen Forderungen, die ein Verdi-Flugblatt für die Öffentlichkeit auflistet, sind im Grunde brisant - wenn man sie denn ernst nimmt. Neben 4,4 Prozent Gehaltserhöhung, dem Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen, der Wiederherstellung der Tarifbindung mittels des Tarifvertrages für den Öffentlichen Dienst, fordert man gleiche Vertragsbedingungen für alle Beschäftigten, die Übernahme aller Azubis und den Ausschluss weiterer Privatisierungen.

Man mag über die einzelnen Forderungen unterschiedlicher Meinung sein - beispielsweise gleichen 4,4 Prozent nach vier Jahren ohne Gehaltserhöhungen nicht einmal die Realeinkommensverluste infolge der Geldentwertung aus - aber die Forderungen insgesamt, besonders der Verzicht auf weitere Privatisierungen, richten sich direkt gegen den rot-roten Senat und die strategischen Pläne des Klinikmanagements, die sich im "Unternehmenskonzept Charité 2010" finden.

Dieses Unternehmenskonzept des Klinikums könnte vom Stil her auch das eines Autokonzerns sein. Es findet sich darin zwar der Hinweis auf den hohen Anspruch des Heilens und Helfens, aber letzten Endes dreht sich alles um betriebswirtschaftliche Zahlen und um eine gute Position der "Marke Charité" im "Gesundheitsmarkt". Das Konzept ist ausgerichtet auf eine Vernetzung des Klinikums mit dem Umfeld der Privatwirtschaft bei Unterordnung unter ihr einziges gültiges Kriterium - den Profit.

In diesem Zusammenhang stößt man unweigerlich auf eine buntschillernde Person, das Mitglied der Partei der Sachzwänge namens "Linkspartei", Thomas Flierl, der seit 2002 Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin und zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der Charité ist. Zusammen mit Flierl sitzt der Finanzsenator Berlins, Thilo Sarrazin (SPD), im Aufsichtsrat der Charité, der auch noch in etlichen weiteren Unternehmen engagiert ist. Beide haben durch ihre Funktionen im Senat ein gewichtiges Wort über die Landeszuschüsse mitzureden.

Aber hat man je erlebt, dass PDS und SPD sich "verweigern", wenn Notlagen existieren? Nein, wenn es anzupacken gilt, dann krempelt man die Ärmel hoch. Die "Notlage" der Stadt Berlin, die sich durch den Skandal um die Bankgesellschaft ergab, galt es beispielsweise durch Kürzungen an allen Ecken und Enden anzupacken.

Teil dieser Kürzungen ist die Absenkung des Landeszuschusses für Forschung und Lehre um 98 Mio. Euro. Dadurch und durch die bundesweite Umstellung auf das Fallpauschalen-Finanzierungssystem sei bei der Charité ein Finanzrisiko von 212 Millionen Euro bis zum Jahre 2010 entstanden. "Das nimmt die Charité zum Anlass sich neu auszurichten", sagte Flierl. Die von ihm mitbeschlossene Kürzung der Senatsmittel ist also eine der Ursachen der "Notlage" der Charité.

Als Verdi 2005 die Verhandlungen über einen "Notlagentarifvertrag" abbrach - zuvor hatte ein Gutachten gezeigt, dass es keine Notlage gab -, erklärte Flierl, in zwei Jahren werde es aber laut Gutachten ganz sicher eine Notlage geben. "Als Aufsichtsratsvorsitzender drängte ich darauf, dass der Vorstand ein Konzept vorlegt, wie er der dohenden Notlage entgegensteuern kann." Um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden müssten 40 Millionen durch Gehaltssenkungen eingespart werden. "Ich setze alles daran, der Charité dabei zu helfen, diese Krise zu überwinden, und zwar gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Charité."

"Gemeinsam" bedeutet in Flierls Unternehmenskonzept 2010, dass 2.000 Stellen abgebaut werden. Auch die CFM, ein vom privaten Reinigungskonzern Dussmann und der Charité geführtes Unternehmen, in das etwa 2.000 Mitarbeiter der Charité ausgegliedert wurden, fällt unter Flierls "Gemeinsam". Aus dem Personalrat hört man, die Mitarbeiter der CFM würden in einer Art und Weise behandelt, die an Mobbing grenze. Man wolle sie wo weit treiben, dass sie von allein gehen, heißt es. Der Zweck dieses Vorgehens ist leicht zu verstehen. Das Gehalt der CFM-Mitarbeiter, die noch den Charité-Arbeitsvertrag haben, ist doppelt so hoch wie das der neu von der CFM eingestellten Kollegen.

Die "Notlage" der Charité ergibt sich aber nicht nur aus der Kürzungspolitik des Landes Berlin. Die bundesweite Einführung von Fallpauschalen führt, so Flierl, ab 2010 zu jährlich 40 Millionen Euro Einnahmeausfällen in der Charité. Budgetdeckelungen und die Erhöhung der Mehrwertsteuer tun ein Weiteres. Dieser Teil der "Notlage" der Charité hat ihre Ursache in der Bundespolitik.

Ein Mitglied des Personalrats der Charité bemerkte gegenüber der WSWS ganz richtig: "Natürlich ergibt sich ein Mittelproblem, wenn man ständig Gelder kürzt. Aber eine Notlage kann es normalerweise gar nicht geben, weil das Land für die Mittel der Charité nun mal in der Verantwortung steht." Aber wie soll ein angeblicher Sozialist wie Flierl einen solchen Spagat zwischen Senats-Kürzungspolitik und Verantwortung für Europas größtes Universitätsklinikum hinkriegen? Wofür er sich entschieden hat, zeigen seine Pläne als Aufsichtsrat.

Schon diese wenigen Fakten zeigen, dass es sich bei dem Streik der Charité-Mitarbeiter nicht um einen bloßen Arbeitskampf handelt. Das Problem, vor dem sie stehen, hat dieselben Wurzeln, wie beispielsweise die Kürzungen bei den BVG-Mitarbeitern vor einem Jahr oder der gerade angelaufene Schülerstreik. Der Gegner im Charité-Streik ist nicht einfach ein störrischer Arbeitgeber, sondern der rot-rote Senat und die schwarz-rot Bundesregierung. Der Streik hat eine politische Dimension, der man sich stellen muss.

Vor den Mitarbeitern der Charité steht die Aufgabe den Streik auszuweiten, die anderen Kollegen der Charité, Kollegen in anderen Kliniken und auch in anderen Branchen zu mobilisieren.

Die Gewerkschaft Verdi ist weder bereit noch in der Lage, eine solche Mobilisierung durchzuführen. Sie ist personell und politisch aufs Engste mit dem rot-roten Senat verbunden. Die Kürzungen und die Lohnsenkungen im öffentlichen Dienst und bei der BVG tragen alle ihre Unterschrift. In den vergangenen Wochen ist gegenüber den streikenden Ärzten an Kliniken und kommunalen Krankenhäusern sogar bundesweit als Streikbrecher aufgetreten, anstatt sich mit ihnen zu solidarisieren.

Der Kampf gegen die Kürzungen im Gesundheitswesen und für anständige Gehälter und Arbeitsbedingungen erfordert eine sozialistische Perspektive, die sich der ganzen kapitalistischen Logik widersetzt und die Bedürfnisse der Bevölkerung höher stellt, als die Profitinteressen der Wirtschaftsverbände und Kapitaleigner.

Siehe auch:
Politische Lehren aus dem Ärztestreik
(9. September 2006)
Gesundheitsreform: Systemwandel zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung
( 26. August 2006)
Verdi setzt Streikbrecherrolle gegen Ärzte fort
( 5. August 2006)
PDS und Verdi setzen zehnprozentige Lohnkürzungen bei der BVG durch
( 14. Juli 2005)
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