Scharfe Spannungen beherrschen den G8-Gipfel

Der G8-Gipfel, der am Mittwoch in Heiligendamm beginnt, wird von heftigen Spannungen beherrscht, die sich teils offen, teils indirekt äußern. Nie zuvor seit Beginn der jährlichen Treffen vor 32 Jahren waren die Konflikte zwischen den Gipfelteilnehmern derart scharf.

1975 hatten sich die Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Deutschlands, Großbritanniens, Italiens, Japans und der Vereinigten Staaten erstmals auf Schloss Rambouillet bei Paris zu einem "Kamingespräch" getroffen. Auf Initiative des damaligen französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing und des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt sollte in kleinem Rahmen über internationale Wirtschafts- und Finanzprobleme gesprochen werden, um zu verhindern, dass sich der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods und die Ölkrise der 70er Jahre zu einem unkontrollierbaren internationalen Wirtschaftskollaps ausweiten.

Seither ist die G6, zu der 1976 Kanada und 1998 Russland hinzu stießen, zu einer gigantischen Institution mit jährlich wechselndem Vorsitz geworden. Zu den Wirtschaftsfragen sind außenpolitische und sozialpolitische Themen sowie Umwelt- und Sicherheitsfragen getreten. Die jährlichen Gipfeltreffen werden durch Zusammenkünfte diverser Fachminister vorbereitet und sind zu Mammutveranstaltungen angewachsen, zu denen neben großen Mitarbeiterstäben auch Tausende Journalisten anreisen. Allein die Kosten des diesjährigen Gipfels werden auf 100 Millionen Euro geschätzt, wobei der größte Teil für Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben wird.

Dieser Aufwand steht in umgekehrtem Verhältnis zum erwarteten Ergebnis. Eine ernsthafte Diskussion über brennende Probleme wird es in Heiligendamm nicht geben, geschweige denn eine Lösung. Brisante Fragen wie der Irakkrieg werden völlig ausgeklammert. Im Wesentlichen wird sich das Gipfelgeschehen auf einen Fototermin vor der malerischen Fassade des Hotels Kempinski und auf eine nichts sagende Schlusserklärung beschränken, die von hochrangigen Beamten in wochenlangen, zähen Verhandlungen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gestutzt wurden.

Die Unfähigkeit der Staats- und Regierungschefs, eine gemeinsame Antwort auf grundlegende internationale Probleme zu geben, hat zwei Ursachen.

Erstens hat die Rivalität zwischen den Großmächten um die Kontrolle von Rohstoffen, Energiequellen, billigen Arbeitskräften und Absatzmärkten ein derartiges Ausmaß angenommen, dass jede andere Frage unmittelbar davon berührt wird. Debatten über Klimaschutz, Aidsbekämpfung oder Entwicklungshilfe verwandeln sich unter der Hand in Prestigefragen, mit deren Hilfe wirtschaftliche Interessen verfolgt, neue Allianzen geschmiedet, diplomatischer Druck ausgeübt und beim heimischen Publikum um Unterstützung geworben wird.

Nur in seltenen Fällen - wie der Auseinandersetzung über den geplanten US-Raketenabwehrschild - werden dabei die wirklichen Differenzen offen angesprochen. Würden die bestehenden Konflikte zwischen den Gipfelteilnehmern in Heiligendamm unverhüllt ausgetragen, müssten diese nicht nur durch einen Hochsicherheitszaun von der Bevölkerung abgeschirmt werden, es wären auch mehrere Zäune nötig, um die Delegationen voneinander zu trennen.

Zweitens sind die versammelten Gipfelteilnehmer höchst unpopulär. Sie vertreten eine kleine, superreiche Elite, deren Abstand zum Rest der Bevölkerung sich in jüngster Zeit dramatisch erhöht hat. Sie vollziehen einen Drahtseilakt. Sie empfinden das Vorhandensein einer breiten, tief verankerten sozialen Opposition, der es lediglich an einer gemeinsamen Stimme fehlt, um sich artikulieren zu können, und sind gleichzeitig entschlossen, die Angriffe auf die Arbeiterklasse voranzutreiben und ihre Privilegien mit allen Mitteln zu verteidigen.

Weltweite Klassengesellschaft

Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel hat unter der Überschrift "Gipfel der Ungerechtigkeit" einen Artikel veröffentlicht, der einige Kernzahlen der weltweiten sozialen Polarisierung zusammenfasst. Obwohl dies nicht die Absicht der Autoren ist, liest er sich wie eine nachträgliche Illustration zu Karl Marx’ "Kapital", als vernichtende Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaft. Er zeigt nicht nur das Ausmaß der sozialen Gegensätze, sondern weist auch nach, dass das Tempo der Polarisierung rasant zunimmt.

So hat sich die Zahl der Dollar-Milliardäre allein im letzten Jahr von 793 auf 946 erhöht. 55 davon stammen aus Deutschland, das hinter den USA (415) an zweiter Stelle liegt, dicht gefolgt von Russland (53) und Indien (36). Das Vermögen dieser Milliardäre ist in einem Jahr um 35 Prozent gewachsen, auf 3,5 Billionen Dollar, mehr "als die gesamte deutsche Volkswirtschaft in einem Jahr an Waren und Dienstleistungen produziert".

Diesen unermesslich Reichen stehen 2,7 Milliarden Menschen gegenüber, die von weniger als zwei Dollar täglich leben müssen. Das reichste Prozent der Erdbevölkerung besitzt 51 Prozent des Gesamtvermögens, die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung dagegen nur 1 Prozent.

Diese Kluft zieht sich durch arme und reiche Länder gleichermaßen hindurch. In Deutschland stagnieren die unteren Einkommen seit zehn Jahren, die Gehälter der bestbezahlten Beschäftigten sind dagegen im gleichen Zeitraum um 17 Prozent gestiegen. Allein in den letzten zwei Jahren ist der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten verfügbaren Einkommen von 42 auf 38 Prozent gesunken, während der Anteil der Gewinne und Vermögenseinkommen von 31 auf 35 Prozent gestiegen ist - eine Folge der "Reformen" der rot-grünen Koalition.

In Russland ist das Durchschnittseinkommen als Ergebnis der kapitalistischen Restauration um mehr als 60 Prozent gefallen. Noch heute müssen drei Viertel der Bevölkerung von weniger als 200 Euro im Monat leben. Die 500 reichsten Russen verfügen dagegen über ein Vermögen, dass 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entspricht.

Diese Zahlen sagen mehr über den Charakter des G8-Gipfels, als alle salbungsvollen offiziellen Erklärungen. In Heiligendamm treffen sich die politischen Vertreter einer Finanzoligarchie, die den Globus rücksichtslos ausplündert.

Alle Gipfelteilnehmer sind in der Bevölkerung zutiefst verhasst: George W. Bush, verantwortlich für Irakkrieg und Guantanamo; Tony Blair, der sein Amt wenige Tage nach dem Gipfel diskreditiert verlässt; Romano Prodi, der gestützt auf eine angebliche Linkskoalition den italienischen Sozialstaat beseitigt; Stephen Harper, der Kanada außen- und innenpolitisch an die Bush-Administration heranführt; Shinzo Abe, der den japanischen Militarismus wieder belebt; Angela Merkel, deren Große Koalition an allen Enden kriselt und zerfällt; und Wladimir Putin, der zu traditionellen stalinistischen Unterdrückungsmethoden greift, um seine Herrschaft zu verteidigen.

Nicolas Sarkozy, der in Heiligendamm seinen Einstand gibt, hat die französische Präsidentenwahl auf der Grundlage eines ultrarechten Programms gewonnen. Er verdankt seinen Erfolg dem vollständigen Versagen der so genannten "Linken". Seine Amtsübernahme gilt in ganz Europa als Signal, nun auch noch die letzten Überreste des so genannten Sozialstaats zu zerschlagen.

Die soziale Polarisierung geht mit einem gewaltigen Anwachsen der internationalen Arbeiterklasse einher. "Die Öffnung der Märkte in China, Indien und der früheren Sowjetunion, aber auch in Arabien, hat die Zahl der Arbeitskräfte, historisch einmalig, auf über drei Milliarden fast verdoppelt, sie sind Teil der Weltwirtschaft geworden," schreibt Der Spiegel. "Eine weltweite Klassengesellschaft formiert sich."

Dieser Klassengegensatz beherrscht unausgesprochen das gesamte Gipfelgeschehen. War das Kamingespräch von Rambouillet noch ein Versuch, die wirtschaftlichen Gegensätze zu dämpfen und zu kontrollieren, signalisiert der Gipfel von Heiligendamm ein neues Stadium internationaler Konflikte und Klassenkämpfe.

Schon die äußeren Umstände machen dies deutlich - die Abschottung des Gipfels vor der Öffentlichkeit, das gewaltige Sicherheitsaufgebot, das brutale Vorgehen der Polizei gegen Gipfelgegner und Demonstranten.

Konflikt zwischen Russland und den USA

Die Auseinandersetzung über den geplanten Raketenabwehrschirm der USA ist am Vorabend des Gipfels eskaliert. Der russische Präsident Wladimir Putin hat unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er die Stationierung von Komponenten dieses Systems in Polen und Tschechien als existenzielle Bedrohung Russlands betrachtet. Dabei ließ er die übliche diplomatische Zurückhaltung weitgehend fallen.

Am Freitag vor dem Gipfel lud er Journalisten aus den Teilnehmerstaaten in seine Privatresidenz bei Moskau und warnte vor einem "neuen Wettrüsten in Europa". "Zum ersten Mal in der Geschichte werden auf dem europäischen Kontinent Komponenten des amerikanischen Nuklearsystems entstehen", sagte er dem Spiegel. Das verändere "die gesamte Konfiguration der internationalen Sicherheit" und störe "die strategische Balance in der Welt". Kurz zuvor hatte Russland demonstrativ zwei neue Interkontinentalraketen getestet, die in der Lage sein sollen, den Raketenschirm zu durchbrechen.

Putin warnte auch eindringlich vor der Anerkennung eines unabhängigen Kosovo, wie sie von Washington betrieben wird. Er drohte indirekt mit der völkerrechtlichen Anerkennung der abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien sowie des moldawischen Transnistrien, falls der Kosovo zu einem unabhängigen Staat werde.

Die Bush-Administration hat ihrerseits deutlich gemacht, dass sie von ihren Raketenplänen nicht abrücken wird, und den Druck auf Russland gezielt erhöht. So stattete der amerikanische Präsident auf dem Weg zum Gipfel Tschechien und Polen demonstrativ einen Besuch ab. Auf dem Rückweg wird er Albanien, den Nachbarn des vorwiegend von Albanern bewohnten Kosovo, und Rumänien besuchen.

Der amerikanische Raketenschild richtet sich aber nicht nur gegen Russland, er soll auch einen Keil zwischen Russland und Europa treiben, das über die Frage tief gespalten ist. Während die herrschende Elite Osteuropas das Projekt unterstützt, trifft es in Deutschland und Frankreich auf Skepsis oder Ablehnung. Die Beziehungen zwischen Europa und Russland haben sich in jüngster Zeit deutlich verschlechtert. Aber auch die Beziehungen zu den USA werden zunehmend gereizter.

Merkel benutzt die Klima-Frage

Nicht zuletzt, um Washington entgegenzutreten, hat Gastgeberin Angela Merkel das Thema Klimaschutz in den Mittelpunkt des Gipfels gestellt. Wohl wissend, dass die Bush-Administration dem niemals zustimmen werde, wollte sie in der Schlusserklärung die Verpflichtung verankern, die Erderwärmung bei maximal zwei Prozent zu stabilisieren. Dazu müsste der Treibhausgasausstoß bis 2050 auf die Hälfte des Niveaus von 1990 zurückgeführt werden.

In den vergangenen Tagen sickerten dann wiederholt Berichte aus dem Kanzleramt, die amerikanischen Unterhändler strichen reihenweise ihnen nicht genehme Passagen aus der Abschlusserklärung. Merkel werde aber nicht nachgeben und eher ein Scheitern des Gipfels in Kauf nehmen, als sich auf einen verwässerten Kompromiss in der Klimafrage einzulassen. Die Presse reagierte mit den erwünschten Schlagzeilen: "Merkel bleibt hart", "Merkel tritt Bush entgegen" etc.

Die Bundeskanzlerin verfolgt mit diesem Vorgehen mehrere Ziele.

Zum einen ist es innenpolitisch von Vorteil, wenn sie Bush entgegentritt und sich als Vorkämpferin für die Umwelt darstellt. Während die Opposition gegen die unsoziale Politik der Großen Koalition wächst, gewinnt Merkel damit Umweltschützer aus der Mitteklasse und dem Umfeld der Grünen auf ihre Seite.

Das Protokoll einer vertraulichen Besprechung Merkels und ihren engsten Mitarbeitern vom 20. Mai, aus dem mehrere Zeitungen zitiert haben, macht deutlich, dass ihre Initiative in erster Linie auf das einheimische Publikum abzielt. Es lese sich, kommentiert Der Spiegel, "wie das Drehbuch einer wenn nicht geplanten, so doch nicht ganz unliebsamen Provokation". Das Klimathema solle gezielt in die Öffentlichkeit gerückt werden, weil es - so das Protokoll - "besser kommunizierbar" sei, als andere Themen wie Finanzmärkte und Welthandelsrunde. Mit anderen Worten, es soll von der rechten Wirtschaftspolitik und der engen Zusammenarbeit mit der Bush-Regierung in außenpolitischen und militärischen Fragen ablenken.

Merkel, so Der Spiegel weiter, wolle mit ihrem Vorstoß zwei Vorurteile entkräften, die sich in Wahlkämpfen als hinderlich erwiesen hätten: Sie sei Amerika-hörig und engagiere sich nicht für die Umwelt. Falls die kränkelnde Große Koalition vorzeitig auseinander bricht, könnte sich dies bei möglichen Neuwahlen als entscheidender Vorteil erweisen. Auch ein Bündnis mit den Grünen wäre dann möglich, die der Union zusammen mit der FDP auch ohne Neuwahlen zur Mehrheit verhelfen können.

Merkel verfolgt mit ihrem Klima-Vorstoß aber nicht nur innen-, sondern auch außenpolitische Ziele. Sie hat den französischen Präsidenten Sarkozy und den britischen Premier Blair auf ihrer Seite und kann so das europäische Gewicht gegenüber den USA erhöhen, während sie gleichzeitig außenpolitisch und militärisch näher an Washington heranrückt.

Auch mit den amerikanischen Demokraten arbeitet Merkel zusammen. So empfing sie vergangene Woche die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, im Kanzleramt und verkündete ihre Übereinstimmung in Umweltfragen.

Schließlich sind massive wirtschaftliche Interessen mit der Klimafrage verbunden. Angesichts der Verteuerung und Verknappung von Öl und Gas werden alternative Energien immer profitabler und zu einem Milliardenmarkt. Europa und vor allem Deutschland haben auf diesem Gebiet gegenüber den USA einen Technologievorsprung, denn sie gewinnbringend nutzen können, sollten sich die G8 auf eine kurzfristige Senkung des Treibhausgassaustoßes verständigen.

Es verwundert daher nicht, dass die Vorstände von elf Großkonzernen Merkels Initiative in einem offenen Brief unterstützt haben. Sie fordern, die "Blockaden in der Klimapolitik" durch die USA müsse "endlich aufgehoben werden", und verlangen "verlässliche Rahmenbedingungen in der globalisierten Wirtschaft". Zu den Unterzeichnern gehören neben Deutscher Bahn und Deutscher Telekom auch der Otto-Versand, die Allianz-Versicherung sowie die Energiekonzerne EnBw, Vattenfall und BP. Auch der Ölkonzern Shell und der Multi Unilever sollen den Brief unterstützen.

Was die Umwelt selbst betrifft, so hat Merkels Vorschlag nur symbolische Bedeutung. Er bestimmt ein allgemeines Ziel, ohne praktische Schritte zu seiner Verwirklichung festzulegen. Solche allgemeine Ziele - zur Senkung der Armut, zur Entschuldung der ärmsten Länder, usw. - hat noch fast jeder G8-Gipfel festgelegt, ohne dass daraus jemals Konsequenzen gefolgt wären.

Die wachsenden Spannungen zwischen den Großmächten erinnern an den Beginn des vorigen Jahrhunderts. Damals entlud sich der Kampf um die Neuaufteilung der Welt nach gemeinsam geführten Kolonialkriegen, wie der Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstands, und Stellvertreterkriegen, wie den Balkankriegen von 1912-13, schließlich im Gemetzel des ersten Weltkriegs.

Siehe auch:
Polizei geht in Rostock massiv gegen Demonstranten vor
(5. Juni 2007)
Der G8-Gipfel und "Die Linke"
(2. Juni 2007)
Protestpolitik oder sozialistische Strategie
(1. Juni 2007)
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