Europäische Union unterzeichnet Vertrag von Lissabon

Eine Verfassung, die nicht Verfassung heißen darf

Es war peinlich, wie der britische Premierminister Gordon Brown die Bedeutung seiner Unterschrift unter das neue Vertragswerk der Europäischen Union herunterzuspielen versuchte, aber es verriet mehr, als andere europäische Staatsmänner zuzugeben bereit waren, die sich über Browns Unbehagen amüsierten.

Die eintägige Zeremonie in der portugiesischen Hauptstadt, an der die Staatschefs der EU sowie ihre Außenminister teilnahmen, war eine höchst aufwändige, eine pompöse, ja eine geschmacklose Veranstaltung. Das geschichtsträchtige Kloster von Jeronimo wurde mittels Lichteffekten und gigantischer Fernsehbildschirme zu einer Art Disney-Kulisse umgemodelt.

Großbritannien wurde dabei anfangs nur von Außenminister David Miliband vertreten. Brown, der seine Unterschrift erst später in aller Abgeschiedenheit unter das Dokument setzte, wollte erst überhaupt nicht erscheinen, beugte sich aber schließlich dem Druck anderer europäischer Staatschefs, allen voran Angela Merkels.

Er bestand jedoch darauf, zunächst einer früher eingegangenen Verpflichtung nachzukommen (einer Sitzung des sog. Liaison-Comittees des britischen Unterhauses). Tatsächlich aber war der Termin für dieses Treffen erst nach jenem für das Zusammentreffen von Lissabon vereinbart worden. Der Schattenaußenminister der Konservativen, Wiliam Hague, äußerte abfällig, Brown mache "aus einer so einfachen Sache wie dem Unterzeichnen des EU-Vertrages eine nationale Peinlichkeit". Er bezichtigte ihn der "Unentschlossenheit, Feigheit und gebrochener Wahlversprechen".

Zweifellos stellte Brown einmal mehr seine politische Rückgratlosigkeit zur Schau: Im letzten Moment zog er aus Furcht vor der Murdoch-Presse den Schwanz ein. Diese steht jeder Ausweitung der Befugnisse der EU feindselig gegenüber und setzt stattdessen entschieden auf das atlantische Bündnis mit den USA. Doch der Auftritt seiner 26 Amtskollegen war nicht rühmlicher, höchstens unverschämter. Sie feierten ein Vertragswerk, das sich kaum von der 2005 in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden klar gescheiterten Europäischen Verfassung unterscheidet.

Durch Taschenspielertricks wie die Umdefinierung der Verfassung zum "Vertrag", den Verzicht auf die ausdrückliche Nennung des Wortes "Verfassung", oder das Fallenlassen symbolischer Elemente des Entwurfs von 2004 - wie einer europäischen Flagge oder Hymne - wollen die europäischen Regierungen ausschließen, dass die für die Interessen des Großkapitals lebenswichtige Maßnahme durch eine abermalige Ablehnung der Bevölkerung gefährdet wird.

Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy sagte, er erwarte, dass das französische Parlament den Lissaboner Vertrag als erstes ratifizieren werde. Zuvor hatte er sich gegen eine zweite Volksabstimmung ausgesprochen.

Bereits am 4. Februar soll jetzt ein Sonderkongress zur Änderung der Verfassung zusammentreten, um den Weg für die Ratifizierung durch das Parlament am 8. Februar vorzubereiten. Sarkozy behauptet, über die Unterstützung der erforderlichen drei Viertel der Abgeordneten und Senatoren zu verfügen. Seine einzige Forderung war die Entfernung der Floskel über "freien und unverzerrten Wettbewerb" aus den Zielsetzungen der EU, um seiner Regierung die Möglichkeit zu protektionistischen Maßnahmen zu gewähren, die seiner Ansicht nach im strategischen Interesse Frankreichs liegen.

Derartige Forderungen waren für viele Teilnehmer der "Nein"-Kampagne von 2005 von zentraler Bedeutung, eingeschlossen der offiziellen und der sogenannten "extrem Linken". Sie stellten dem in der Verfassung festgeschriebenen Wirtschaftsliberalismus Sozialstaatsmaßnahmen im Rahmen einer national regulierten kapitalistischen Wirtschaft entgegen.

Sarkozy wendet sich dem Protektionismus zu, um der politischen Opposition gegen die von ihm gewünschten liberalen und wirtschaftsfreundlichen Maßnahmen das Wasser abzugraben. Und er ist auch gegen derartige Bestimmungen, wenn sie Frankreichs nationalen Interessen und denen des europäischen Kapitals schaden. Zur Kampagne für ein "Nein" zur Verfassung hatte er gesagt, die Globalisierung sei "die Ursache des Protestvotums und des Bekenntnisses breiter Bevölkerungsschichten zu protektionistischen Argumenten". Dann bekannte er seine eigene Überzeugung: "Europa braucht Protektion. Dieses Wort jagt mir keine Angst ein." Die Übernahme des europäischen Stahlkonglomerats Arcelor durch Mittal im Juni kritisierte er als "Vergeudung".

Auch in Dänemark wird es kein Referendum über den neuen Vertrag geben. Premierminister Anders Fogh Rasmussen erklärte nach einer Kabinettssitzung am 11. Dezember, der Vertrag stelle keine Bedrohung von Dänemarks Souveränität dar und werde daher im Parlament ratifiziert werden. Noch am selben Tag stellten sich die oppositionellen Sozialdemokraten und Sozialliberalen hinter ihn. Der dänischen Verfassung zufolge muss ein Referendum stattfinden, wenn eine Gesetzesüberprüfung feststellt, dass Teile der Souveränität Dänemarks an die EU abgetreten werden. 1992 hatten die Dänen die Maastricht-Verträge per Referendum abgelehnt. Ein Jahr darauf stimmten sie ihnen zu, nachdem eine Reihe von Ausweichklauseln zugestanden worden waren. Im Jahr 2000 lehnte ein weiteres Referendum die Einführung des Euro ab.

Die Niederlande erklärten bereits im September, es werde kein Referendum über den neuen EU-Vertrag abgehalten werden, dieser werde vielmehr im Parlament behandelt. Von der Verfassung wird kein Referendum verlangt.

In Irland muss eine Volksabstimmung durchgeführt werden, doch hat Premierminister Bertie Ahern hierfür noch kein Datum festgelegt. Der Justizminister bestätigte, ein Referendum sei notwendig und sollte rechtzeitig zum Inkrafttreten des Vertrages am 1. Januar 2009 durchgeführt werden. Sollte ein Mitgliedsland den Vertrag nicht ratifizieren, kann dieser nicht in Kraft treten. Doch wird erwartet, dass Irland, welches massiv von EU-Investitionsprogrammen profitiert hat, ihm zustimmen wird.

Brown steht bei seinen Bemühungen, den Vertrag anzunehmen, vor großen Schwierigkeiten - eine Situation, die er mit seinem Vorgänger Tony Blair teilt. Doch im Unterschied zu Frankreich, wo drei Viertel der Arbeiter und zwei Drittel der Angestellten gegen die Verfassung gestimmt hatten, ist die Bewegung in Großbritannien rein parlamentarisch geblieben und wird allgemein von Rechten und von den Konservativen dominiert.

Brown erklärte im Oktober seine Unterstützung für den revidierten Vertrag, nachdem er auf der Einhaltung der sogenannten "Roten Linien" bestanden hatte - einer Reihe von Änderungen an dem vorherigen Verfassungsentwurf, die Blair und er selbst ausgehandelt hatten. Diese vier "Roten Linien" ersparen Großbritannien die Zustimmung zu einer gemeinsamen EU-Politik in den Bereichen Justiz und Innenpolitik, Verteidigungs- und Außenpolitik, Sozialpolitik sowie zur Grundrechte-Charta. Auf dieser Grundlage lehnt es Brown ebenso wie Blair ab, ein Referendum über den Vertrag bzw. die Verfassung abzuhalten.

Die Konservativen lehnen den Vertrag als Bedrohung britischer Interessen ab, wogegen Brown seine eigene Unterstützung mit den gleichen Begriffen rechtfertigt und angibt, "Großbritanniens nationale Interessen" seien "geschützt" worden. Es bestehen noch offene Fragen zu der Möglichkeit nicht gewählter EU-Körperschaften, in bestimmten Bereichen die Politik zu diktieren, doch die alleinige Beschränkung auf diese Themen dient nur zur Ausblendung der wesentlicheren Fragen, die der Vertrag von Lissabon aufwirft.

Ziel des Vertragswerkes ist die Stärkung der Union als Handels- und Militärblock nach dem Beitritt von zehn Staaten im Jahr 2004, in der Hauptsache ehemals stalinistische Staaten in Osteuropa, denen kürzlich Rumänien und Bulgarien nachfolgten. Die europäischen Mächte sollen in die Lage versetzt werden, künftig in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht effektiver gegen ihre weltweiten Rivalen aufzutreten, dies besonders gegen die Vereinigten Staaten. Dazu sind in dem Vertrag wirtschaftspolitische Maßnahmen vorgesehen, die die Zerstörung und Privatisierung der noch bestehenden Überbleibsel von Europas einstmals weitreichenden Sozialsystemen und Arbeitsschutzregelungen beschleunigen werden - alles, um das Profitstreben der Großkonzerne zu begünstigen.

Der bislang rotierende Ratsvorsitz der EU soll durch einen auf zweieinhalb Jahre gewählten Vorsitzenden des Europarates abgelöst werden.

Die Aufgaben des bisherigen "Hohen Vertreters für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (Javier Solana) sowie der "Kommissarin für Außenbeziehungen und europäische Nachbarschaftspolitik" (Benita Ferrero-Waldner) sollen in einem einzigen, neu geschaffenen Posten zusammengefasst werden, der jedoch nicht den Titel "Außenminister" tragen wird. Auch einer wechselseitigen Verteidigungsvereinbarung zwischen den Mitgliedsländern wurde zugestimmt.

Die EU-Kommission wird bis zum Jahr 2014 von derzeit 27 Mitgliedern auf dann noch 17 beschnitten werden; auch die Versammlung der Finanzminister der Länder, die bereits die Einheitswährung Euro eingeführt haben, soll formalisiert werden. Das Europaparlament und der Europäische Gerichtshof erhalten einige Zusatzbefugnisse.

Das gegenwärtige System der Entscheidungsprozesse wird noch bis 2014 fortbestehen, dann jedoch durch ein neues ersetzt werden, das die Kontrolle der mächtigeren Staaten - darunter besonders Deutschlands - über die kleineren, neu hinzugetretenen Länder stärkt. Auf mehr Gebieten als bisher soll für eine Entscheidungsfindung ein Mehrheitsvotum anstatt der bisherigen Einstimmigkeit genügen, darunter Belangen aus der Rechts- und Innenpolitik. Auf manchen Gebieten wurden nationale Vetorechte entfernt.

Eine Grundrechtscharta mit 50 Artikeln soll bindend werden. Ihr Text ist gleichwohl nicht im Vertragswerk zu finden, da einige ihrer Vorschriften zum Arbeitsschutz - wie die Gewährung des Streikrechtes - auf den Widerstand Großbritanniens und anderer trafen. Dies war eine von Browns berühmten "Roten Linien". Die meisten übrigen in der Charta aufgeführten Rechte - wie Meinungsfreiheit, Asylrecht, das Recht auf Bildung, auf Tarifautonomie und angemessene Arbeitsbedingungen - werden in Wirklichkeit von Regierungen in ganz Europa systematisch angegriffen.

Es mag Sarkozy gelungen sein, die Worte "freier und unverzerrter" Wettbewerb aus dem Text entfernen zu lassen. Doch das Bekenntnis zum Wirtschaftsliberalismus, das in ihnen seinen Ausdruck fand, bleibt als ein Kernziel der Europäischen Union bestehen. Die Dienstleistungsdirektive für den Binnenmarkt (besser bekannt unter dem Namen ihres Schöpfers als "Bolkestein-Direktive") wurde bereits im vergangenen September angenommen. Sie schafft einen einheitlichen europäischen Dienstleistungsmarkt und bereitet den Weg für rücksichtslose Privatisierungen, Auslagerungen in den privaten Wirtschaftssektor und die Aufhebung von Arbeitsschutzbestimmungen in ehemals staatlichen Betrieben.

Es waren diese wirtschaftspolitische Agenda, ausgerichtet gegen die Arbeiterklasse und zugunsten der transnationalen Konzerne, und der politische Imperativ, Europas militärischen und politischen Einfluss weltweit zu stärken, die Merkel, Sarkozy, Brown und Konsorten in Lissabon zusammenführten.

Merkel nannte den Vertrag die "Grundlage einer neuen Europäischen Union des 21. Jahrhunderts", sagte jedoch nicht, worin dieses neue Gebilde bestehen soll. Portugals Premierminister Jose Sokrates erklärte bei der Eröffnungszeremonie: "Die Welt braucht ein stärkeres Europa", sagte aber nicht, warum. Der britische EU-Handelskommissar Peter Mandelson wurde da deutlicher: "Es gibt Mächte vom Ausmaß ganzer Kontinente, mit denen wir uns entweder arrangieren, oder aber zu denen wir aufschließen müssen, ob das nun China, Indien oder die USA sind. Im Moment kämpfen wir nicht in der uns zustehenden Gewichtsklasse."

Siehe auch:
Staatschefs der Europäischen Union einigen sich in Lissabon auf Reformvertrag
(17. November 2007)
Europäische Union Privatisierung der Bahn und Sozialabbau
(1. November 2007)
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