Türkei bombardiert kurdische Dörfer im Nordirak

Am Wochenende und am Montag ist jeweils ein Geschwader türkischer Kampfflugzeuge mehrere Stunden lang über hundert Kilometer weit in den irakischen Luftraum eingedrungen und hat nach irakischen Angaben zehn Dörfer im überwiegend kurdischen Norden des Landes bombardiert. Zugleich eröffnete Artillerie mit großer Reichweite das Feuer und beschoss auch noch Stunden nach dem Luftangriff Ziele im Nordirak.

Der Angriff erfolgte mit Unterstützung der USA. Er soll die Türkei als regionalen Vorposten der USA stärken und gibt chauvinistischen und militaristischen Kräften im Innern der Türkei auftrieb. Wieder einmal dienen die Kurden als Bauernopfer bei den imperialistischen Bestrebungen im Nahen Osten.

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR meldete unter Berufung auf Einwohner der Region, bei dem Bombenangriff am Wochenende seien mehr als 1.800 Menschen (300 Familien) in Panik geflüchtet. Eine Zivilistin sei getötet, viele weitere verletzt worden. Über 200 Nutztiere seien ebenfalls getötet worden. Mindestens eine Schule und sechs Brücken, durch die viele Dörfer miteinander verbunden werden, seien zerstört worden.

Die kurdisch-nationalistische PKK [Arbeiterpartei Kurdistans], die den Nordirak als Rückzugsgebiet aus der Türkei nutzt und die das offizielle Ziel des Angriffs war, sprach von fünf toten Guerilla-Kämpfern und zwei toten Zivilisten. Zwei Schulgebäude seien zerstört worden.

Die Washington Post berichtet am Dienstag unter Berufung auf hohe US-Regierungsbeamte, die USA versorgten die Türkei mit Informationen über Aktivitäten und Bewegungen der PKK. Sie bestätigte damit Aussagen des türkischen Generalstabschef Yasar Büyükanit, der gegenüber Medien äußerte: "Amerika hat uns letzte Nacht den irakischen Luftraum geöffnet. Damit hat uns Amerika seine Zustimmung zu der Operation gegeben."

Laut Washington Post haben US-Militärs ein Verbindungsbüro in der türkischen Hauptstadt Ankara eingerichtet. Für die jüngsten Angriffe der Türkei seien Satellitenbilder geliefert und den türkischen Militärs "praktisch die Ziele aufgezeigt" worden. Im November hatte US-Präsident George W. Bush dem türkischen Premierminister Recep Tayip Erdogan "gute, verwertbare Daten in Echtzeit" versprochen.

Ein Pentagon-Sprecher betonte, die USA arbeiteten mit der Türkei im Kampf gegen die PKK zusammen. Dazu würden vor allem Geheimdienstinformationen zur Verfügung gestellt. Die Sprecherin des Weißen Hauses, Dana Perino, und Außenministerin Condoleezza Rice wiederholten die Formel, die PKK sei "ein gemeinsamer Feind der Türkei, der USA und des Irak".

Die irakische Regierung und die kurdische Regionalregierung reagierten verärgert auf den Angriff.

Der irakische Außenminister Hoshyar Zebari warf der Türkei am Montag vor, den Militäreinsatz nicht mit der irakischen Regierung abgesprochen zu haben. Zebari kritisierte zudem, dass bei den Bombardierungen am Sonntag Zivilpersonen zu Schaden gekommen seien. Das lege nahe, dass die türkischen Streitkräfte falsch informiert gewesen seien.

Bereits am Sonntag hatte die irakische Regierung den Botschafter Ankaras in Bagdad einbestellt. Das Außenministerium teilte mit, die Türkei sei aufgefordert worden, Angriffe zu unterlassen, die unschuldigen Menschen Schaden zufügten und Auswirkungen auf die freundschaftlichen bilateralen Beziehungen hätten. Das irakische Parlament verurteilte die türkische Offensive als "gewaltsamen Angriff auf die Souveränität des Irak und das Prinzip guter Nachbarschaft".

Die Antwort der Türkei kam prompt. In der Nacht zum Dienstag drangen mehrere hundert türkische Soldaten drei Kilometer in irakisch-kurdisches Gebiet vor, angeblich um PKK-Kämpfer zu verfolgen, und zogen sich erst nach fast 24 Stunden wieder zurück. Die kurdische Regionalregierung dementierte, dass es zu Zusammenstößen mit ihrer Miliz gekommen sei.

Destabilisierung des Irak

Die amerikanische Unterstützung für den türkischen Angriff hat zutiefst destabilisierende Auswirkungen. Am Dienstag boykottierte der Präsident der kurdischen Regionalregierung Masud Barzani ein Treffen mit US-Außenministerin Rice, die zu einem Überraschungsbesuch in den Irak gekommen war.

Laut AFP erklärte der Premierminister der Kurdenregion Nechirvan Barzani, Masud Barzani habe "in Bagdad an einem Treffen mit Condoleezza Rice und anderen teilnehmen wollen, er wird aber aus Protest gegen die amerikanische Haltung zu den Bombenangriffen der Türkei nicht gehen. Es ist inakzeptabel, dass die USA, die für die Überwachung unseres Luftraumes verantwortlich sind, die Türkei zur Bombardierung unserer Dörfer ermächtigt haben."

Barzani reagiert mit seinem Protest auf die weit verbreitete Verärgerung der kurdischen Bevölkerung. Ein kurdischer Journalist sagte dem Christian Science Monitor : "Es gibt eine weit verbreitete Stimmung, dass wir dies nicht tatenlos hinnehmen sollten. Die Leute sind über die US-Truppen verärgert. Sie haben den Eindruck, dass sie den Türken grünes Licht für die Bombenangriffe gegeben haben."

Der Menschenrechtler Sarkot Hama sah auch bei der Regierung in Bagdad eine Mitverantwortung. "Viele Kurden haben den Eindruck, die Regierung Maliki sei bereit, den Türken jede nötige Hilfe zur Bombardierung von Zielen in Kurdistan zu geben", sagte er.

Die Unterstützung der türkischen Angriffe durch die Bush-Regierung führt deren Behauptung, sie habe einen unabhängigen Irak geschaffen, ad Absurdum. Währen die USA vorher über die Angriffe Bescheid wussten, wurde die irakische Regierung weder gefragt noch informiert. Auch von Washington wurde Bagdad nicht in Kenntnis gesetzt.

Die türkisch-amerikanische Zusammenarbeit bei Angriffen auf irakisches Territorium trägt zur weiteren Schwächung der irakischen Regierung von Nuri al-Maliki bei. In letzter Zeit haben die US-Militärs Tausende sunnitische Milizionäre finanziert, obwohl Maliki dagegen protestierte. Die sunnitischen Milizen stehen den schiitischen fundamentalistischen Parteien, auf die sich Malikis Regierung stützt, äußerst feindlich gegenüber.

Die Stärkung der amerikanisch-türkischen Beziehungen hat aber noch eine weitere Dimension. Washington hofft, den Iran isolieren zu können, indem sie das türkische Vorgehen gegen die PKK unterstützt. Die Beziehungen zwischen Ankara und Teheran wurden in jüngster Zeit deutlich enger, was in Washington mit Sorge gesehen wird.

Der Marktwert der kurdischen Regionalregierung ist in Washington dagegen deutlich gesunken. Am Montag sah sich die kurdische Regionalregierung gezwungen, der Verschiebung des Referendums über den Status der nordirakischen Stadt Kirkuk um ein halbes Jahr zuzustimmen. Das Referendum hätte eigentlich spätestens Ende dieses Jahres stattfinden sollen.

Kirkuk gilt den kurdischen Nationalisten als "kurdisches Jerusalem". Es liegt in einer der ölreichsten Regionen des Irak und soll Hauptstadt Irakisch-Kurdistans werden. Dies wird von der Türkei und den turkmenischen und arabischen Einwohnern der Stadt abgelehnt. Die Türkei fürchtet, der Ölreichtum Kirkuks werde die wirtschaftliche Grundlage für einen unabhängigen Kurdenstaat liefern und damit dem kurdischen Separatismus im eigenen Land Auftrieb verleihen.

US-Außenministerin Rice machte am Dienstag nicht allzu subtile Andeutungen über die Haltung der USA zur Kirkuk-Frage. Sie sprach von der großen Bedeutung der Stadt "für die Zukunft des Irak, eines demokratischen Irak, eines Irak aller Volksgruppen". Das entspricht ziemlich genau der Haltung der Türkei, die damit stets kurdische Ansprüche auf Kirkuk zurückgewiesen hat.

Die Unterstützung der USA für die türkischen Angriffe auf die Kurden im Irak ist das bisher sichtbarste Zeichen einer Wende der amerikanischen Türkeipolitik. Bis vor wenigen Monaten hatten die USA einen solchen Angriff stets vehement abgelehnt. Türkische Kommentatoren feierten die erneuerte Partnerschaft mit Washington denn auch als den eigentlichen Erfolg der Angriffe. Dadurch habe sich die Türkei wieder als Regionalmacht gezeigt.

Unterdrückung der Kurden in der Türkei

Innerhalb der Türkei selbst wird die Haltung gegenüber den Kurden zunehmend repressiver. Die von der gemäßigt islamistischen AKP gestellte türkische Regierung begrüßte die Angriffe auf die irakischen Kurden, lobte die Armee - die seit langem eine nationalistische Kampagne gegen die AKP führt - und rief die einfachen PKK-Mitglieder auf, "nach Hause zu ihren Familien zurückzukehren".

Etwas Konkretes hat die AKP-Regierung den PKK-Mitgliedern freilich nicht anzubieten. Es gibt zwar Diskussionen über eine Amnestie, aber eine echte Amnestie wird vom Militär und den Nationalisten abgelehnt. Wer auf Straffreiheit hoffen will, darf weder Führungspositionen bekleidet noch sich an bewaffneten Aktionen beteiligt haben. Vor allem muss er Reue zeigen und seine Kameraden verraten.

Während einige türkische Kommentatoren die Luftangriffe auf den Irak als genialen Schachzug preisen, mit dem sich Regierungschef Erdogan Luft für eine politische Lösung verschafft habe, ist das Gegenteil der Fall. Noch vor wenigen Monaten hatten bei den vorgezogenen Parlamentswahlen auch viele Kurden die AKP unterstützt. Sie hatten diese als demokratischen Gegenpol zu den Militärs und den Nationalisten betrachtet. Doch kaum im Amt, gab die AKP den Militärs und den Nationalisten nach, indem sie Militäreinsätzen gegen den Nordirak zustimmte.

In der Türkei sind die Angriffe gegen die Kurden in jüngster Zeit immer weiter eskaliert. Gegen die im Parlament vertretene kurdisch-nationalistische Partei DTP läuft seit einigen Wochen ein Verbotsverfahren. Gegen alle 54 von der DTP in der überwiegend kurdischen Südosttürkei gestellten Bürgermeister laufen Strafverfahren wegen "Verherrlichung eines Straftäters oder einer Straftat", weil sie sich gegen die Schließung des kurdischen Fernsehsenders Roj TV ausgesprochen und eine unabhängige Untersuchung des Gesundheitszustands des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan gefordert haben. In den südöstlichen Provinzen der Türkei gilt praktisch wieder der Ausnahmezustand, das Militär hat Journalisten gewarnt, dorthin zu gehen.

Am vergangenen Freitag sprach ein Militärgericht in Van die zwei Angehörigen der Gendarmerie und ihren kurdischen Helfer frei, die am 9. November 2005 in der kurdischen Kleinstadt Semdinli einen Bombenanschlag auf einen Buchladen verübt hatten. Generalstabschef Büyükanit hatte Ali Kaya, einen der Gendarmen, als "guten Jungen" gelobt. Ein ziviles Strafgericht hatte die Angeklagten zu langjährigen Haftstrafen verurteilt, das oberste Berufungsgericht hatte die Entscheidung jedoch aufgehoben und den Fall an ein Militärgericht verwiesen, da die Angeklagten sich "im Dienst" befunden hätten. Das Militärgericht kam nun zum Ergebnis, der Anschlag sei eine "Provokation der PKK" gewesen.

Dann wurde am Montagabend der DTP-Vorsitzende Nurettin Demirtas bei seiner Rückkehr aus Düsseldorf auf dem Flughafen Ankara verhaftet, weil er angeblich ein ärztliches Attest gefälscht hatte, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Büyükanit hatte am Dienstag letzte Woche in unverhohlener Anspielung auf die DTP erklärt, die PKK sei legalisiert und sitze im Parlament. Außerdem meinte der Generalstabschef, Menschenrechte, Frieden und Demokratie seien zu "Waffen" der Terroristen geworden.

Was für eine Stimmung derzeit von nationalistischen Kräften in der Türkei geschürt wird, zeigt auch eine aktuelle Kampagne der Zeitschrift Türk Solu [Türkische Linke]. Sie verteilt Anstecker mit der Losung "Ich kaufe beim Türken, mein Geld geht nicht an die PKK", was sich offensichtlich an die Nazi-Kampagne "Kauft nicht bei Juden" anlehnt.

In einem solchen Klima kann die nationalistische Opposition im Parlament, die kemalistische CHP und die faschistische MHP, die AKP-Regierung weiter unter Druck setzen. Einem Bericht des New Anatolian zufolge begrüßten diese zwar die Militäroperation, warfen der Regierung aber gleichzeitig vor, dem Militär nicht früher die Erlaubnis dazu gegeben zu haben. Deshalb könne es jetzt (aufgrund der mittlerweile zugeschneiten kurdischen Berge) keinen Großeinsatz mit Bodentruppen geben, der aber notwendig sei. Sogar Büyükanit wird von MHP und CHP von rechts angegriffen, weil die Militäroperation nicht umfangreich genug sei.

Siehe auch:
Bush gibt Erdogan grünes Licht für Militärschläge gegen Kurden
(10. November 2007)
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