Amerikas Krieg und Besatzung des Irak - Eine Gesellschaft wird liquidiert

Mehrere Reportagen haben in der ersten Jahreshälfte 2007 das Ausmaß an Zerstörung, Tod und Unterdrückung erkennen lassen, die durch die Besetzung des Irak verursacht wurden, die jetzt schon fünf Jahre andauert. Dieser Artikel untersucht die Konsequenzen der amerikanischen Aktivitäten im Irak, die auf einen Soziozid hinauslaufen, d.h. auf die absichtliche und systematische Zerstörung einer ganzen Gesellschaft.

Während das Hauptinteresse der offiziellen Politik und der Medien in den USA sich auf verschiedene Vorschläge zur Verhinderung des drohenden Debakels im Irak richtet, findet die Katastrophe, unter der die irakische Bevölkerung leidet, und die inzwischen historische Ausmaße annimmt, kaum öffentliche Beachtung.

Es gibt keine genauen Zahlenangaben darüber, wie viele Iraker durch den Krieg und die Besatzung der USA ihr Leben verloren haben - sowohl bei der Invasion und der darauf folgenden bewaffneten Gewalt, wie auch durch Krankheit und Hunger, besonders von Jungen und Alten. Jede ernst zu nehmende Schätzung setzt die Zahl der zusätzlichen Toten jedoch bei mehreren Hunderttausend bis zu einer Million an.

Der Irak, der einst zu den am meisten entwickelten Ländern der Region gehörte, ist nach seinen wirtschaftlichen und sozialen Kennziffern auf das Niveau der ärmsten afrikanischen Länder südlich der Sahelzone gesunken.

Eine ganze Gesellschaft wird durch Entfesselung von Gewalt und Verbrechen systematisch zerstört. Dies geschieht in einem Ausmaß, wie es das nicht mehr gegeben hat, seit Hitlers Armeen Europa im Zweiten Weltkrieg verwüsteten.

Dieser Krieg hat auch für die amerikanische Gesellschaft tödliche Konsequenzen. Inzwischen sind mehr als 3.400 amerikanische Soldaten im Irak gefallen und alles weist darauf hin, dass die Zahl der Toten mit der "Truppenaufstockung" der Regierung Bush noch schneller ansteigen wird, da die Kampftruppen in dicht besiedelten und äußerst feindselig gestimmten Wohngebieten Bagdads eingesetzt werden sollen.

Weitere 30.000 amerikanische Truppenangehörige sind verwundet worden. Mit Sicherheit werden Hunderttausende bleibende psychische Schäden aus ihrem Einsatz in diesem schmutzigen Kolonialkrieg davontragen.

Nach Schätzungen beläuft sich die tägliche finanzielle Belastung für die amerikanische Wirtschaft auf über 300 Millionen Dollar und es werden Gesamtkosten von 2 Billionen Dollar prognostiziert.

Die Schäden, die dieser kriminelle Krieg an dem politischen, sozialen und auch dem moralischen Gesundheitszustand der amerikanischen Gesellschaft anrichtet, werden aber um vieles kostspieliger sein. Trotz der abgenutzten Propaganda über den "Antiterrorkrieg", den Kampf um "Demokratie" und die "Befreiung" des irakischen Volkes, ist der Irakkrieg als der gescheiterte Versuch des amerikanischen Finanzkapitals anzusehen, sich immer mehr zu bereichern, und seine globale Hegemonie durch den nackten Diebstahl des irakischen Ölreichtums zu verteidigen.

Alle Teile der herrschenden amerikanischen politischen und Wirtschaftselite, die gesamte Regierung auf allen Ebenen, beide große Parteien und die Massenmedien sind in ungeheuerliche Kriegsverbrechen verwickelt. Kriminalität auf einem solch hohen Niveau darf nicht ungesühnt bleiben, ansonsten hätte dies schwerwiegende Auswirkungen auf die Zukunft des amerikanischen Volkes und letztendlich der gesamten Menschheit.

In ihrer Konsequenz laufen die amerikanischen Aktivitäten im Irak auf einen Soziozid hinaus, d.h. auf die absichtliche und systematische Zerstörung einer ganzen Gesellschaft.

Mehrere Reportagen haben in der letzten Zeit das Ausmaß an Zerstörung, Tod und Unterdrückung erkennen lassen, die durch die Besetzung des Irak, die sich jetzt schon im fünften Jahr befindet, verursacht wurde.

Eine Besatzungsarmee mordet und foltert

Bedeutsam ist ein Bericht des Pentagon über den psychologischen Zustand der amerikanischen Besatzungstruppen, der Anfang des Monats heraus kam. Er ist ein aussagekräftiger Hinweis auf die Gewaltorgie, die von den amerikanischen Besatzungstruppen gegen das irakische Volk entfesselt wurde. Das Dokument zeichnet das erschütternde Portrait einer Armee, die unter wachsender Demoralisierung, sowie geistigem und emotionalem Zerfall leidet. Dies findet seinen Niederschlag in gefühlskalter Gleichgültigkeit, wenn nicht unverhülltem Hass gegenüber der irakischen Zivilbevölkerung.

Die Studie zeigt, dass die Mehrheit der Truppe der Meinung ist, dass irakische Zivilisten kein Recht hätten, "mit Achtung und Respekt" behandelt zu werden. Annähernd 10 Prozent geben zu, ohne Not Gewalt gegen Iraker angewendet zu haben, entweder indem sie sie misshandelten oder ihr privates Eigentum zerstörten.

Das vielleicht bedeutsamste Ergebnis der Studie ist die Aussage, dass 14 Prozent der amerikanischen Soldaten und Marines unmittelbar für den Tod eines "feindlichen Kämpfers" verantwortlich sind. Unter der Voraussetzung, dass sich derzeit 170.000 Soldaten im Irak befinden - und seit 2003 über 650.000 mindestens einmal im Irak im Einsatz waren - ergibt sich eine riesige Zahl von Tötungen, die unmittelbar von US-Soldaten ausgeführt worden sind.

Viele dieser Soldaten befinden sich sicherlich in ihrem zweiten oder dritten Irakeinsatz. Die Daten berücksichtigen auch nicht, ob bei den Vorfällen eine oder mehrere Personen getötet wurden. Noch weniger wurde berücksichtigt, dass bei Luftangriffen oder Bombardierungen von Artilleriestellungen mit vielen Opfern zu rechnen ist. Bei der Studie wurden auch nicht die Zehntausenden Opfer berücksichtigt, die von angeheuerten Söldnern getötet wurden. Söldner müssen sich weder vor der irakischen Justiz noch vor Militärgerichten verantworten.

Einen weiteren Hinweis auf die allgegenwärtige tödliche Gewalt, die das Land überrollt, gab eine Umfrage, die Anfang des Jahres von ABC News, USA Today, BBC und der deutschen ARD durchgeführt wurde, und bei der 53 Prozent der Iraker angaben, dass entweder nahe Freunde oder Verwandte getötet oder verwundet wurden.

Neben der ansteigenden Todesrate wurde auch eine steigende Zahl von Verschwundenen registriert, die inzwischen den Horror, der mit diesem Begriff seit den Diktaturen in Argentinien und Chile verbunden ist, bei weitem übertrifft. Irakische Menschenrechtsorganisationen schätzen, dass 15.000 oder mehr Iraker vermisst werden, täglich kommen 40 bis 60 Verschwundene hinzu. Auf das Jahr umgerechnet ist demnach von 20.000 Menschen auszugehen.

Zweifellos wurden viele Menschen Opfer von Todesschwadronen, andere müssen der steigenden Zahl Verhafteter zugeordnet werden, die ohne Verfahren eingesperrt, und einer unbegrenzten Untersuchungshaft, und nicht selten der Folter unterworfen werden.

Das irakische Ministerium für Menschenrechte berichtete im März, dass beinahe 38.000 Festgenommene und Verhaftete von dem Regime festgehalten werden. Das US-Militär gibt 19.000 Verhaftete in den zwei wichtigsten Gefangenenlagern zu - in Camp Cropper und Camp Bucca. Schon diese Zahl beträgt beinahe das Sechsfache der Zahl der Gefängnisinsassen des Saddam-Regimes vor der amerikanischen "Befreiungs"-Invasion. Zweifellos wird diese Zahl stark ansteigen, wenn im Laufe der Maßnahmen der"Truppenaufstockung" viele weitere irakische Zivilisten ergriffen werden.

Millionenfache Vertreibung und Exil

Zusätzlich zu den Hunderttausenden Toten, die die Besatzung unter der irakischen Bevölkerung verursacht hat, ist auch die hohe Zahl von Flüchtlingen ein vergleichbar deutlicher Hinweis auf die katastrophalen Auswirkungen, die die Besatzung für die irakische Gesellschaft hat.

Schätzungsweise zwei Millionen Iraker sind aus ihrer Heimat geflohen, der größte Teil suchte Zuflucht in Syrien und Jordanien. Weitere 1,9 Millionen sind Vertriebene innerhalb des eigenen Landes.

Insgesamt sind 15 Prozent der Iraker auf der Flucht. Der Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt, dass sich pro Woche zwischen 40.000 und 50.000 weitere Iraker auf die Flucht begeben. Viele von ihnen müssen ohne jede Hilfe in Zelten oder im Freien übernachten.

"Wir verließen Bagdad, weil die Lage äußerst schwierig ist. Wir wurden mit dem Tode bedroht und sie nahmen uns unsere Häuser und unsere Geschäfte weg", berichtete ein Mann, der vor Kurzem mit seiner Familie in Syrien ankam, dem UNHCR. "Begreifen sie die Lage dort - nichts als Tod und Zerstörung."

Die Vereinigten Staaten, die derart Zerstörung und Tod verbreiten, haben seit 2003 nur 701 irakische Flüchtlinge ins Land gelassen. Allein Syrien hat bis jetzt ungefähr 1,2 Millionen Vertriebene aufgenommen. Washington versucht, dieses massive Flüchtlingsdrama zu verschleiern und weigert sich, Verantwortung dafür zu übernehmen. Der Grund ist, dass es eine einzige Anklage gegen die soziale Katastrophe darstellt, die Washington im Irak angerichtet hat.

Das starke Anwachsen des Flüchtlingsstroms innerhalb des Landes hat immer hoffnungslosere und angespanntere Bedingungen im Süden des Landes erzeugt, wohin schätzungsweise 700.000 Menschen geflohen sind. Diese Vertriebenen kommen zu den Flüchtlingen aus den Südprovinzen hinzu, die sich in den Provinzen Nadschaf, Kerbela und Basra befinden. Die regionalen Verwaltungen und Hilfsorganisationen sind überlastet und nicht mehr in der Lage, diese riesige Menschenmasse mit Unterkünften, Nahrung und medizinischer Hilfe zu versorgen. Die Zentralregierung in Bagdad ist erwiesenermaßen unfähig, und auch nicht willens, auch nur die notwendigste Unterstützung zu gewähren.

"Täglich kommen Dutzende Familien in den Flüchtlingslagern an und können nicht mit dem Grundlegendsten, wie Nahrung oder medizinischer Hilfe, versorgt werden", erklärte im März Ali Fakhouri, Sprecher des Provinzrates von Nadschaf gegenüber IRIN, der Nachrichtenagentur der Koordinationsstelle für Menschenrechte der Vereinten Nationen. "Die letzten zwei Monate waren die schlimmsten für diese Familien. Die Hilfsmaßnahmen sind aus Sicherheitsgründen beträchtlich eingeschränkt worden, und weil es in den regionalen Krankenhäusern an Medikamenten fehlt und die Krankenhäuser nicht erreichbar sind, sind besonders Kinder stärker von Krankheiten bedroht. Sehr häufig sind Durchfallerkrankungen bei den Kindern der Flüchtlinge im Süden."

Höchster Anstieg der Kindersterblichkeit

Der vermutlich erschütterndste Bericht stammt vom Kinderschutzbund "Save the Children". Er dokumentiert weltweit die Entwicklung der Kindersterblichkeit, die allgemein als eine der aussagekräftigsten Kennziffern für gesellschaftlichen Fortschritt angesehen wird.

Nach diesem Bericht, verzeichnet der Irak unfassbare 150 Prozent Zunahme an Todesfällen bei Kindern von 1990 bis 2005. Grob geschätzt starben 122.000 irakische Kinder im Jahr 2005, die Hälfte davon waren Neugeborene. Die Sterbekennziffer betrug 125 gestorbene Kinder unter fünf Jahre auf 1.000 Lebendgeborene. 1990 waren es zum Vergleich 50. Wie das irakische Gesundheitsministerium angibt, haben sich die Verhältnisse noch verschlechtert und die Sterberate ist im Jahr 2006 auf 130 Todesfälle pro 1.000 Neugeborene angestiegen.

Die Jahre, über die "Save the Children" in der internationalen Studie berichtet, haben eine besondere Bedeutung für den Irak. Sie beginnen 1990 mit den von den USA eingeleiteten schweren Wirtschaftssanktionen und enden 2005, zwei Jahre nach der Invasion. Wie in den meisten bedeutsamen Kennziffern über die soziale Zerstörung des Irak spiegelt sich auch in den Statistiken über die Kindersterblichkeit die ein Jahrzehnt lang andauernde erbarmungslose wirtschaftliche Strangulierung des Landes wieder. In diesem Zeitraum fanden auch immer wieder militärische Angriffe statt. Die Statistiken zeigen aber auch die brutalen Zerstörungen während der folgenden Invasion und Besatzung.

Der riesige Anstieg der Kindersterblichkeit im Irak ist beispiellos. Selbst afrikanische Länder südlich der Sahelzone, in denen die AIDS-Epidemie am schlimmsten wütet, haben keinen derart grauenhaften Zusammenbruch erfahren.

Ein Hauptfaktor für die Kindersterblichkeit sind zweifellos die amerikanischen Militäroperationen. Bei so gut wie jedem Luftangriff und jeder Bombardierung von bewohnten Gebieten befinden sich Kinder unter den Opfern.

Von noch viel größerer Bedeutung ist jedoch der umfassende Zusammenbruch der irakischen Wasser- und Elektrizitätsversorgung und der Abwasserentsorgung, sowie des Gesundheitssystems, was dazu führt, dass die wichtigsten Todesursachen bei Kindern - Durchfallerkrankungen, Mangelernährung, und vermeidbare Krankheiten wie Typhus und Hepatitis - nicht diagnostiziert und nicht behandelt werden können.

Die Vereinten Nationen haben allein seit 2006 über einen unvorstellbaren siebzigprozentigen Anstieg von Durchfallerkrankungen bei irakischen Kindern berichtet. Den höchsten Anstieg gab es in der Provinz Anbar, einem Zentrum des Widerstands gegen die US-Besatzung, das unter Dauerbelagerung der amerikanischen Streitkräfte lag. 60 Prozent der Bevölkerung der Provinz haben nur Zugang zu verunreinigtem Flusswasser.

Im ganzen Land hat weniger als ein Drittel der Bevölkerung sauberes Trinkwasser zur Verfügung und für nur 19 Prozent gibt es ein funktionierendes Abwassersystem. Sowohl das Trinkwasser- als auch das Abwassersystem wurden durch die amerikanischen Bombardierungen im ersten Golfkrieg 1991 und bei der Invasion 2003 schwer beschädigt. Nach dem Sturz der irakischen Regierung unternahmen die US-Streitkräfte nichts, um die Plünderung der nötigsten Ausrüstung von Wasseraufbereitungsanlagen und Pumpstationen zu verhindern. Wie überall, so war auch in diesem Bereich der "Wiederaufbau" ein katastrophaler Misserfolg.

Die Iraker werden im Durchschnitt täglich nur acht Stunden mit Strom versorgt. In Bagdad sind die Verhältnisse noch schlimmer. Dort gibt es für die Mehrzahl der sieben Millionen Einwohner nur eine maximal sechsstündige Stromversorgung.

Das verzweifelte Schicksal der irakischen Kinder

Das irakische Gesundheitsministerium schätzt, dass die Hälfte aller irakischen Kinder in der einen oder anderen Weise an Mangelernährung leidet. Nach einer neueren Studie von UNICEF leiden zehn Prozent der irakischen Kinder an akuter Unterernährung, während weitere 20 Prozent chronisch mangelernährt sind.

Mit der heraufziehenden Sommerhitze im Irak befürchten die Gesundheitsbehörden, dass die Todesfälle bei Kindern infolge Dehydrierung, Cholera und Infektionskrankheiten erheblich zunehmen werden. Sie warnen, dass das zerstörte irakische Gesundheitssystem dem völlig hilflos gegenüber stehen wird.

Das verzweifelte Los irakischer Kinder und ihrer Familien wurde von einer Mutter geschildert. "Vergangenes Jahr habe ich meine Tochter und meine Mutter durch Dehydrierung verloren", sagte die 35-jährige Zahra Muhammad der UN-Nachrichtenagentur IRIN. Sie berichtete, dass ihre Familie im Mai letzten Jahres gezwungen war, ihre Wohnung zu verlassen

Wir konnten uns keine Klimatisierung für unser Zelt leisten. Meine Tochter war erst vier Jahre alt und konnte die harten Lebensbedingungen und die große Hitze nicht verkraften", fuhr sie fort. "Ich habe noch zwei Kinder, die wegen der mangelhaften Ernährung auch schon krank sind. Die Ärzte haben mir gesagt, dass ich ohne Klimatisierung und ohne sauberes Trinkwasser in den kommenden Monaten große Probleme bekommen werde. Wenn ich noch ein Kind wegen mangelnder Elektrizität oder fehlendem sauberen Wasser verlieren sollte, dann möchte ich lieber mit ihm sterben."

Bis zu 260.000 Kinder sind einem Bericht des britischen Independent vom Januar zufolge seit der Invasion vom März 2003 gestorben.

Für die Kinder, die ihren fünften Geburtstag noch erleben, ist der Irak gefährlich und oft tödlich geworden.

Heute geht weniger als ein Drittel der irakischen Kinder zur Schule im Vergleich zu 100 Prozent vor der Invasion im März 2003. Der Hauptgrund, warum Schüler oft zu Hause bleiben, ist Furcht vor der allgegenwärtigen Gewalt, die den Schulweg zu einem unkalkulierbaren Risiko macht, das die Familien nicht einzugehen bereit sind.

Gleichzeitig hat das wahllose Morden viele Tausende Kinder zu Weisen gemacht: Sie sind jetzt zu einem festigen, tragischen Bestandteil des Straßenbildes in Bagdad und anderen großen Städten geworden, Sie betteln und schlafen auf den Straßen. Die UN-Nachrichtenagentur berichtet: "Tausende obdachlose Kinder im Irak ...überleben durch Betteln, Stehlen und indem sie den Abfall nach Nahrungsmitteln durchwühlen. Noch vor vier Jahren lebte die große Mehrheit dieser Kinder zu Hause bei ihren Familien."

Die verzweifelte Lage der irakischen Kinder hat eine Gruppe von 100 prominenten britischen Ärzten im Januar veranlasst, einen offenen Brief an Premierminister Tony Blair zu schreiben, in dem sie ihre tiefe Sorge über die Folgen der Besatzung ausdrückten. "Wir machen uns Sorgen darüber, dass Kinder im Irak sterben, weil sie keine medizinische Versorgung erhalten. Kranke oder verletzte Kinder, die mit einfachen Mitteln behandelt werden könnten, sterben zu Hunderten, weil selbst die einfachsten medizinischen Hilfsmittel und andere Versorgungsleistungen nicht zur Verfügung stehen. Kinder, die Hände, Füße und Gliedmaßen verloren haben, bekommen keine Prothesen. Kinder mit schweren psychischen Problemen bleiben ohne Behandlung."

Es gibt Befürchtungen, dass dieser letzte Punkt - die Traumatisierung einer ganzen jungen Generation - vielleicht die schwerwiegendste und gefährlichste Langzeitwirkung auf die irakische Gesellschaft haben wird. "Die Kinder im Irak leiden wegen der vollkommen unsicheren Lage unter schweren psychologischen Problemen", erklärte der Verband der Psychologen des Irak. Gestützt auf eine Untersuchung von 1.000 Schulkindern fand er heraus, dass 92 Prozent Lernstörungen hatten, die ihre Ursache in dem Klima von Gewalt und Furcht haben. "Alles, was ihnen im Kopf herumgeht sind Gewehre, Kugeln, Tod und die Angst vor der US-Besatzung", sagte Maruan Abdullah, der Sprecher des Verbandes, zu Reportern.

Die höllischen Bedingungen, die den irakischen Kindern aufgezwungen werden, sind ein Kriegsverbrechen. Als Besatzungsmacht sind die Vereinigten Staaten nach den Genfer Konventionen verpflichtet, Kindern unter 15 Jahren, schwangeren Frauen und Müttern mit Kindern unter sieben Jahren "bevorzugt Lebensmittel, medizinische Hilfe und Schutz angedeihen zu lassen", und "alle Einrichtungen zu erhalten, die der Versorgung und Bildung von Kindern dienen".

Katastrophale Verschlimmerung der Lage der Frauen

Der Krieg und die US-Besatzung haben die irakischen Frauen um Generationen zurückgeworfen. Millionen Frauen sind wieder offiziell zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden und sind dazu verurteilt, unter den übelsten Bedingungen wie Gefangene im eigenen Haus zu leben.

Diese Entwicklung ist eng mit den Rekordzahlen bei der Säuglingssterblichkeit verbunden und ein ebenso wichtiger Gradmesser für gesellschaftlichen Fortschritt - oder Rückschritt. Schon der französische utopische Sozialist Charles Fourier schrieb vor 155 Jahren in einer Passage, die Marx und Engels zitierten: "Gesellschaftlich fortschrittliche Veränderungen einer Periode werden von Fortschritten bei der Befreiung der Frauen begleitet, während der Zerfall des Sozialsystems von der Beschneidung der Freiheit der Frauen begleitet wird." Er schloss: "Die Ausweitung der Rechte der Frauen ist das Grundprinzip jeden gesellschaftlichen Fortschritts."

Ein Bericht der United Nations Assistance Mission for Iraq (UNAMI) vom April zur Menschenrechtslage im Irak berichtet von 40 "Ehrenmorden" an Frauen in einem Drei-Monats-Zeitraum in den Gouvernements Erbit, Duhok, Sulaimaniya und Salahuddin. Diese Frauen wurden wegen angeblich "unmoralischem" Verhalten von ihren eigenen Familien ermordet und in einigen Fällen bei lebendigem Leibe verbrannt.

Ein Bericht der irakischen Nachrichtenagentur Awena lässt erahnen, dass diese schreckliche Praxis in Wirklichkeit noch weiter verbreitet ist. Auf der Grundlage von Daten des Kriminalgerichts in Duhok und des Duchok Azadi Krankenhauses berichtete Awena im Januar, dass es in diesem Gouvernement 2005 289 Verbrennungen mit 46 toten Frauen, und 2006 366 Verbrennungen mit 66 Toten gegeben habe. Das Emergency Management Center in Erbil berichtet über 576 Verbrennungen mit 358 Toten in dem Gouvernement seit 2003.

Der UN-Bericht zeigt auf, dass sich in Erbil Vergewaltigungen von 2003 bis 2006 vervierfacht haben.

Die unter amerikanischer Aufsicht entworfene irakische Verfassung erklärt den Islam zur Staatsreligion und bestimmt, dass kein Gesetz des Landes den "unveränderlichen Prinzipien des Islam widersprechen darf". Dieses Prinzip bedeutet die Abschaffung des liberaleren irakischen Zivilrechts z.B. hinsichtlich Ehescheidung, Familienbesitz und Sorgerecht und seine Ersetzung durch die Schariah, die den Frauen die meisten Rechte verweigert.

Diese Prinzipien werden jetzt schon von den bewaffneten Milizen der islamistischen Parteien durchgesetzt, die schon Frauen getötet haben, weil sie es wagen, Professorinnen oder Ärztinnen zu sein, oder eine sichtbar leitende Funktion in Firmen zu bekleiden. Tugendwächter erzwingen unter Androhung von Gewalt die Einhaltung der islamischen Kleiderordnung, wie das Tragen des Hidschab (Schleier). Diese Gruppen fordern in einigen Gebieten, dass Frauen das Haus nach der Mittagszeit nicht mehr verlassen, keine Autos mehr lenken und sich nicht mehr ohne männliche Begleitung außer Hauses bewegen.

Ein Bericht der Organisation für Frauenrechte im Irak zum vierten Jahrestag der US-Invasion erklärte: "Die Frauen im Irak haben in den vergangenen vier Jahren der Besatzung Schritt für Schritt die meisten ihrer Errungenschaften und Rechte des 20. Jahrhunderts verloren. Der Irak wurde aus einem modernen Land mit gebildeten und berufstätigen Frauen in ein gespaltenes Land verwandelt, in dem islamische und ethnische Warlords darum wetteifern, Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. Das Leben von Millionen Frauen wird zerstört und zwischen dem zerstörerischen amerikanischen Militärapparat und den verschiedenen islamischen Richtungen zerrieben, die Frauen zu hilflosen, dunklen Objekten ohne Willen und Wert gemacht haben."

In dem Bericht werden Beisiele über zunehmende Gewalt gegen Frauen zitiert wie bandenmäßige Vergewaltigung von weiblichen Gefangenen und Angriffe von Milizen anderer Sekten auf Frauen als Instrument religiös motivierter Gewalt. Auch die Entführung von Frauen hat stark zugenommen. Ein Bericht der Organisation vom März vergangenen Jahres enthüllte, dass diesem Verbrechen, das unter der Herrschaft von Saddam Hussein so gut wie unbekannt war, in den ersten drei Jahren der US-Invasion 2.000 Frauen zum Opfer gefallen sind, von denen viele vergewaltigt oder gefoltert wurden. Diese Vorfälle haben, wie alle anderen Formen von Gewalt, im vergangenen Jahr stark zugenommen.

Vier Frauen sitzen im Irak in der Todeszelle und warten auf ihre Hinrichtung, zwei von ihnen sitzen gemeinsam mit ihren kleinen Kindern ein.

Die Auslöschung der Minderheiten im Irak

Ein weiteres beredtes Zeichen für die gesellschaftliche Desintegration des Irak ist das Schicksal seiner Minderheiten. Der jüngste Bericht von Minority Rights Group International warnt, dass Minderheiten im Irak systematisch ausgelöscht werden. Die Gruppe stuft den Irak als das zweitschlimmste Land weltweit ein, was die Behandlung von Minderheiten angeht - schlimmer als Darfur und lediglich etwas besser als Somalia.

Der Bericht mit dem Titel "Assimilierung, Exodus, Auslöschung: Iraks Minderheiten seit 2003" untersucht die Lage der armenischen und der chaldoassyrischen Christen, der Bahais, der failischen Kurden, der Juden, der Mandäer, Palästinenser, Schabaken, Turkmenen und Jeziden im Irak, die zusammen zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Im Irak werden weiterhin Mitglieder von Minderheiten gezielt getötet, darunter Christen, Jeziden und Mandäer. Andere Minderheitengruppen sind täglich Gewalt, Folter und politischer Assimilierung ausgesetzt, was zu einem Exodus dieser Gruppen aus dem Land geführt hat", heißt es in dem Bericht. Im vergangenen Jahr wurde der Irak in dieser Frage weltweit am schlechtesten bewertet. In diesem Jahr ist er auf die zweitschlechteste Stelle vorgerückt, weil sich die Lage in Somalia deutlich verschlechtert hat, wo eine von den USA eingefädelte Intervention zu massiver Gewaltanwendung geführt hat.

Einige der irakischen Minderheiten leben schon viel länger im Irak, als die Araber. Ihre Geschichte geht bis auf das antike Mesopotamien zurück. Heute werden sie zu Opfern von Gewalt und Einschüchterung, verschwinden aus dem Irak und werden getötet. Die übrigen fliehen ins Exil.

Die Autoren des Berichts machen die amerikanische Besatzung für diese Katastrophe verantwortlich. Sie schreiben: "Nach der Besetzung des Irak 2003 richteten die Behörden der Koalition einen irakischen Regierungsrat ein, dessen Zusammensetzung strikt ethnischen und religiösen Kriterien folgte. Politische Kumpanei sorgte dafür, dass ganze Ministerien zu Hochburgen der Sekte oder Gruppe des Ministers wurden, und sektiererische Politik schnell zum Kennzeichen des neuen irakischen Staates wurde." Das Ergebnis war, dass Minderheiten ausgeschlossen und bald unterdrückt wurden.

Die Dezimierung des medizinischen Fachpersonals im Irak

Die mörderische Gewalt im Irak und die Flucht von Millionen Menschen hat die Reihen des Fachpersonals, das für die Aufrechterhaltung einer Gesellschaft unverzichtbar ist, stark dezimiert.

Die britische Nicht-Regierungsorganisation Medact zitiert offizielle Zahlen der Irakischen Medizinischen Vereinigung vom März letzten Jahres, denen zufolge 18.000 der 34.000 irakischen Ärzte das Land verlassen haben. Weitere 2.000 wurden ermordet, und mindestens 250 gelten als entführt.

Das New York Times Magazine berichtet in seiner Ausgabe vom 13. Mai über den Exodus der Flüchtlinge aus dem Irak; darin befragte Nir Rosen eine Allgemeinmedizinerin, die mit ihren fünf Kindern nach Damaskus geflohen war.

Sie verließ das Land, nachdem ihr Mann, ein Thoraxchirurg und Medizinprofessor, von bewaffneten Männern aus seinem Wagen gezerrt, entführt und später ermordet aufgefunden worden war. Sie erzählte Rosen, die irakische Polizei habe auf ihre Fragen erklärt: "Er ist Arzt, er hat einen Doktortitel und ist Sunnit, also hätte er nicht im Irak bleiben dürfen. Darum wurde er getötet." Sowohl die Polizei als auch das Gesundheitsministerium werden von Fraktionen der schiitischen Islamisten kontrolliert. Sie selbst wurde später schriftlich aufgefordert, aus ihrem Wohnviertel wegzuziehen.

Der Mangel an ausgebildetem medizinischem Fachpersonal, das Fehlen der wichtigsten Grundversorgung und die gewaltige Zahl an Verwundeten haben dazu geführt, dass das Gesundheitssystem des Irak in Trümmern liegt.

Das British Medical Journal brachte vergangenen Oktober einen Artikel, in dem drei Ärzte vom Diwaniyah College für Medizin im Irak zum Schluss kommen, dass fast die Hälfte der Hunderttausenden, die seit der amerikanischen Invasion 2003 umgekommen sind, hätte überleben können, wenn sie angemessene medizinische Hilfe erhalten hätten.

"Die Realität sieht so aus, dass wir viele der Opfer nicht angemessen versorgen können", schreiben sie. "In den Notfallaufnahmen arbeiten Ärzte, die keine entsprechende Erfahrung oder Ausbildung zur Behandlung von Notfällen haben. Die Pflegekräfte... geben offen zu, dass man mehr als die Hälfte der Opfer hätte retten können, hätte man bloß ausgebildetes und erfahrenes Personal gehabt."

Weiter heißt es in dem Artikel: "Unsere Erfahrung lehrt uns, dass sich mangelhafte medizinische Notfallversorgung verheerender auswirkt als die Katastrophe selbst. Aber trotz der täglichen Gewalt, die den Irak zerstört, schaut die internationale Ärzteschaft fast nur zu."

Das trifft nicht nur auf die internationale Ärzteschaft zu. Der entsetzliche Zustand des irakischen Gesundheitssystems kommt einem amerikanischen Kriegsverbrechen gleich. Wie die Vierte Genfer Konvention verlangt, muss eine Besatzermacht sicherstellen, dass "die ärztliche Versorgung, einschließlich der Krankenhäuser und öffentlichen Krankenstationen effektiv arbeiten, unter besonderer Berücksichtigung von Maßnahmen zur Vorbeugung vor ansteckenden Krankheiten und Epidemien. Ebenso sind Personen besonders geschützt, die ausschließlich oder regelmäßig in Krankenhäusern als medizinisches und administratives Personal tätig sind."

Auch muss nach den Genfer Konventionen eine Besatzermacht die Neutralität der Krankenhäuser garantieren, sie vor Angriffen schützen und sicherstellen, dass jedermann Zugang zu medizinischer Versorgung erhält. Dennoch hat die amerikanische Besatzungstruppe wiederholt Krankenhäuser angegriffen. Mehr noch: Man hat den Milizen freie Hand gelassen, in den Krankenhäusern nach Belieben zu walten, obwohl es oft genug vorkam, dass sie Patienten, die einer anderen Glaubensrichtung angehörten, verschleppt und ermordet haben.

Das Töten und Entführen von Ärzten, und ihre massenhafte Flucht aus dem Land, sind ein Phänomen, das praktisch auf jeden Beruf im Irak zutrifft. Der Irak-Index, eine Studie der Brookings Institution in Washington, kommt zum Schluss, dass vierzig Prozent der "Fachkräfte", darunter Ärzte, Professoren, Apotheker und andere Akademiker, das Land seit 2003 verlassen haben.

Die Zerstörung der Hochschulbildung

Schätzungen über die Zahl der seit 2003 getöteten Professoren bewegen sich zwischen 250 und 1000. Islamistische Milizen nahmen sich die Lehrenden zum Ziel, da sie in ihnen Vertreter des Säkularismus und der nationalen Identität erblickten, die sich über religiöse und ethnische Spaltung hinwegsetzen.

Angriffe auf Universitäten haben auch Studenten aus diesen vertrieben. Während der ersten beiden Monate dieses Jahres kam es zu zwei Bombenattentaten auf die Universität Al Mustasiriya, bei denen 111 Menschen ums Leben kamen.

Das gesamte Bildungssystem - einst eines der besten in der Region- ist im vollen Kollaps. Klassen werden unterrichtet von hierzu nicht ausgebildeten Hochschulabgängern oder Studenten.

"Die Gewalt und der Mangel an Mitteln haben das Bildungssystem des Iraks unterminiert", so Professor Fua’ad Abdel-Razak von der Universität Bagdad zur Nachrichtenagentur IRIN. "In diesem Jahr wird kein einziger Student die Hochschule mit zur Ausübung seines oder ihres Berufes ausreichenden Kenntnissen absolvieren. Schüler werden das Jahr mit weniger als 60% der Kenntnisse beenden, die wir ihnen hätten beibringen sollen."

Er fügte hinzu, dass besonders Medizinstudenten die Universität verließen, ohne über das Wissen oder die Sicherheit zur Behandlung von Patienten zu verfügen. "Es besteht ein riesiger Unterschied zwischen heute und den Zeiten Saddam Husseins, als medizinische Hochschulabgänger die Universität verließen und die Kenntnisse besaßen, um Patienten aller Art zu behandeln"

Die Zerstörung der Wirtschaft und das Anwachsen von Massenarmut

Die irakische Wirtschaft - die Grundlage der Gesellschaft - ist völlig zum Erliegen gekommen. Die offizielle Arbeitslosenquote wird vom Sozialministerium mit 48% angegeben. Zählt man jedoch die Hunderttausenden ehemaligen Angestellten heute geschlossener Staatsbetriebe hinzu, die weiterhin 40% ihrer ehemaligen Gehälter erhalten, so steigt die Arbeitslosigkeit auf 70%.

Die Inflationsrate erreichte im Jahr 2006 die 50%-Marke und ist damit die zweithöchste der Welt. Gestiegene Preise für elementare Notwendigkeiten, darunter auch Nahrungsmittel, haben den Lebensstandard der großen Mehrheit der Iraker drastisch beeinträchtigt. Allein in den vergangenen zwei Jahren ist der Benzinpreis um das Fünffache gestiegen.

Ein im April veröffentlichter Bericht der UN-Hilfsmission im Irak gab an, dass 54% der Bevölkerung von weniger als einem Dollar am Tag überlebt. 15% leben unter Bedingungen "extremer Armut", d.h. von weniger als 50 Cent pro Tag. Die Zentrale Statistikbehörde des irakischen Regimes knüpfte an diese Ergebnisse an und sagte, 43% der Iraker litten unter "extremer Armut" - das bedeutet, ihnen fehlen lebensnotwendige Nahrung, Kleidung und Schutzräume.

Der Internationale Währungsfond schätzt das Pro-Kopf-Einkommen auf 1687 US-Dollar und damit weniger als die Hälfte der Summe vor 25 Jahren. Selbst die Ölproduktion - das Hauptanliegen der amerikanischen Besetzer - harrt noch immer des Wiedererreichens ihres Standes vor der Invasion, der allerdings schon damals von schwerer Depression gezeichnet war. Sabotage beeinträchtigt hierbei die Produktion, und viel von dem tatsächlich produzierten wird augenscheinlich gestohlen.

Zusätzlich zu bewaffneter Gewalt und Sabotage haben Entscheidungen der US-Militärstellen in dem besetzten Land die wirtschaftliche Krise und mit ihr die Qualen von Millionen Irakern noch verschärft. Angeleitet von den Profitinteressen in den USA ansässiger Firmen und der rechten Ideologie der Bush-Administration hat das Besatzungsregime unter Führung von L. Paul Bremer die völlige Privatisierung oder Schließung von 192 Staatsbetrieben verfügt. In diesen waren zuvor eine halbe Million Iraker beschäftigt gewesen.

Die Washington Post berichtete jüngst, dass sich unter diesen Betrieben - von Bremer sämtlich als hoffnungslos veraltet und ineffizient eingestuft - auch eine "Bus- und Nutzfahrzeugfabrik" befunden hätte, die "mit modernen Fließbandanlagen ausgerüstet war, und die über talentierte Manager und fähige Mitarbeiter verfügte." Sie fügte hinzu: "Mit Ausnahme von 75 wurden alle 10.000 Arbeiter entlassen", nachdem der irakischen Regierung - zuvor einziger Abnehmer - untersagt worden war, dort Fahrzeuge zu kaufen.

Das Ziel war ganz klar, die Volkswirtschaft zu liquidieren, alle nur ausfindig zu machenden profitablen Sektoren an transnationale Konzerne aus den USA zu verkaufen, und vor allem den Weg frei zu räumen für die Übernahme der Kontrolle über die Ölfelder des Landes durch amerikanische Firmen.

Bremer beschloss auch die Abschaffung aller Sonderzölle zum Schutz der irakischen Landwirtschaft - angeblich um importierte Güter billiger zu machen. Das Ergebnis, von dem nur schwer zu glauben ist, dass es nicht beabsichtigt war, war der Bankrott der kleinen Landwirtschaftsbetriebe im Irak, deren Produktion bereits durch andauernde Militärschläge in Mitleidenschaft gezogen war. Heute, da die Besetzung in ihrem fünften Jahr ist, ist der landwirtschaftliche Sektor des Irak buchstäblich kollabiert und das Land völlig abhängig von eingeführten Nahrungsmitteln. Deren Preise liegen weit außerhalb der Reichweite eines großen Teils der Bevölkerung.

Schließlich implementierte der amerikanische Kolonialverwalter noch eine "Flat Tax", eine Niedrigsteuer - den Traum der Republikanischen Rechten in den USA - und gab Dekrete heraus, durch die ausländischen Firmen die Repatriierung aller Profite ermöglicht wird und sie dieselben Rechte im irakischen Wirtschaftsleben erhielten wie örtliche Produzenten.

Schuld an amerikanischen Kriegsverbrechen - die Iraker!

Republikaner wie Demokraten halten es heute für politisch geboten, die Schuld für die Katastrophe im Irak dem irakischen Volk selbst zuzuschieben. Sie behaupten, die US-Truppen seinen in einem sektiererischen Bürgerkrieg gefangen und beklagen, die irakische Regierung hätte entscheidende Maßnahmen unterlassen, um die Gewalt einzudämmen und die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen umzuformen.

All das ist nichts als eigennütziger und heuchlerischer Unfug. Zuallererst fällt die sektiererische Gewalt, die im Irak herrscht, gänzlich in die Verantwortung Washingtons - juristisch, politisch und moralisch gesehen. Die Vereinigten Staaten sind eine Besatzungsmacht und damit nach der Genfer Konvention verpflichtet, für die Sicherheit der Bevölkerung des besetzten Landes zu sorgen. Und doch werden jede Woche Tausende Iraker getötet oder verwundet, Zehntausende aus ihrer Heimat vertrieben.

Genauer betrachtet war überdies der Ausbruch der sektiererischen Gewalt direkt durch die US-Politik angeheizt. Wie andere koloniale Eroberer zuvor, so suchte auch Washington den Irak mittels einer Taktik des "Teilens und Herrschens" zu kontrollieren. Nachdem alle staatlichen Institutionen im Land zerstört waren, wurde das politische Leben entlang der Linien ethnischer und religiöser Spaltungen zu rekonstruieren versucht. Der Teilung in Sunniten und Schiiten wurde damit ein Gewicht verliehen, das ihr nie zuvor im Irak zugekommen war.

Die Posten in dem neu entstandenen irakischen Marionettenregime wurden von den amerikanischen Besatzungsbehörden streng nach sektiererischen Kriterien vergeben. Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten wurden aufgepeitscht, die irakischen Sicherheitskräfte den Milizen religiöser schiitischer Parteien unterstellt.

Die amerikanische Besetzung hat heute den Punkt erreicht, an dem um sunnitisch bewohnte Viertel in Bagdad Mauern errichtet werden. Damit werden Bevölkerungsteile in einer Art und Weise nach ethnischer Zugehörigkeit getrennt, die an brutalste koloniale Kriegsmaßnahmen zur Aufstandsbekämpfung anknüpft, ja die sogar an die Errichtung des Warschauer Ghettos durch die Nazis erinnert.

Vor der US-Invasion hatten Sunniten und Schiiten in Bagdad und anderen Städten Seite an Seite gelebt - ohne Reibereien und ohne dem religiösen Hintergrund ihrer Nachbarn besondere Bedeutung beizumessen. Ein Drittel der Ehen im Irak wurden zwischen Partnern unterschiedlichen Bekenntnisses geschlossen. Heute ist eben diese ethnisch-religiöse Identität eine Frage von Leben und Tod für Millionen. Sie zwingt sie, ihre Häuser zu verlassen und setzt sie standrechtlicher Erschießung durch die Milizen aus.

Die Forderung, die irakische Regierung solle bestimmte "Ziele" erreichen, ist nichts als politisches Theater. Es bleibt die Tatsache, dass das von Nouri al-Maliki geleitete Regime in der Grünen Zone eine weitgehend machtlose Marionette ist, während die USA weiterhin in der Praxis die Kontrolle über das Land ausüben.

Diese Realität wurde vergangene Woche durch einen Bericht des hochrangigen britischen Think-Tanks Chatham House unterstrichen, der die irakische Regierung als "weitgehend bedeutungslos für das soziale, wirtschaftliche und politische Leben" beschrieb. In einer augenscheinlich ganz gewaltigen Untertreibung fügten die Autoren hinzu, das Land sei "kurz davor, zu einem gescheiterten Staat zu werden".

Die Vergiftung des Tigris

Zu den Schreckensgeschichten aus dem Irak mit dem vielleicht größten Symbolgehalt gehört die Verwandlung des Flusses Tigris, in der Bibel als ein Nebenfluss des Stromes aus dem Garten Eden beschrieben, und seit uralten Zeiten die Lebensader der Zivilisation in der Region. Heute ist er ein stagnierendes und stinkendes Gewässer, hoffnungslos verschmutzt von ungeklärten Abwässern, Chemikalien und giftigem Kriegsmüll, den der Krieg und die Besatzung hinterlassen haben.

Während der Fluss vor dem Krieg Fischern ihren Lebensunterhalt sicherte, ist er heute praktisch tot. Schiffen ist das Befahren untersagt, und sie werden zum Ziel feindlichen Beschusses. Weite Teile der Ufer sind militärisches Sperrgebiet.

Der Fluss ist eine Abladestelle für Leichen, die täglich aus dem Wasser gezogen werden. Viele von ihnen tragen die Spuren schrecklicher Folter. Die Nachrichtenagentur IRIN zitierte einen Beamten des irakischen Innenministeriums, der angab, seit Januar 2006 seien allein aus einem Abschnitt des Flusses 800 Tote gezogen worden. An jener Stelle waren Eisengitter errichtet worden, um Seerosen und Abfälle abzufangen.

Die Auswirkungen von vier Jahren US-Besatzung auf die Ansichten der irakischen Bevölkerung fand zumindest teilweise Ausdruck in einer kürzlich von amerikanischen, britischen und deutschen Agenturen durchgeführten Umfrage. Diese ergab, dass 78% der Iraker die Anwesenheit der US-Truppen ablehnen (im Vergleich zu 65% im Jahr 2005). Die Mehrheit von 51% unterstützt bewaffnete Angriffe auf US-Streitkräfte (verglichen mit 17% im Jahr 2004).

Eine solche dramatische Wendung in der öffentlichen Meinung ist nur vor dem Hintergrund des Ausmaßes der Verbrechen erklärbar, die dem irakischen Volk angetan wurden. Dieses wurde in ein Blutbad getaucht und musste mit ansehen, wie seine Gesellschaft in einen Trümmerhaufen verwandelt wurde.

Dies sind Verbrechen von welthistorischem Ausmaß, doch die Verantwortlichen für den Tod Hunderttausender Iraker und Tausender amerikanischer Soldaten - sowie für die systematische Zerstörung einer ganzen Gesellschaft - bleiben ungestraft und sitzen immer noch an den Schalthebeln der Macht in den Vereinigten Staaten.

Der "Präventivkrieg" und der Präzedenzfall Nürnberg

Die Regierung in Washington - sowohl das Weiße Haus unter den Republikanern, als auch der Demokratisch geführte Kongress - unterstützen weiterhin die Doktrin des Präventivkrieges, d.h. der unprovozierten Aggression, als eines Hauptinstrumentes amerikanischer Außenpolitik. Sowohl der Präsident, als auch führende Politiker der angeblichen Oppositionspartei der Demokraten drohen regelmäßig damit, diese Politik in noch schrecklicherer Form in einem Krieg gegen den Iran abermals anzuwenden.

Eine sorgfältige strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung der Verantwortlichen für den Irakkrieg ist eine dringende politische Aufgabe, vor der das amerikanische Volk steht. Dies ist eine unverzichtbare Maßnahme, sowohl um neue und noch blutrünstigere Angriffskriege zu verhindern, als auch um die nie da gewesenen Angriffe auf demokratische Rechte in den Vereinigten Staaten selbst rückgängig zu machen.

Die wenigen, vereinzelten Verfahren, die geführt wurden gegen jüngere Armeeangehörige mit persönlicher Verantwortung für Schrecken wie die Gruppenvergewaltigung eines 14jährigen Mädchens und die Niedermetzelung ihrer gesamten Familie in Mahmudiya, oder gegen Verantwortliche des von Marinesoldaten verübten Massakers von Haditha, unterstreichen nur die Tatsache, dass diejenigen sich weiter der Straflosigkeit erfreuen dürfen, die die letzte Verantwortung nicht nur für solche individuelle Grausamkeiten tragen, sondern für die Vergewaltigung eines ganzen Landes.

Die vorsätzliche Zerstörung einer gesamten Gesellschaft, durchgeführt auf der Grundlage von Lügen und mit dem Ziel der Verfolgung finanzieller und geostrategischer Interessen der herrschenden Elite Amerikas, kommt einem Kriegsverbrechen von historischem Ausmaß gleich. Sie ist damit nach denselben rechtlichen Prinzipien zu bestrafen, die auch bei der Verurteilung führender Repräsentanten des Dritten Reiches in den Nürnberger Prozessen zur Anwendung kamen.

Die Verantwortlichen für die Führung des Krieges im Irak beschränken sich nicht allein auf die rechte Verschwörerbande von Republikanern um Bush, Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz. Zu ihnen gehören auch die Demokraten, die diesen Krieg erst möglich gemacht haben, ebenso die Energiekonzerne und Finanzunternehmen in den USA, die von diesem Krieg zu profitieren hofften, und auch die Köpfe der Medienmonopole, die ihn beworben haben. Diese Gesellschaftsschichten, die das politische Establishment und die Finanzaristokratie der Vereinigten Staaten darstellen, sind desselben Verbrechens schuldig, dessen vor 60 Jahren die Nazis schuldig gesprochen wurden: Der Planung und Durchführung eines Angriffskrieges. Aus eben diesem Verbrechen ist die Unzahl weiterer Verbrechen und Schrecken gegen das irakische Volk hervorgegangen.

Blieben diese Verbrechen ungestraft und könnten die Verantwortlichen weiter straflos mit ihrem Handeln fortfahren, so hätte dies fatale Folgen für das politische, gesellschaftliche und auch das moralische Leben der Vereinigten Staaten und der ganzen Welt. Umso leichter, umso unvermeidlicher würde damit die nächste Runde von Kriegsverbrechen und Gräueltaten.

Der Kampf gegen den Krieg im Irak muss geführt werden auf der Grundlage der Forderung nach einem sofortigen und bedingungslosen Abzug aller amerikanischen Truppen; nach der Einsetzung eines massiven Programms humanitärer und wirtschaftlicher Hilfsleistungen für das irakische Volk; sowie der Forderung nach Verfolgung aller für diesen Krieg Verantwortlichen durch ein internationales und unabhängiges Tribunal.

Die sechs Monate seit den Parlamentswahlen in den Vereinigten Staaten haben zur Genüge bewiesen, dass keine dieser Forderungen mittels der bestehenden politischen Parteien oder Regierungsinstitutionen erreicht werden kann. Während der Veröffentlichung dieser Artikelserie treffen sich Demokratische Parlamentarier, die im vergangenen November die Führung im Kongress aufgrund eines massiven Votums gegen den Krieg gewannen, hinter verschlossenen Türen mit ihren Republikanischen "Gegnern" und Vertretern des Weißen Hauses. Dabei soll ein Abkommen zustande gebracht werden, das die Bewilligung Dutzender Milliarden von Dollars zur Fortführung des Blutbades im Irak ermöglicht. Hinter ihrem immer durchsichtigeren Posieren als Gegner des Krieges haben die Demokraten längst klar gemacht, dass sie sich den imperialistischen Zielen der Invasion von 2003 weiter verpflichtet fühlen und entschlossen sind, Zehntausende US-Soldaten zur Verwirklichung dieser Ziele im Irak zu belassen.

Den Krieg zu beenden und seine Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen - um weitere, noch katastrophalere Akte der Aggression zu verhindern - kann nur erreicht werden mittels eines direkten politischen Kampfes gegen beide Kriegsparteien: Demokraten und Republikaner. Arbeiter, Studenten und Jugendliche müssen für den Aufbau einer unabhängigen politischen Massenbewegung der Arbeiterklasse kämpfen, aufbauend auf einem sozialistischen Programm, das sich gegen eben die Finanzoligarchie Amerikas richtet, in deren Interesse der Krieg geführt wird.

Siehe auch:
US-Senator John McCain erläutert die Interessen des amerikanischen Imperialismus im Irak (19. April 2007)

Hunderttausende demonstrieren im Irak für das Ende der US-Besatzung (17. April 2007)

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