Spannungen zwischen Nato und Russland eskalieren

Mit der einseitigen Kündigung des Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) durch Russland haben die Spannungen zwischen der Nato und dem Nachfolgestaat der Sowjetunion einen neuen Höhepunkt erreicht.

Der russische Präsident Wladimir Putin setzte den KSE-Vertrag am Samstag durch ein Präsidentendekret außer Kraft. Die Entscheidung wir in 150 Tagen wirksam, falls es bis dahin zu keiner Einigung mit der Nato kommt. Moskau hat allerdings Gesprächsbereitschaft signalisiert. Russland sei weiterhin an Verhandlungen über strittige Fragen interessiert, hieß es aus dem russischen Außenministerium.

Der 1990 vereinbarte und 1992 von 22 Staaten ratifizierte KSE-Vertrag hatte das Ende des Kalten Krieges besiegelt. Er legte Obergrenzen für die Anzahl konventioneller Waffen (Panzer, Artilleriegeschütze, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber) fest, die auf europäischem Boden stationiert werden dürfen. Als Folge wurden die großen Verteidigungsarmeen auf beiden Seiten des einstigen Eisernen Vorhangs abgebaut und durch wesentlich kleinere, moderne Eingreiftruppen ersetzt, die weltweit zum Einsatz kommen.

Die Auflösung des Warschauer Pakts und der Sowjetunion sowie der Beitritt zahlreicher ehemaliger Ostblock-Staaten zur Nato entzog dem KSE-Vertrag in seiner bisherigen Form die Grundlage. Daher wurde 1999 in Istanbul von insgesamt 30 Staaten ein angepasster KSE-Vertrag (AKSE) vereinbart, der aber bisher nur von Russland, Weißrussland, Kasachstan und der Ukraine ratifiziert wurde.

Die Nato-Staaten haben die Ratifizierung mit der Begründung hinausgezögert, Russland müsse erst seine Truppen aus Georgien und Moldawien abziehen. In beiden Ländern gibt es abtrünnige Provinzen, in denen russische Truppen stationiert sind. Moskau bestreitet hingegen, dass der Abzug der Truppen aus Georgien und Moldawien fester Bestandteil des AKSE-Abkommens sei.

Die Weigerung der Nato-Staaten, das AKSE-Abkommen zu ratifizieren, ist mit ein Grund, weshalb Russland nun den KSE-Vertrag gekündigt hat. Putin hatte seit April mit einem solchen Schritt gedroht. Am Samstag sprach er zwar nur ganz allgemein von "außerordentlichen Umständen", die ihn zu der Maßnahme bewogen hätten. Es ist aber offensichtlich, dass die Aussetzung des KSE-Vertrags eine neue Stufe in der Konfrontation zwischen Moskau und Washington bedeutet, die seit langem eskaliert.

Russland fühlt sich durch das aggressive Vordringen der USA nach Zentralasien und Osteuropa bedroht und bemüht sich seinerseits, seine Rolle als regionale und Weltmacht zurückzugewinnen. Die wachsenden Öl- und Gaseinnahmen und das amerikanische Debakel im Irak haben es in diesem Ansinnen bestärkt.

Die Stationierung von Bestandteilen des amerikanischen Raketenabwehrsystems in Polen und der Tschechischen Republik stößt in Moskau ebenso auf Ablehnung wie die Errichtung von US-Militärbasen in Rumänien und Bulgarien. Eine mögliche Nato-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine gilt in Moskau schlicht als inakzeptabel. Georgien bildet das Herz einer Region, durch die alle wichtigen Energietransportrouten aus Zentralasien laufen; und mit der Aufnahme der Ukraine würde die Nato in die Nähe Moskaus und in ein Gebiet vorrücken, das Jahrhunderte lang eng mit Russland verbunden war.

Auch auf internationaler Ebene gibt es zahlreiche Streitpunkte. So lehnt Russland die von den USA und der EU befürwortete Unabhängigkeit des Kosovo ab, widersetzt sich dem amerikanischen Konfrontationskurs gegen den Iran und kritisiert die massiven amerikanischen Waffenlieferungen an den Libanon.

In der Nato wird jetzt darüber spekuliert, ob die Kündigung des KSE-Vertrags lediglich ein Druckmittel sei, um die Nato zur Ratifizierung des AKSE-Vertrags und zum Entgegenkommen in anderen umstrittenen Fragen zu bewegen, oder ob sie einen neuen Aufrüstungswettlauf ankündigt. Sollte das Abkommen gegen Ende des Jahres tatsächlich ungültig werden, könnte Russland wieder große Waffenarsenale an seiner Westgrenze stationieren und müsste seine Streitkräfte nicht mehr durch die Nato inspizieren lassen.

In Deutschland riet der SPD-Bundestagsabgeordnete Hans-Peter Bartels zu einer gelassenen Reaktion auf Putins Ankündigung. Es handle sich "nur um ein Positionsmanöver der Russen" und setze keinen Rüstungswettlauf in Gang, beruhigte er. "Es wird jetzt keine gewaltige Aufrüstungswelle auf uns zurollen." Sein grüner Kollege Winfried Nachtwei sprach dagegen von einem "herben Rückschlag für Abrüstung und kooperative Sicherheit in Europa".

Tatsächlich hat die Demontage der Abrüstungsabkommen, die noch mit der Sowjetunion vereinbart worden waren, längst begonnen. Den ersten Schritt hatten 2001 die USA mit der einseitigen Kündigung des dreißig Jahre alten ABM-Vertrags gemacht, der die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen (Anti-Ballistic Missiles) regelt. Sie tat dies mit der Begründung, der Vertrag diene nicht mehr den amerikanischen Interessen.

Nun wird bereits darüber spekuliert, dass dem ABM- und dem KSE-Vertrag bald weitere Abkommen folgen könnten, wenn es zu keiner Einigung kommt. So kommentierte Kreml-Berater Gleb Pawlowski Putins Schritt mit den Worten: "Wenn die heutige Botschaft ignoriert wird, ist als nächstes der Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme an der Reihe."1

Im 1987 vereinbarten INF (Intermediate-Range Nuclear Forces)-Vertrag hatten sich die USA und die Sowjetunion verpflichtet, alle Raketen mittlerer und kürzerer Reichweite (500 bis 5500 Kilometer) zu vernichten. Die USA zerstörten damals 846 und die Sowjetunion 1846 Raketen. Dem Vertrag waren heftige Auseinandersetzungen über die Stationierung amerikanischer Pershing II und russischer SS-20-Raketen vorausgegangen, in deren Verlauf vor allem in Deutschland Hunderttausende auf die Straße gingen.

Erstmals seit den achtziger Jahren droht nun auf europäischem Boden wieder eine heftige Rüstungsspirale in Gang zu kommen. Einige Kommentatoren sprechen bereits von einem zweiten Kalten Krieg.Die europäischen Regierungen stellt die wachsende Konfrontation zwischen die USA und Russland vor ein schwieriges Dilemma.

Zum einen sind sie aus politischen und wirtschaftlichen Gründen auf ein gutes Verhältnis zu Russland angewiesen, das unter anderem für einen großen Teil des europäischen Energieverbrauchs aufkommt. Auch auf internationaler Ebene, etwa in der Iran-Frage, hilft ihnen eine Zusammenarbeit mit Russland, dem eigenen Standpunkt mehr Gewicht zu verleihen.

Ein neuer Aufrüstungswettlauf in Europa würde sie außerdem vor enorme finanzielle Schwierigkeiten stellen. Durch die Reduzierung der Truppenstärke und den Abbau konventioneller Waffen waren in den neunziger Jahren beträchtliche Summen eingespart worden, die in den Aufbau internationaler Interventionstruppen mit kostspieliger Technologie investiert wurden.

Gleichzeitig scheuen die europäischen Regierungen einen offenen Konflikt mit den USA, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihre wichtigster Bündnis- und Wirtschaftspartner sind. Trotz erheblicher Kritik am Irakkrieg fürchten sie eine amerikanische Niederlage im Irak, die auch ihre eigenen imperialistischen Interessen im Nahen Osten untergraben würde.

Washington nutzt dieses Dilemma, um Europa zu spalten und einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben. Es stützt sich dabei auf die neuen EU-Mitglieder Osteuropas, deren herrschende Elite stark antirussisch eingestellt ist und gleichzeitig eine deutsch-französische Dominanz über Europa fürchtet.

Das wurde bereits während des Irakkriegs deutlich, als der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die berüchtigte Unterscheidung zwischen dem "alten" und "neuen" Europa traf. Die Entscheidung über die Stationierung des Raketenabwehrschilds fiel dann in bilateralen Verhandlungen mit der polnischen und tschechischen Regierung an den Gremien der Nato vorbei, wo es vor allem von deutscher Seite erhebliche Vorbehalte gibt. Und während die technische Realisierbarkeit des Abwehrschilds nach wie vor fraglich ist, hat es einen Zweck bereits erfüllt - es hat die Spannungen zwischen Europa und Russland verschärft.

Gemäß dem Motto des ehemalige US-Sicherheitsberaters Zbigniew Brzezinski, dass die USA "das Aufkommen einer dominierenden, gegnerischen Macht" in Europa und Asien verhindern müssen, um "ihre globale Vormachtstellung geltend machen zu können", schürt die amerikanische Außenpolitik die Konflikte auf dem europäischen Kontinent. Erleichtert wird ihr dies durch die Zerstrittenheit der europäischen Regierungen, die die Interessen der großen Konzerne und Banken verteidigen, dabei die eigenen nationalen Interessen zunehmend in den Vordergrund stellen und mit heftigen Angriffen auf die sozialen Errungenschaften und demokratischen Rechte der Bevölkerung beschäftigt sind.

1 "If today's message is ignored, the Intermediate-Range Nuclear Forces Treaty will be next," Gleb Pavlovsky, a Kremlin political consultant, said.

Siehe auch:
Spannungen zwischen USA und Russland entladen sich in gegenseitigen Beschuldigungen
(8. Juni 2007)
Geplante US-Raketenbasis in Polen und Tschechien verschärft Spannungen in Europa
(14. März 2007)
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