Warum sterben Kinder an Vernachlässigung?

Kindesvernachlässigungen mit Todesfolge oder Kindstötungen beherrschten in den letzten Wochen und Monaten immer wieder die Schlagzeilen. In der Regel wurden die Eltern als wahre Monster präsentiert. In Wirklichkeit manifestiert sich in diesen Tragödien die Sozialpolitik der rot-grünen Bundesregierung und ihrer Nachfolgerin, der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD.

Einer der letzten derartigen Fälle ist exemplarisch. Im thüringischen Sömmerda wurde Mitte Dezember ein neun Monate alter Säugling tot aufgefunden. Das Jugendamt ließ die Tür einer Wohnung öffnen, um die darin befindlichen Kinder in Obhut zu nehmen. Eine Nachbarin hatte die Behörden informiert, dass die Mutter sich seit Tagen nicht mehr in der Wohnung aufhalte. Der kleine Leon war laut Obduktionsergebnis verdurstet. Auch seine zweijährige Schwester, die in einem Laufstall gefunden wurde, war stark dehydriert. Sie überlebte.

Die 20-jährige, von ihrem Mann getrennt lebende Mutter hatte die Wohnung am 10. Dezember verlassen und die Kinder allein zurückgelassen. Sie gab an, überfordert gewesen zu sein und sich in den Straßen von Sömmerda, einer ziemlich tristen Kleinstadt in der Nähe von Erfurt, "herumgetrieben" und bei einer Freundin übernachtet zu haben. Das mag wohl zutreffen. Vermutlich aber hatten sie nicht nur "Überforderung", sondern Panik oder Verzweiflung aus der Wohnung getrieben.

Immerhin war der jungen arbeitslosen Mutter und Hartz-IV-Empfängerin, die sich erst vor kurzem vom Vater ihrer Kinder getrennt hatte, der Strom abgestellt worden, weil sie seit einiger Zeit die Rechnungen nicht bezahlt hatte. Offenbar häuften sich bei der jungen Frau die dramatischen Ereignisse derart, dass sie weder ein noch aus wusste.

Jedenfalls scheint sie die Kinder nicht über längere Zeit vernachlässigt zu haben. Die Kinder erweckten nach Auskunft der Staatsanwaltschaft nicht den Eindruck, sie seien monatelang unterernährt worden, wie es bei dem im November aufgefundenen kleinen Kevin aus Bremen der Fall war. Auch gab es weder bei Leon noch bei seiner Schwester Spuren von Misshandlungen. Auch soll die Wohnung insgesamt keinen verwahrlosten Eindruck gemacht haben. Allerdings roch es nach Urin und verdorbenen Lebensmitteln, was nicht verwunderlich ist, da Kühlschrank und Waschmaschine, seit der Strom abgestellt worden war, nicht mehr betrieben werden konnten.

Die Mutter war am 14.Dezember, wenige Stunden nach dem Fund der Babyleiche, bei einer Bekannten in Sömmerda festgenommen worden. Sie soll einen verstörten Eindruck gemacht haben, was ebenfalls dafür spricht, dass das Verlassen der Kinder keine böswillige Nachlässigkeit, sondern eher eine Art Kurzschlusshandlung war. Gegen sie wurde am Tag darauf Haftbefehl unter anderem wegen Totschlags erlassen.

Das Jugendamt, das die Kinder in Obhut nehmen wollte, aber zu spät gekommen war, wies eigenes Verschulden zurück. Doch selbst wenn sich die Beschäftigten des Jugendamtes hier keine Versäumnisse vorzuwerfen haben, ist die Schuld für derart tragische Ereignisse nicht in erster Linie bei den Eltern zu suchen. Die traurige Tatsache, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt, unterstreicht dies.

Gesellschaftliche Hintergründe

An einem derart abnormen Verhalten von Eltern ist in sehr hohem Maße die gesellschaftliche Umgebung schuld. Durch soziale Ausgrenzung, Vereinsamung und familiäre Konflikte, die oft mit Armut und Arbeitslosigkeit einhergehen, werden Familien zerstört und die Eltern mit ihren Problemen alleingelassen.

Hier fällt die allgemeine soziale Verwahrlosung ins Gewicht, die sich durch die Gesetzgebung der rot-grünen Regierung enorm verschärft hat und die unter der Großen Koalition fortgesetzt wird.

Eine jüngst im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung verfasste Studie stellt fest, dass immer mehr Hartz-IV-Empfängern, wie der jungen Mutter aus Sömmerda, der Strom abgedreht wird, weil sie mit ihrem niedrigen Regelsatz die steigenden Stromkosten nicht auffangen können. Die Tatsache, dass der Strom - im 21. Jahrhundert die Lebensgrundlage - überhaupt abgestellt werden darf, ist Ausdruck der sozialen Verrohung der Gesellschaft.

Neben den massiven finanziellen Kürzungen wurde hat die Hartz-Gesetzgebung auch strukturell vieles geändert. So wurden beispielsweise durch die Einführung von Hartz IV die Jugendhilfe und die Sozialhilfe voneinander getrennt. Das hat zur Folge, dass Jugendämter anders als zuvor nicht mehr erfahren, wenn eine Familie in finanzielle Not gerät und ihr beispielsweise der Strom abgestellt wird.

Zudem halten die Kürzungen bei Kommunen und Ländern an. Gelder für Familienberatungsstellen, Drogen- und Suchtberatung sowie Frauenhäuser werden verringert oder ganz gestrichen. So leiden die Jugendämter in vielen Gemeinden unter finanzieller Auszehrung und müssen Personal einsparen. Dies hat wiederum Auswirkungen auf die Beschäftigten der Jugendämter- oft mit fatalen Folgen.

Anders als der Fall in Sömmerda wurde der Tod des kleinen Kevin in Bremen von geradezu haarsträubenden Fehlern der Ämter und Behörden begleitet. Der zweieinhalbjährige Junge war am 10. Oktober tot in der Wohnung seines schwer drogenabhängigen Vaters in Bremen-Gröpelingen gefunden worden. Er lag in Plastik eingehüllt im Kühlschrank. Seine ebenfalls drogenabhängige Mutter war Ende 2005 unter noch nicht geklärten Umständen zu Tode gekommen.

Die elterliche Sorge war nach dem mysteriösen Tod der Mutter vom Familiengericht dem Jugendamt übertragen worden. Inzwischen sitzt der Vater im Gefängnis, die zuständige Bremer Senatorin Karin Röpke (SPD) ist zurückgetreten, der Leiter des Amts für Soziale Dienste wurde versetzt und gegen den zuständigen Vormund des Jugendamtes ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Wir können im Vorfeld kein Urteil abgeben, wer bei den Behörden und Ämtern welche Aufgaben vernachlässigt hat, doch allein einige Zahlen über Bremen sprechen eine deutliche Sprache.

Das Land Bremen nimmt statistisch gesehen nach Berlin den zweiten Platz bei der Kinderarmut ein. Über 31.000 Kinder sind nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes auf Sozialhilfe angewiesen. Die Berliner Zeitung stellte fest, dass im Bremer Armen-Stadtteil Gröpelingen, wo Kevin starb, ein Sozialarbeiter durchschnittlich für 116 Kinder zuständig ist. Der Vormund Kevins war für 80 Kinder zuständig. Die Beschäftigten in der chronisch überlasteten und durch Sparzwänge ausgedünnten Jugendhilfe der Kommunen entscheiden in der Regel nach Aktenlage, ohne den jeweiligen Fall vor Ort genau untersuchen zu können.

Eine bundesweite Entwicklung

Der Bund deutscher Kriminalbeamter geht davon aus, dass jede Woche drei Kinder an den Folgen von Vernachlässigung oder Misshandlung sterben. Allein in Berlin wurden im Jahr 2005 schon 314 Fälle von mutmaßlicher Vernachlässigung von Kindern registriert. Das sind mehr als doppelt so viele wie noch vor zehn Jahren.

Bundesweit nahmen Jugendämter im vergangenen Jahr zwangsweise 5.800 Kinder wegen akuter Vernachlässigung in Obhut. Der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer schätzt die Dunkelziffer auf 25.000. Seiner Ansicht nach betreffen Fälle von Kindstötung fast immer "Familien am extremen sozialen Rand, von Armut betroffen und überfordert, mit dem zumeist ersten Kind klarzukommen".

In der Passauer Neuen Presse sprach Pfeiffer davon, dass es bei einem leichten bundesweiten Rückgang der Fälle von Kindstötungen in den letzten 15 bis 20 Jahren große regionale Unterschiede gebe. Im Osten sei die Not noch größer als im Westen. "Im Osten gab es ein früher dreifaches, heute etwas mehr als doppeltes Risiko für kleine Kinder, Opfer von Kindstötungen zu werden."

Außer Bremen und den östlichen Bundesländern gehört auch das Ruhrgebiet zu den Gebieten, in denen Kinder besonders von Verwahrlosung, Misshandlungen und schlimmen gesundheitlichen Folgen bis zum Tod bedroht sind. Der geschäftsführende Direktor des Zentrums für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung Klaus-Peter Strohmeier von der Universität Bochum erklärte jüngst in einem Artikel der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, im Revier gebe es Viertel, "in denen die Kinder keinen Erwachsenen kennen, der arbeitet".

Die Erkenntnis der Wissenschaftler ist eindeutig: Wo Armut herrscht, sind Kinder in erhöhter Lebensgefahr.

Gerät ein besonders grausames Ereignis, wie der Tod von Kevin oder Leon in den Blick der Öffentlichkeit, so überschlagen sich die Politiker mit Forderungen nach Strafen für überforderte und hilflose Mütter und Väter.

So ertönte sowohl aus CDU/CSU- als auch aus SPD-Kreisen der Ruf nach verpflichtenden ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen. Nach Schätzungen werden etwa 15 Prozent aller Kinder derzeit nicht zu den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen gebracht. In armen Stadtteilen von Großstädten sollen es sogar bis zu 50 Prozent sein. Bei Nichtteilnahme an den ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen sollten Bußgelder, aber zumindest Kürzungen des Kindergeldes oder gar der Sozialhilfe folgen, forderten diverse CDU/CSU-Politiker. Damit würden die betroffenen Familien noch weiter in die Enge getrieben und nach unten gedrückt.

Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung wies in einem Kommentar zu Recht darauf hin, dass in den Fällen von Kindstötungen nicht nur die Eltern auf furchtbare Weise versagt haben. "Sie zeugen auch von der Verwahrlosung der öffentlichen Verantwortung." Die Kinder seien nicht an einer unzureichenden Rechtslage gestorben, sondern daran, "dass die Behörden das Recht dieser Kinder nicht verwirklichen konnten oder wollten; daran, dass die Jugendämter überfordert waren und womöglich auch daran, dass das Geld nicht reichte". Die Heimplätze seien teuer, und die Jugendhilfe gehöre zu den großen Sparopfern bei den so genannten Reformen des Sozialstaates.

Nach Auskunft des Statistischen Bundesamtes benötigen immer mehr Familien die Hilfe von Sozialpädagogen. Die Zahl dieser Familien hat zwischen 2000 und 2005 um 54 Prozent zugenommen. 2005 nahmen 30.000 Familien diese Hilfe in Anspruch. Nach Angabe der Statistiker gab es dabei einen überdurchschnittlich starken Anstieg von Familien mit einem Kind. Während im Jahr 2000 insgesamt 5.400 Ein-Kind- Familien unterstützt wurden, stieg die Zahl 2005 auf 9.600.

Die Zahl der Kinder in betreuten Tagesgruppen nahm im selben Zeitraum ebenfalls zu. Ende des Jahres 2005 wurden 13.000 Kinder und Jugendliche pädagogisch betreut. Dies waren drei Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Wie viele Familien derartige Hilfen benötigen, aber nicht erhalten, erklären die Statistiken nicht. Ereignisse wie Kindstötungen sind nur die Spitze des Eisberges.

Die Zahl der außerhalb der Familien in Heimen oder in einer betreuten Wohnform untergebrachten Kinder und Jugendlichen sank trotz der offensichtlich zunehmenden Überforderung vieler Familien von 91.000 im Jahre 2000 auf 83.000. Der Grund dafür ist, dass die notorisch finanzschwachen Kommunen die Heimkosten scheuen, wie dies beim Fall des kleinen Kevin in Bremen deutlich wurde.

Modellprojekte für so genannte Risikogruppen, wie jüngst von dem Kriminologen Pfeiffer und der CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen angestrebt, haben reine Alibifunktion. Die Ministerin hat sich durch die Einführung des Elterngeldes einen Namen gemacht, das wohlhabende Familien auf Kosten einkommensschwacher bevorzugt und damit den Nachwuchs der Oberschicht subventioniert.

Zudem wird auch das angestrebte Modellprojekt mit einem zynischen ökonomischen Argument begründet. Laut Spiegel will von der Leyen das Projekt in sechs Städten - auch in Bremen - starten, indem so genannten Risikofamilien eine Familienhebamme zur Seite gestellt wird, die immer nach dem Rechten schauen soll. "Die Betreuerinnen sollen den zunächst 280 Frauen bei der Schwangerschaft und Geburt zur Seite stehen sowie die Versorgung des Babys durch regelmäßige Hausbesuche bis mindestens zum zweiten Lebensjahr unterstützen."

In den USA, wo 24.000 Kinder vergleichbar betreut wurden, hätten ähnliche Projekte schon gezeigt, dass nichts billiger und effektiver sei. "Jeder in die Familienhebamme investierte Dollar habe dort vier Dollar an ‚Reparaturkosten’ gespart, die anfallen, wenn Kinder auf Grund von Verwahrlosung später schwer krank oder kriminell werden", so ein Kriminologe.

Auch in den USA führt die Polarisierung der Gesellschaft, die noch noch gravierender ist, zu immer häufigeren Fällen von Kindstötung und Verwahrlosung. Es ist abzusehen, dass derartige Modellprojekte auch in Deutschland bald wieder dem Rotstift zum Opfer fallen.

Siehe auch:
Wachsende soziale Ungleichheit in Deutschland und Europa
(29. Dezember 2006)
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