Lehren aus den Ereignissen in Ungarn

Die Ereignisse, die während der letzten Woche Ungarn erschüttert haben, sind eine politische Warnung für die Arbeiterklasse in ganz Europa. Die rechte, wirtschaftsfreundliche Politik der poststalinistischen Sozialistischen Partei hat ein politisches Vakuum geschaffen, das es ultrarechten Kräften ermöglichte, tagelang das Straßenbild zu beherrschen.

Die politische Richtungslehre scheint in Ungarn auf dem Kopf zu stehen. Die vorgebliche "Linke" setzt ein Sparprogramm durch, das vom europäischen Großkapital bejubelt wird und für große Teile der Bevölkerung (einschließlich der eigenen Wähler) sinkende Einkommen und Elend bedeutet. Die Rechte, mit offen faschistischen Elementen an der Spitze, mobilisiert die Straße und gebärdet sich als Fürsprecher des kleinen Mannes.

Letzteres ist natürlich eine Täuschung. Das chauvinistische Pack, das auf den Demonstrationen den Ton angab und auch vor Gewalt nicht zurückschreckte, hat alles andere als die Interessen der einfachen Bevölkerung im Sinn. Es knüpft an die reaktionärsten Traditionen der ungarischen Geschichte an - an die Horthy-Diktatur, die 1919 im Blut der zerschlagenen Räterepublik an die Macht watete und sich in den dreißiger Jahren mit Mussolini und Hitler verbündete; und an die Pfeilkreuzler, die den Terror gegen die ungarischen Juden organisierten.

Die ungarische extreme Rechte umfasst einige Hundert, im höchsten Fall einige Tausend Köpfe. Unter den Demonstrationsteilnehmern, von denen viele ebenso empört wie politisch verwirrt waren, bildeten sie eine Minderheit. Doch das Vakuum, entstanden durch das Fehlen jeglicher Interessenvertretung der Arbeiterklasse, ermöglichte es ihnen, eine tonangebende Rolle zu spielen. Notorische Rechtsextreme ergriffen auf den Kundgebungen ungehindert das Wort und ernteten Applaus.

Die extreme Rechte versucht, die Frustration über die soziale Krise in nationalistische Fieberphantasien und rassistischen Wahn zu übersetzen. Organisationen wie die Partei für Ungarisches Recht und Leben (MIEP), "Die Rechten" (Jobbik) und "64 Burgkomitate" verbinden die Agitation gegen die Europäische Union und das internationale Kapital mit hysterischem Antikommunismus, der Forderung nach einem Großungarn in den Grenzen von 1918 und unverhülltem Antisemitismus. Und das in einem Land, in dem über die Hälfte der einst rund eine Million jüdischen Einwohner in den Gaskammern der Nazis ermordet wurden! Heute leben nur noch knapp 100.000 Juden in dem Zehn-Millionen-Einwohner-Land.

Die größte rechte Oppositionspartei, der Bund Junger Demokraten (Fidesz), treibt dabei ein Doppelspiel. Sie unterhält enge politische und persönliche Kontakte zur extremen Rechten und hat sich nie klar von dieser distanziert. So hat Fidesz-Führer Viktor Orban im Wahlkampf 2002 die Sozialisten im Stil der Rechtsextremen als "Handlanger des Groß- und Finanzkapitals" denunziert und sogar eine Koalition mit der antisemitischen MIEP erwogen - die dann allerdings den Wiedereinzug ins Parlament verpasste. Derselbe Orban hatte zwischen 1998 und 2002 als Ministerpräsident den Beitritt Ungarns zur EU betrieben und acht Jahre lang als Vizepräsident der Liberalen Internationale amtiert, zu der auch die deutsche FDP gehört. Seit 2002 übt er dieselbe Funktion in der Europäischen Volkspartei aus, dem Dachverband der europäischen Christdemokraten.

Die jüngsten Demonstrationen wurden von Fidesz-Funktionären teilweise über Handy gelenkt. Sie erhofften sich davon offenbar bessere Wahlchancen bei den Kommunalwahlen vom 1. Oktober, die als erster großer Test nach dem Sieg der Sozialisten bei den Parlamentswahlen vom April gelten. In der Öffentlichkeit hielt sich Fidesz aber zurück und sagte eine geplante Großdemonstration am vergangenen Samstag sogar ab, als deutlich wurde, dass die Gewalt der Rechten viele Wähler abstößt.

Nachdem Fidesz sich zurückgezogen hatte, ebbte die Protestwelle schnell ab. Am Dienstag dieser Woche zogen noch etwa tausend Demonstranten vor das Parlament in Budapest, am Mittwoch waren es nur noch hundert.

Auch das Ausmaß der Demonstrationen der vergangenen Woche war zwar beachtlich, aber keineswegs überwältigend. Bei der größten Kundgebung vom vergangenen Samstag meldeten einige Medien 40.000 Teilnehmer, was viele Beobachter für stark übertrieben halten. Die Zahl 20.000 entspricht wohl eher den Tatsachen.

Weit größer dürfte die Anzahl derjenigen sein, die mit geballter Faust in der Tasche zuhause saßen, alarmiert über das Auftrumpfen der Rechten und empört über die Rechtsentwicklung der Sozialistischen Partei. Sie finden in der offiziellen ungarischen Politik keine Stimme - und hier liegt die eigentliche Gefahr.

Sämtliche Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts zeigen, dass das Auftrumpfen der Rechten weniger ein Ergebnis ihrer eigenen Stärke, als der Schwäche und Lähmung der Arbeiterbewegung war. Selbst der Sieg der Nazis in Deutschland - die über ungleich größere und besser organisierte Kräfte verfügten als die heutigen ungarischen Rechtsextremen - war nur aufgrund der Spaltung und Lähmung der Arbeiterklasse durch Stalinismus und Sozialdemokratie möglich.

Die Folgen der kapitalistischen Restauration

Wenn der braune Abschaum heute wieder seinen Kopf erhebt und in der Lage ist, die soziale Verzweiflung auszubeuten, ist dies ein vernichtendes Urteil über die Politik der Sozialdemokratie. Deren bedingungsloses Eintreten für das kapitalistische Eigentum und dessen Wiedereinführung in Osteuropa hat die Arbeiterklasse politisch entwaffnet und ein politisches Vakuum geschaffen, das die Rechten nun ausbeuten.

Das ist keineswegs auf Ungarn beschränkt. In der früheren DDR sind die Neonazis der NPD erst vor einem Monat in das zweite von fünf Landesparlamenten eingezogen; in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern verfügen sie nun über eigene Abgeordnete. Und in Polen sitzt die rechtsradikale und antisemitische Liga Polnischer Familien (LPR) - und bis vor kurzem auch die ultrarechte Bauernpartei Samoobrona - mit der stockkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) der Kaczynski-Brüder in der Regierung.

Eineinhalb Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der Sowjetunion ist unübersehbar, wohin die Restauration des Kapitalismus in diesen Ländern geführt hat. Sie hat weder "Demokratie" noch die versprochenen "blühenden Landschaften" gebracht, sondern den politischen Abschaum der Gesellschaft nach oben gespült und große Teile der Bevölkerung ins soziale Elend gestürzt.

Die ehemaligen stalinistischen Herrscher haben sich zu neuen kapitalistischen Eigentümern aufgeschwungen - und firmieren dabei immer noch unter dem falschen Etikett "Sozialisten".

Der ungarische Regierungschef Ferenc Gyurcsany ist ein Musterbeispiel dieser Spezies. Der ehemalige stalinistische Jugendfunktionär erwarb sich im Laufe der wilden Privatisierungen der neunziger Jahre ein Millionenvermögen und sorgt nun als "sozialistischer" Regierungschef für die Verwirklichung eines Sparprogramms, das den ungeteilten Applaus der internationalen Finanzwelt findet.

Gyurcsany ist aber keineswegs der einzige stalinistische Jugendfunktionär, der es zu Macht und Reichtum gebracht hat. Die Ukrainerin Julia Timoschenko, der Pole Aleksander Kwasniewski oder die russischen Oligarchen - um nur einige zu nennen - sind ihm durchaus ebenbürtig.

Auf der anderen Seite stehen ehemalige Dissidenten und "Demokraten", die sich als hysterische Rechte entpuppen. In diese Kategorie gehören die Kaczynski-Brüder, zwei ehemalige Solidarnosc-Funktionäre und Berater Lech Walesas, aber auch Viktor Orban und der Führer der antisemitischen MIEP, Istvan Csurka.

Orbans Bund Junger Demokraten, die Fidesz, ist 1988 entstanden und spielte in der Wendezeit eine aktive Rolle. Die MIEP des 72-jährigen Csurka ist aus dem Ungarischen Demokratischen Forum hervorgegangen, einer der ersten Organisationen, die sich gegen das stalinistische Regime auflehnten.

Die Arbeiterklasse kann sich gegenüber den Bemühungen dieser ultrarechten Kräfte, die gegenwärtige Regierung zu stürzen und abzulösen, nicht gleichgültig verhalten. Ihr chauvinistischer und rassistischer Kurs hätte verheerende Konsequenzen. Jeder Versuch, ihr großungarisches Programm in die Tat umzusetzen, würde ähnlich blutig enden, wie die Aufspaltung Jugoslawiens in ethnische Einzelstaaten in den 1990er Jahren. Er würde Ungarn und seine Nachbarn in gewaltsame Konflikte stürzen und ethnische Pogrome auslösen. Ebenso reaktionär ist ihre Hetze gegen Juden, Romas und Sintis und andere Minderheiten.

Opposition gegen die Bemühungen der Rechten, eine Regierung zu stürzen, der sie vor fünf Monaten bei den Wahlen unterlegen sind, bedeutet aber keine politische Unterstützung für die Sozialisten. Deren Politik ist den Interessen der arbeitenden Bevölkerung diametral entgegengesetzt.

Das eigentlich Skandalöse an Gyurcsanys Rede, deren Bekanntwerden die jüngsten Proteste auslöste, war nicht so sehr sein Eingeständnis, gelogen zu haben. Das hat kaum jemanden überrascht. Bedeutender ist, dass er seine Partei auf eine Politik einschwor, die von den eigenen Wählern vehement abgelehnt wird. "Was wäre, wenn wir unsere Popularität einmal verlieren, weil wir große gesellschaftliche Dinge machen wollen", fragte er. Dann wäre es "auch kein Problem, wenn wir für einige Zeit unsere Popularität in der Gesellschaft verlieren".

Mit anderen Worten, um eine Politik im Interesse des Kapitals durchzusetzen, nimmt Gyurcsany bewusst in Kauf, dass seine Partei ihre Unterstützung verliert und die Rechten an die Macht gelangen.

Nur zwei Wochen nach dieser Rede, die er am 26. Mai in einer geschlossenen Fraktionssitzung seiner Partei hielt, verabschiedete Gyurcsanys Regierung ein rigoroses Sparpaket - 30-prozentige Erhöhung der Energiepreise, 5-prozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel und den öffentlichen Verkehr, Erhöhung der Krankenkassenbeiträge, Einführung von Studien- und Rezeptgebühren - das die ärmeren Bevölkerungsschichten empfindlich trifft.

Die EU-Kommission hat ihn deshalb ausdrücklich gelobt. Die Maßnahmen seien geeignet, das Haushaltsdefizit innerhalb von drei Jahren von 10 auf 3 Prozent zu senken, erklärte sie diese Woche. Auch die europäischen Medien priesen Gyurcsanys "Mut", den eigenen Wählern entgegenzutreten.

Um die Rechten zu stoppen und der arbeiterfeindlichen Politik der Regierung Gyurcsany entgegenzutreten, braucht die Arbeiterklasse eine eigene, unabhängige politische Partei. Sie muss die Lehren aus den Erfahrungen mit dem Stalinismus zu ziehen. Dessen Verbrechen bestand nicht darin, dass er das kapitalistische Privateigentum abschaffte, sondern dass er die Arbeiterklasse im Interesse einer privilegierten Bürokratie unterdrückte und den Aufbau des Sozialismus auf den nationalen Rahmen beschränkte.

Diese Lehren sind weitgehend unverstanden. Nur so ist es zu erklären, dass sich die Ultrarechten heute den Mantel des Ungarnaufstands vom Oktober 1956 umhängen, der in Wirklichkeit ein linksgerichteter Arbeiteraufstand gegen die stalinistische Bürokratie war, während die Erben der Stalinisten unter einem falschen "sozialistischen" Etikett die Interessen des internationalen Finanzkapitals vertreten.

Die Interessen der arbeitenden Bevölkerung können nur auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms verteidigt werden, dass die Arbeiterklasse über die nationalen Grenzen hinweg vereint und jede Form von Nationalismus und Rassismus entschieden zurückweist.

Siehe auch:
Ungarn: Wahlsieg für "sozialistischen" Millionär
(29. April 2006)
Soziale Explosion in Ungarn
( 21. September 2006)
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