Bolschewiki an der Macht - Professor Alexander Rabinowitchs bedeutende Studie über das erste Jahr der Sowjetmacht

Alexander Rabinowitch, The Bolsheviks in Power: The First Year of Bolshevik Rule in Petrograd, Indiana University Press 2007, 494 Seiten.

Zum 90. Jahrestag der Oktoberrevolution erschien The Bolsheviks in Power von Alexander Rabinowitch, einem emeritierten Professor der Universität von Indiana. Es ist ein Werk von großer geschichtswissenschaftlicher Bedeutung, das auf Jahre hinaus Maßstäbe für die Erforschung der sozialen und politischen Folgen setzt, die sich aus dem Sturz der bürgerlichen Provisorischen Regierung und der Errichtung des bolschewistischen Regimes ergaben.

Im Gegensatz zu so vielen anderen, die sich mit der Geschichte der Sowjetunion befassen und sich an das von intellektueller Unredlichkeit und Zynismus geprägte vorherrschende Klima anpassen, hat sich Professor Rabinowitch seine Integrität als Wissenschaftler bewahrt. Er legt einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des ersten Jahres vor, in dem die Bolschewiki in Petrograd, der Wiege der Revolution, die Macht in Händen hielten. Das heißt nicht, dass sein Buch keine ernsten Mängel aufweist. Es fällt auf, dass ein theoretisch begründetes Verständnis der Ereignisse fehlt, das Professor Rabinowitch befähigt hätte, die gewaltige Menge an faktischen Details, die er ausbreitet, zu einem geschlossenen Ganzen zu verarbeiten. Damit ist nicht gemeint, dass Tatsachenschilderungen in ein vorgefasstes ideologisches Schema gepresst werden sollten. Vielmehr geht es darum, den historischen Zusammenhang aufzudecken und zu klären, der den Rahmen für politische Entscheidungen und Handlungen bildete. Wo dieser Zusammenhang ungenügend herausgearbeitet ist, kommt es bisweilen zu einer einseitigen Einschätzung der besprochenen Ereignisse. Obwohl Professor Rabinowitch seinen wissenschaftlichen Zielen treu bleibt, verfängt er sich zuweilen doch in den Fallstricken einer übertrieben empirischen Herangehensweise.

Doch wollen wir die unzweifelhaften Stärken des Buches anerkennen. Rabinowitch hat in der Vorbereitung dieses Bandes über zwanzig Jahre lang gewaltige Forschungsarbeit geleistet. Im Vorwort erklärt er, wie er schon kurz nach Erscheinen seiner beiden früheren Werke Prelude to Revolution: The Petrograd Bolsheviks and the July 1917 Rising (1968) sowie The Bolsheviks Come to Power: The Revolution of 1917 in Petrograd (1976) die Kapitel des vorliegenden Buches geplant hat. Rabinowitch war unzufrieden, weil besonders für das Jahr 1918 viel zu wenig Archivmaterial zugänglich war, und er hatte nie damit gerechnet, Zugang zu den damals noch geschlossenen Archiven in der Sowjetunion zu erhalten. Er war sehr überrascht, als 1989 eine russische Ausgabe von The Bolsheviks Come to Power in Moskau erschien. Plötzlich gingen Türen auf. 1991 erhielt er die Erlaubnis, in den Archiven der Regierung und Kommunistischen Partei in Moskau und danach in Leningrad zu arbeiten. 1993 erhielt er sogar Zugang zu den ehemaligen KGB-Archiven.

Das Material, das er dabei zum ersten Mal sichten konnte, füllt eine lange Liste: Versammlungsprotokolle des Komitees der Petrograder Bolschewiki aus dem Jahr 1918 und von weiteren Parteiversammlungen in der Stadt; Protokolle von Bezirkskomitees der bolschewistischen Partei; Versammlungsprotokolle des Rats der Volkskommissare (Sownarkom), stenographische Aufzeichnungen von wichtigen Sitzungen des Petrograder Sowjets und seiner Führungsgremien; Versammlungsprotokolle von Petrograder Bezirkssowjets; interne Memoranden; Korrespondenz; persönliche Aufzeichnungen wichtiger Führer der Bolschewiki; Fallakten aus der Allrussischen Außerordentlichen Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage (WTscheka); usw. Zu diesem Archivmaterial kommt noch eine umfangreiche Liste weiterer Druckmaterialien hinzu: 51 Zeitungen (darunter einige außerordentlich seltene Exemplare), 31 Zeitschriften und Periodika und 14 Seiten bibliographischer Hinweise auf publizierte Dokumente, Tagebücher und Memoiren, Sekundärliteratur, Nachschlagewerke und viele andere Bücher. Was also sind die Ergebnisse dieses erstaunlichen Forschungsprojekts?

Schon in seinen ersten zwei Werken hatte Rabinowitch zur Verärgerung vieler etablierter Historiker nachgewiesen, dass die Oktoberrevolution kein Militärputsch war, den Lenin mit einer kleinen Bande von Fanatikern durchgeführt hatte. Rabinowitch hatte im Gegenteil festgestellt: "Im Jahr 1917 verwandelte sich die bolschewistische Partei in Petrograd in eine politische Massenpartei. Sie war alles andere als eine monolithische Bewegung, die im Gleichschritt hinter Lenin her marschierte, sondern ihre Führung bestand aus einem linken, einem zentristischen und einem gemäßigt rechten Flügel, von denen jeder Anteil an der Entwicklung der revolutionären Strategie und Taktik hatte" (S. ix). Er hob die "organisatorische Flexibilität, die Offenheit" der Bolschewiki hervor sowie ihre "Aufgeschlossenheit für die Anliegen der Bevölkerung", wie auch ihre "ausgedehnten, sorgfältig gepflegten Verbindungen zu Fabrikarbeitern, Soldaten der Petrograder Garnison und Matrosen der baltischen Flotte" (S. x). Unmissverständlich machte er aufmerksam auf "die magnetische Anziehungskraft der Versprechen der Bolschewiki auf sofortigen Frieden, Brot, Land für die Bauern und Basisdemokratie, welche durch Vielparteien-Sowjets ausgeübt werden sollte" (ebenda.).

Rabinowitch spürte jedoch, dass ungeachtet der Verdienste seiner früheren Analyse eine Frage nach wie vor unbeantwortet blieb: Wie konnte es sein, dass sich eine so demokratische und dezentralisierte Partei mit entsprechender Politik in einer relativ kurzen Zeitspanne in eine aus Sicht des Historikers autoritäre und zentralisierte Organisation verwandelte? Und was war das Besondere an dem politischen Prozess, der relativ rasch zum Zusammenbruch der Sowjetdemokratie führte, für die die Bolschewiki eingetreten waren?

Die vier Teile des Buchs versuchen, auf diese Fragen Antwort zu geben. Jeder der vier Teile ist etwa hundert Seiten lang und straff in drei oder vier Kapitel gegliedert. Im Mittelpunkt steht dabei Petrograd, der Zeitrahmen beträgt ein Jahr, und die Analyse rückt, zuweilen mit verwirrender Detailfülle, Parteien, Organisationen und Personen in den Mittelpunkt, die vielleicht wenig bekannt sind oder bisher vernachlässigt wurden.

Der Detailreichtum wirft jene zentrale Frage der Interpretation auf, von der bereits die Rede war. Wenn Rabinowitch zum Beispiel über die Veränderung der strukturellen Beziehungen zwischen der großen Zahl von Partei- und Sowjetorganisationen schreibt, verliert man sich leicht in der schieren Menge an Einzelheiten. In solchen Momenten spürt man, dass es trotz des reichhaltigen Faktenmaterials - oder vielleicht gerade seinetwegen - schwer ist, den theoretischen Rahmen präzise zu bestimmen, der der Darstellung des Autors zugrunde liegt. Insgesamt betrachtet, versucht Rabinowitch, eine ehrliche und konsequente Objektivität zu bewahren, aber sein Thema, das erste Jahr der bolschewistischen Macht in Petrograd, kann durch eine überwiegend empirische Herangehensweise nicht erschöpfend erklärt werden. Vor über einem halben Jahrhundert erinnerte Carr daran, dass der Historiker Fakten als historisch bedeutsam "benennt". Dieser Prozess des "Benennens" beinhaltet einen gewissen begrifflichen Rahmen. So stellt sich beispielsweise die Frage, welche Perspektive ihn bei der Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, des Notwendigen vom Zufälligen anleitet.

Der marxistische Leser kann aus dem von Rabinowitch präsentierten Material viel lernen, selbst wenn er an einigen wichtigen Stellen dessen politische Bedeutung anders einschätzt. Man darf nicht vergessen, dass in den Jahren, als dieses Buch geschrieben wurde, zwei lähmende Tendenzen in Darstellungen der Geschichte der Sowjetunion noch überwogen: Erstens die Jahrzehnte alte Schule der stalinistischen Fälschung, die nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion nach wie vor dominierte; und zweitens die "Für-Demokratie"-Richtung, eine Tendenz, die die Oktoberrevolution ablehnte und die Sowjetunion als ein gescheitertes Menschheitsexperiment ansah. Diese Tendenz machte aus Personen wie Lenin und Trotzki Erzschurken, die die "normale Entwicklung" Russlands zu einer westlichen Demokratie aufhielten. Rabinowitch weist beide Tendenzen eindeutig zurück, doch musste er bei seinen Archivforschungen ohne Zweifel beiden Rechnung tragen. Die bloße Tatsache, dass Rabinowitch eine große Menge von Archivmaterial zutage gefördert hat - sogar die Namen von wichtigen Akteuren, von denen viele aus der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung getilgt worden waren, werden so wieder bekannt -, stellt bereits einen wichtigen Beitrag dar. Doch wenden wir uns nun dem Inhalt seines Buchs zu.

Im ersten Teil geht es um den Sturz der provisorischen Regierung durch die Bolschewiki am Vorabend des zweiten allrussischen Sowjetkongresses und den anschließenden Kampf, eine neue sozialistische Regierung zu bilden. Wenn Rabinowitch über die "Niederlage der Gemäßigten" spricht, meint er nicht einfach moderatere Kräfte außerhalb der bolschewistischen Partei. Er beschäftigt sich auch ausführlich mit der Opposition gegen die Politik von Lenin und Trotzki in den Reihen der bolschewistischen Partei selbst.

Rabinowitch hebt immer wieder hervor, dass Lenin und Trotzki in den Jahren 1917 und 1918 durchgehend als Führer des linken Parteiflügels eng zusammenarbeiteten, "für den die Errichtung der revolutionären Sowjetmacht in Russland weniger das Ziel als vielmehr der Startschuss für die unmittelbar bevorstehende sozialistische Weltrevolution war (S. 2). Er geht nur kurz auf die Parteimitte (Bersin, Bubnow, Uritski, Swerdlow) ein und widmet sich dann über viele Seiten hinweg dem Handeln der "gemäßigten" Parteiführer, unter ihnen Kamenew, Sinowjew, Miljutin, Rykow, Bogin und Lunatscharski. Ihnen schlossen sich im Juli 1917 wiederum wichtige linke Menschewiki an, darunter Larin, Losowski und Rjasanow.

Man spürt, dass der Historiker Sympathie für die Gemäßigten hegt. Aus dem Material, das Professor Rabinowitch präsentiert, lässt sich allerdings schwerlich ableiten, wie die Bemühungen der Gemäßigten um einen politischen Kompromiss mit den Menschewiki hätten Erfolg haben können, ohne den Sturz der Provisorischen Regierung rückgängig zu machen. Der Historiker erwähnt, dass das Zentralkomitee der Menschewiki nur zwei Tage nach Entmachtung der Provisorischen Regierung eine "unversöhnliche Resolution" annahm, die "jede Art von Verhandlungen mit den Bolschewiki untersagte, solange deren ‚Abenteuer’ nicht vollständig beendet worden ist" (S. 27). Die Resolution der Menschewiki, die von der Überzeugung ausging, dass die Bolschewiki isoliert werden könnten, enthielt weiter die Forderung, dass das bolschewistische Revolutionäre Militärkomitee (dessen Vorsitzender Trotzki war) "sich sofort ergeben muss - wofür seine Führer im Gegenzug die Garantie ihrer persönlichen Sicherheit erhalten würden, bis die Konstituierende Versammlung eine Entscheidung treffen konnte, ob sie vor Gericht gestellt würden" (S.28).

Es war allgemein anerkannt, dass die Forderungen der Menschewiki, wären sie erfüllt worden, direkt zu einem konterrevolutionären Blutbad geführt hätten. Rabinowitch zitiert die Erklärung von A. A. Blum, einem Mitglied der eher linken Menschewiki-Internationalisten, worin er Delegierte des Allrussischen Komitees zur Rettung von Heimat und Revolution warnte: "Habt ihr überhaupt einen Gedanken daran verschwendet, was eine Niederlage der Bolschewiki bedeuten würde?... Die Aktion der Bolschewiki ist die Aktion der Arbeiter und Soldaten. Zusammen mit der Partei des Proletariats werden die Arbeiter und Soldaten zermalmt werden" (S.29).

Erstaunlich ist, dass in den turbulenten Debatten über die Bildung einer neuen Regierung die von Menschewiki, Sozialrevolutionären, Wikschel-Delegierten (die Eisenbahnergewerkschaft) und anderen erhobene Forderung, Lenin und Trotzki nicht zu berücksichtigen, von einigen "gemäßigten Bolschewiki" ernsthaft in Betracht gezogen wurde. In der Führung der Bolschewiki sah sich Lenin gezwungen, einen verzweifelten Kampf gegen die Gemäßigten zu führen. Rabinowitch merkt an, dass am 1. November 1917, in einer wichtigen Phase dieses Kampfes, der einzige bolschewistische Führer, für den Lenin lobende Worte fand, Leo Trotzki war. Während der gesamten, heftigen Kämpfe innerhalb der Parteiführung in der Zeit nach der Oktoberrevolution stand Lenin "Schulter an Schulter mit Trotzki vereint" gegen die Kompromissler (S.35).

Wäre ein Mehrparteiensystem eingeführt worden, unter Ausschluss (und wahrscheinlich Verhaftung, wenn nicht Exekution) von Lenin und Trotzki, hätte die Gefahr der Konterrevolution konkret bestanden. Liest man die Schilderung dieser Kämpfe, kann man über die Sturheit der Gegner der Bolschewiki nur staunen. Sie richteten viele Hindernisse auf, die nur durch immer rigorosere Gegenmaßnahmen zu überwinden waren. Doch schließlich wurde ein ausschließlich aus Bolschewiki bestehender Sownarkom (Rat der Volkskommissare) geschaffen. Die Beziehung dieses Gremiums zum Zentralen Exekutivkomitee blieb wechselhaft und konfliktträchtig.

Der Übergang "von Rebellen zu Regierenden" war alles andere als einfach. Lebensmittelversorgung, Treibstoff, Transportwesen, Löhne, Wohnungen, Gesundheitswesen und noch vieles mehr mussten organisiert werden, oft von Kadern, die darin keine Erfahrung hatten. Immer mehr Parteipersonal wurde für die Arbeit in den Sowjets oder beim Militär abgestellt, und viele wurden zur Unterstützung der Revolution in andere Teile des Landes geschickt.

Rabinowitch geht ausführlich auf die Wahlen zur Konstituierenden Versammlung ein, auf den Versuch ihrer Bildung und ihr rasches Ende in der Folgezeit. Dabei erwies sich die Allianz zwischen Bolschewiki und linken Sozialrevolutionären (deren Basis hauptsächlich in der Bauernschaft lag) als äußerst konfliktgeladen: Es kam zu Meinungsverschiedenheiten über die Tscheka (die wichtigste Sicherheitsinstitution), über die Reaktion auf große und potentiell gewaltsame Demonstrationen zugunsten der Konstituierenden Versammlung und schließlich über die Auflösung der Versammlung selbst am 6. Januar 1918. Auch hier stieß Lenins Politik selbst innerhalb der Bolschewistischen Partei wieder auf starke Opposition, wobei Rjasanow eine wichtige Rolle spielte.

Rabinowitch bewertet die Auseinandersetzungen über die Konstituierende Versammlung allerdings vollkommen anders als die meisten gängigen anti-bolschewistischen Darstellungen. Erstens kommt er zum Schluss: "Die Ergebnisse der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung kamen einer starken Bestätigung für die revolutionäre bolschewistische Politik und die Sowjetmacht durch die unteren Klassen der Region Petrograd gleich." Er zitiert die Schlussfolgerung eines Korrespondenten der anti-bolschewistischen Zeitung Novaja Schisn : "Wie wir auch darüber denken mögen, eines müssen wir zugeben: Sogar in der Frage der Konstituierenden Versammlung sehen die Arbeiter von Petrograd in den Bolschewiki ihre Führer und Fürsprecher ihrer Klasseninteressen" (S.69). Rabinowitch sieht eine Verbindung zwischen dem Ergebnis dieser Wahl und dem Scheitern der Bemühungen der Eisenbahnergewerkschaft, einen raschen Zusammenbruch der revolutionären sozialistischen Regierung herbeizuführen.

In seiner ausführlichen Darstellung der Ereignisse bis zur formalen Eröffnung der Konstituierenden Versammlung zeigt Rabinowitsch gekonnt die Klassengegensätze auf, die im Zusammenstoß der politischen Tendenzen zum Ausdruck kamen. Arbeiter in Petrograd schienen den Behauptungen der Bolschewiki zu glauben, dass rechte Kräfte, an ihrer Spitze die bürgerliche Kadettenpartei, die Konstituierende Versammlung als Waffe gegen die Revolution einsetzen wollten. Die faktische Auflösung der Versammlung stieß auf keinen nennenswerten Widerstand. Rabinowitch bemerkt abschließend:

"Gewiss trug zu diesem Ergebnis die starke Unterstützung der Bevölkerung für die Bolschewiki in der Region Petrograd bei, die sich schon in den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung Mitte November gezeigt hatte, sowie die Ablehnung der Führung der Sozialrevolutionäre, Anstrengungen zur Gewährleistung militärischer Sicherheit zu unternehmen, verbunden mit der Bereitschaft der Bolschewiki und linken Sozialrevolutionäre, die Sowjetmacht auch mit Gewalt zu verteidigen. Am wichtigsten war jedoch Swiatitskis Einschätzung, dass die russische Bevölkerung dem Schicksal der Konstituierenden Versammlung völlig gleichgültig gegenüberstand, was Lenin ermöglichte, sie ohne größere Umstände aufzulösen" (S. 127).

Teil Zwei konzentriert sich auf die schwierigen Verhandlungen mit Deutschland in Brest-Litowsk, die Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg "ohne Annexionen und Entschädigungsleistungen" beenden sollten. Anschaulich beschreibt Rabinowitch, wie Lenin Mitte Dezember zu dem Schluss gelangte, dass ein revolutionärer Krieg gegen Deutschland unmöglich sei und dass Russland einen sehr schmerzhaften Frieden mit Annexionen werde akzeptieren müssen, um eine vollständige Katastrophe zu vermeiden. Rabinowitch tritt hier den Auffassungen zweier anderer Historiker, Wolgokonow und Pipes, unmissverständlich entgegen: "Historiker sind uneins über die Entwicklung von Lenins Vorstellungen in der Friedensfrage. Einige haben vorgebracht,... dass die Oktoberrevolution und möglicherweise sogar der Ausverkauf in Brest-Litowsk Bestandteile eines gemeinsamen Planes von Bolschewiki und Deutschen war, Russland zu destabilisieren und die Feindseligkeiten an der Ostfront beizulegen...Die Quellen, die mir vorliegen, führen mich zu dem Schluss, dass Lenin die Macht in der Überzeugung ergriff, dass ein sofortiger Friede nötig sei, damit das revolutionäre Russland überleben könne. Doch beunruhigte ihn diese Sorge nicht so sehr, weil er unbedingtes Vertrauen darin hatte, dass entscheidende sozialistische Revolutionen im Ausland unmittelbar bevorstünden." Als Lenin zu der Ansicht gelangte, dass die erwarteten Revolutionen erst mit einiger Verzögerung stattfinden würden, entschied er, "dass es keine Alternative zur Annahme der deutschen Friedensbedingungen gab, wie immer diese aussehen sollten. Der Boden war bereitet für die tiefste innerparteiliche Krise während Lenins Zeit als Staatsoberhaupt" (S. 141).

Die Krise innerhalb der bolschewistischen Partei war in der Tat scharf. Zu verschiedenen Zeitpunkten führten Bucharin, Radek, Wolodarski und Rjasanow die Fraktion der "Linken Kommunisten" an, die der Ansicht waren, ein revolutionärer Krieg gegen den Imperialismus müsse um jeden Preis geführt werden, auch wenn die Revolution in Russland dafür geopfert werden müsse. Die linken Sozialrevolutionäre meinten ebenfalls, man würde einen kolossalen Verrat an der Revolution begehen, wenn man den räuberischen territorialen Forderungen Deutschlands nachgäbe. Die Auseinandersetzungen innerhalb der bolschewistischen Partei und mit anderen Parteien waren heftig und erbittert. Trotzki hatte inzwischen Zweifel daran, dass Deutschland zu einer neuen militärischen Offensive fähig sei, weil es im Innern mit Unruhen beschäftigt war; er hoffte, dass die Bolschewiki eine Position "kein Krieg, kein Friede" beziehen, die Verhandlungen verlassen und auf Zeitgewinn setzen könnten. Das Zentralkomitee der bolschewistischen Partei stimmte am 11. Januar dieser Taktik zu, und am nächsten Tag willigten auch die Sozialrevolutionäre ein. Selbst Martow, obwohl er ein erbitterter Gegner der Bolschewiki war, machte kein Hehl aus seiner Bewunderung für den revolutionären Elan, mit dem Trotzki die anti-imperialistische Sache bei den Verhandlungen in Brest-Litowsk vertreten hatte. Nachdem er Trotzkis Rede auf dem Allrussischen Kongress der Sowjets gehört hatte, "lobte (Martow) die ‚erstaunlichen Maßnahmen’ in Richtung allgemeiner Frieden, die die 'Förderer der weltweiten Revolution' ergriffen hatte" (S. 146). Am 28. Januar erklärte Trotzki den verblüfften Deutschen, der Krieg sei zu Ende und Russland würde einseitig demobilisieren. Am 16. Februar teilte Deutschland mit, dass der zwischenzeitliche Waffenstillstand aufgehoben sei und Deutschland am 18. Februar die Kampfhandlungen wieder aufnehmen werde. Deutschland unternahm bald einen Vorstoß, der Petrograd bedrohte.

In den folgenden Tagen kam es innerhalb der bolschewistischen Partei zu heftigen Debatten, in deren Verlauf Lenin sogar mit Rücktritt drohte, falls die deutschen Bedingungen nicht unverzüglich angenommen würden. In einer berühmt gewordenen Abstimmung vom 23. Februar waren sieben dafür, die deutschen Bedingungen zu akzeptieren (Lenin, Stasowa, Sinowjew, Swerdlow, Stalin, Sokolnikow und Smilga), vier dagegen (Bubnow, Uritski, Bucharin und Lomow) und vier enthielten sich (Trotzki, Krestinski, Dscherschinski und Joffe) (S.174). Wochen später, als der folgenschwere Brester Vertrag vom vierten Allrussischen Sowjetkongress in Moskau ratifiziert wurde, traten die linken Sozialrevolutionäre und die Linken Kommunisten aus dem Sownarkom (Rat der Volkskommissare) aus. In der Zwischenzeit war die nationale Regierung von Petrograd nach Moskau übergesiedelt, weil Petrograd offensichtlich durch deutsche Streitkräfte leicht zu gefährden war. Jedenfalls konnte man nicht garantieren, dass Deutschland nicht noch einmal versuchen werde, die Revolution zu erdrosseln.

Die Bolschewiki waren damals mit übermächtigen Problemen konfrontiert. Der dritte Teil schildert "Die Sowjetmacht am Rande des Abgrunds". Hier führt Rabinowitch Zahlenmaterial an über den Bevölkerungsschwund, Arbeitslosigkeit, Hunger, eine Choleraepidemie, den Rückgang der Parteimitgliedschaft, Unruhen in den Fabriken und der Flotte, den sich zuspitzenden Bürgerkrieg, die Ermordung von Wolodarski (20. Juni) und Uritski (30. August) in Petrograd und den Mordversuch an Lenin (30. August) in Moskau.

So waren von Januar bis April 1918 fast 134.000 Arbeiter oder 46 Prozent der Industriearbeiterschaft von Petrograd arbeitslos. Als die Nahrungsmittelknappheit akut wurde, verließen viele dieser Arbeitslosen Petrograd fluchtartig und zogen aufs Land, was zu einem Bevölkerungsrückgang der Stadt von 2,3 Millionen (Anfang 1917) auf knapp unter 1,5 Millionen im Juni 1918 beitrug. Während der Choleraepidemie im Sommer gingen noch einmal Tausende aus der Stadt weg aufs Land. Die bolschewistische Partei lief nachgerade Gefahr, ihre lebenswichtigen Verbindungen zum Proletariat einzubüßen: In Petrograd nahm die Parteimitgliedschaft schnell ab, von 30.000 im Februar auf 13.472 im Juni, und betrug im September nur noch etwa 6.000 Mitglieder. Die aktive Unterstützung der Fabrikarbeiterinnen schmolz dahin: Im September gab es in Petrograd nur noch 700 weibliche Parteimitglieder, unter ihnen nur fünfzig Fabrikarbeiterinnen, obwohl 44.629 der insgesamt 113.346 beschäftigten Arbeiter Frauen waren.

Rabinowitch beschreibt sehr lebendig, wie die bolschewistische Partei und die linken Sozialrevolutionäre auf diese Krisen reagierten. In diesen Kapiteln weicht er jedoch von der bewundernswert objektiven Betrachtungsweise ab, die ansonsten das ganze Buch kennzeichnet. Besonders kritisch äußert sich Rabinowitch zu Lenins Politik der bewaffneten Abordnungen für die Lebensmittelrequirierung. Diese Kommandos wurden aus der Stadt zu den Bauern geschickt, um Kornüberschüsse zu beschlagnahmen. Lenin hatte vorgeschlagen, den Bauern zu erlauben, ausreichenden Eigenbedarf und genug Korn für die Aussaat zu behalten, aber alles, was darüber hinausging, sollte konfisziert werden - wenn nötig mit Waffengewalt. "Komitees der Dorfarmut" (Kombedy) wurden gebildet, um die gehorteten Kornvorräte der reicheren Bauern aufzuspüren, insbesondere bei jenen (Kulaken), die Landarbeiter beschäftigten. Lenin legte seine Politik offen und ehrlich dar, wie zum Beispiel in einem Brief vom 22. Mai "An die Arbeiter in Piter [Petrograd]". Doch Rabinowitch schreibt: "Um Arbeiter aufzuhetzen, damit sie sich an einem Kreuzzug auf dem Land beteiligten, war Lenins zweiter Brief unverfrorener und eher noch stärker Angst schürend und skrupelloser formuliert als der erste. Der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen beiden Briefen bestand darin, dass dieser einen bösartigen Angriff auf die linken Sozialrevolutionäre enthielt, denn er behauptete, sie seien jetzt die Partei der Willensschwachen, seien bereit, die Kulaken zu verteidigen, würden die absolut notwendige zwangsweise Kornrequirierungspolitik untergraben und überhaupt die Sowjetmacht in gleichem Maße unterminieren wie die einheimische und internationale Konterrevolution" (S.271).

Man findet Lenins Brief in Band 27, S.385-393 der deutschen Ausgabe seiner Gesammelten Werke. Mag der Leser selbst entscheiden, ob Lenin "Arbeiter aufhetzt" oder ob sein Brief "Angst schürend und skrupellos" ist. War Lenin denn wirklich "bösartig", wenn er angesichts der bedrohlichen Lage in Petrograd, wo schlimme Hungersnot herrschte, die linken Sozialrevolutionäre "bezcharakternyi" (charakterlos, willensschwach oder rückgratlos) nannte, weil sie zögerten, eine Politik durchzuführen, die bei vielen Bauern unpopulär war? Rabinowitch gibt zu, dass Lenin als erster bereit war, "schreckliche Fehler" einzuräumen "... weil unsere Arbeiter unerfahren sind [und] das Problem so schwierig ist, trafen Schläge, die den Kulaken galten, die mittlere Bauernschaft". Sonderbarerweise kommentiert Rabinowitch Lenins Eingeständnis mit folgender Frage: "Und wer anders als Lenin trug mehr Verantwortung für die ‚schrecklichen Fehler’?" (S.286).

Ein noch wichtigeres Fehlurteil unterläuft Professor Rabinowitch, wo er auf die sogenannte "Schchastny-Affäre" eingeht. Im Zusammenhang mit der Krise in der baltischen Flotte im Frühling und Frühsommer 1918 bezieht sich Rabinowitch auf das Schicksal eines damals populären russischen Offiziers, Alexej Schchastny, der den Auftrag hatte, im Fall einer Eroberung durch die deutsche Marine die Versenkung der russischen Flotte vorzubereiten. Im Mai kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Schchastny und Trotzki über mehrere Fragen: Es ging um die Verlegung einer Minenlegerflotte in den Ladoga-See, die Vorbereitung der Flotte auf ihre Versenkung und die Zerstörung eines Forts in Ino (nahe Petrograd), sowie um den Umgang mit Befehlen, die diese Vorgänge betrafen. Am 22. Mai legte Schchastny seinen Posten nieder. Rabinowitch ist eindeutig: "Trotzki lehnte [seinen Rücktritt] ab, zitierte ihn nach Moskau, setzte ihn unter Arrest und organisierte im Alleingang eine Untersuchung und einen Scheinprozess mit Todesurteil auf Basis der absurden Anklage, der Offizier habe versucht, die Kommune von Petrograd zu stürzen, und dabei das längerfristige Ziel verfolgt, die Sowjetrepublik zu bekämpfen" (S.243). In einer Fußnote dazu geht Rabinowitsch noch weiter: "Dabei war Trotzki der einzig zugelassene Zeuge, der an Schchastnys Prozess, möglicherweise dem ersten sowjetischen ‚Schauprozess’, aussagen durfte. 1995 wurde Schchastny posthum von allen Anschuldigungen freigesprochen und offiziell rehabilitiert" (S.435).

Rabinowitch hat bereits früher zwei Artikel über dieses Thema verfasst, einen in Englisch (1999), einen weiteren in Russisch (2001). Man muss ihm zugute halten, dass er das 362-Seiten starke Dossier über die Schchastny-Affäre in den Archiven des russischen staatlichen Sicherheitsdienstes von St. Petersburg gelesen hat, die vor seinem Artikel von 1999 freigegeben worden waren. Ohne Zugang zu diesem Material kann man unmöglich auf alle Vorwürfe Rabinowitchs antworten, doch einige Anmerkungen sind notwendig. Erstens lässt Rabinowitch den Leser nicht wissen, dass Trotzkis Anschuldigungen gegen Schchastny in Band 1 seines Werks How the Revolution Armed (New Park, 1979, S.173-82) enthalten sind. Und er teilt ihm auch nicht mit, was er in seinem damaligen Artikel tat, dass nämlich die Anschuldigungen in Band 17, Teil I, von Trotzkis Werken 1926 abgedruckt wurden. Anders gesagt: Weit davon entfernt, seine Zeugenaussage bei diesem so genannten ‚Scheinprozess’ zu verheimlichen, hat Trotzki sie zu jeder Zeit der breiten Öffentlichkeit vorgelegt. Es ist offensichtlich, dass Trotzki äußerst beunruhigt darüber war, dass Schchastny in der baltischen Flotte das Gerücht verbreitete, die Bolschewiki würden einen schmutzigen Deal mit den Deutschen vorbereiten, der die mögliche Zerstörung der russischen Flotte beinhaltete. Schchastny trug sogar Briefe bei sich (die sich später als Fälschungen erwiesen), in denen behauptet wurde, die deutsche Marine fordere "die vollständige Entwaffnung von Kronstadt und der Schiffe im Marinehafen" (ibid., S.562). Angesichts der außerordentlich gespannten und konfusen Atmosphäre in der baltischen Flotte (die Rabinowitch sehr gut dokumentiert), angesichts der Brisanz der Vorwürfe, die Bolschewiki hätten die Revolution in Brest-Litowsk verraten und würden sie weiter verraten, angesichts der drohenden Revolte unter den Minenlegern in Petrograd und in den Obukow-Werken, und angesichts der zweifellos gegebenen Machenschaften des britischen Geheimdienstes und von Marineoffizieren wie Cromie, O’Reilly und Lockhart in Petrograd (ebenfalls überzeugend dokumentiert von Rabinowitch), - sollte der Autor da nicht etwas zurückhaltender sein, anstatt vorschnell den Stab über Trotzki zu brechen? Könnte es nicht durchaus sein, dass Untersuchung, Prozess und Todesurteil unter den gegebenen Umständen tatsächlich gerechtfertigt waren? Hier Rabinowitchs eigene Worte dazu:

"Am 22. Juni begannen die Minenleger, zu denen enttäuschte Arbeiter aus einer der größten Fabriken Petrograds, den Obukow-Werken, stießen, einen bewaffneten Aufstand. Sie verlangten die sofortige Bildung einer einheitlich sozialistischen Sowjetregierung bis zur Wiedereinberufung der Konstituierenden Versammlung. Obwohl erfolgreich unterdrückt, war die Rebellion symptomatisch für die tiefe Krise, in der die Sowjetmacht in Petrograd zu jener Zeit steckte." (Alexander Rabinowitch, "The Shchastny File: Trotsky and the Case of the Hero of the Baltic Fleet," Russian Review, Band 58, Nr. 4 (Okt. 1999), S.633).

Außerdem ist es eines Historikers vom Rang Rabinowitchs einfach nicht würdig, Trotzki der Teilnahme am "möglicherweise ersten sowjetischen ‚Schauprozess’" zu beschuldigen. Zwischen der Situation, in der sich die bolschewistische Regierung in der explosiven Lage eines Bürgerkriegs befand, als es um Alles oder Nichts ging, und der Situation, der sich Stalin 1936 gegenüber sah, besteht ein himmelweiter Unterschied. Rabinowitch mag der Ansicht sein, dass Trotzki mit übergroßer Härte vorgegangen ist, aber er legt keine Beweise dafür vor, dass Trotzki aus anderen Gründen handelte als jenen, die er vor dem revolutionären Tribunal darlegte. Außerdem weiß Rabinowitch genau, dass praktisch jede Person, die er in seinem Buch erwähnt und die nicht eines natürlichen oder gewaltsamen Todes vor 1936 starb, dann in den "Schauprozessen" umkam, die Stalin Jahre später im Terror von 1937-38 inszenierte. Schon eine rasche Durchsicht von The Bolsheviks in Power bringt die folgende Liste von Leuten hervor, die in Stalins Schauprozessen getötet wurden: Rjasanow, Sinowjew, Kamenew, Radek, Sorin, Bucharin, Miljutin, Smilga, Krestinski, Ossinski, Losowski, Dingelstedt, Newski, Boki, Kosior, Spiridonowa und andere. Zu behaupten, Trotzki habe einen Präzedenzfall für dieses wahrhaft konterrevolutionäre Blutbad geschaffen, als er, zur Verteidigung der Revolution, Schchastny vor Gericht brachte, lässt eine bemerkenswerte theoretische Blindheit erkennen. In Anbetracht der zahllosen Fälschungen, die nach wie vor über Trotzkis Leben im Umlauf sind, kann man sicher sein, dass die Schchastny-Episode insbesondere in Russland ausgenutzt werden wird, um die fortgesetzte Verteufelung des Mannes zu rechtfertigen, der neben Lenin die wichtigste Persönlichkeit der Revolution war. Wir hoffen, dass Rabinowitch die Affäre Schchastny überprüfen und in einer späteren Auflage dieses Buchs eine ausgewogenere Einschätzung präsentieren wird.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Rabinowitch Teil drei mit dem kurzen Kapitel "Der Selbstmord der linken Sozialrevolutionäre" beschließt. Darin geht er auf die Ermordung des deutschen Botschafters Graf Mirbach am 6. Juli ein, die das Zentralkomitee der linken Sozialrevolutionäre in der Hoffnung angeordnet hatte, damit eine deutsche Militärattacke zu provozieren. Das Attentat wurde von der bolschewistischen Partei als "Aufstand der linken Sozialrevolutionäre" gesehen, was Rabinowitch in Frage stellt, weil es offensichtlich, und speziell in Petrograd, keine Vorbereitungen der linken Sozialrevolutionäre gegeben hat. Hier ist Rabinowitch gegenüber Spiridonowa und anderen linken Sozialrevolutionären weitaus nachsichtiger als jemals gegenüber Lenin oder Trotzki, wofür es keine Erklärung gibt.

Der abschließende Teil von Bolsheviks in Power behandelt den Beginn des "Roten Terrors" nach der Ermordung von Uritski am 30. August 1918 und den Schüssen auf Lenin am selben Tag. Auf 43 Seiten geht Rabinowitch darauf ein, dass die wichtigste Ursache für den Terror die beängstigenden Rückschläge im Bürgerkrieg waren, und nicht der Druck von Lenin, die Morde an Wolodarski und Uritski oder der Mordversuch an Lenin. Nüchtern beschreibt er das Ausmaß des Terrors und führt dessen Schärfe zum großen Teil auf die "Ungeduld eines Teils der Petrograder Arbeiter" zurück, "die mit ihren vermeintlichen Feinden abrechnen wollten, und die sich während Uritskis Zeit als Chef der Petrograder Tscheka entwickelt hatte" (S.355).

Auf den restlichen Seiten nimmt das Buch eine etwas überraschende thematische Wende; es geht hier vorwiegend um die Vorbereitungen und Feiern zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. Was die Arbeiter von Petrograd im Herbst 1918 eigentlich zu feiern hatten, fragt Rabinowitch und geht dann auf wichtige Veränderungen in der Weltsituation, besonders in Europa ein. Das deutsche Heer war auf dem vollständigen Rückzug. Im Oktober und November "brachen die deutschen Kriegsbemühungen vollständig zusammen, die Herrschaft der Habsburger war in Auflösung begriffen und demokratische Revolutionen stürzten die alte Ordnung in Mitteleuropa.... Die bolschewistischen Führer in Petrograd... fühlten sich durch die Tatsache gestärkt, dass die Sowjetmacht in Russland ein ganzes Jahr überlebt hatte (bedeutend länger als die Pariser Kommune), und durch ihren starken Glauben, dass sie die Avantgarde im heraufziehenden globalen, sozialistischen Millennium seien" (S.356-57). Es wurden sehr große Feiern geplant, mit Theateraufführungen, Konzerten, Filmen, Paraden, Feuerwerken, Versammlungen, Dichterlesungen und Essen - sehr viel Essen. Der dritte Tag der Feiern war den Kindern von Petrograd gewidmet, die mit ihren Eltern außerordentliche Entbehrungen erlitten hatten.

Gewiß war hier auch eine gehörige Portion Stolz im Spiel: "Die Behörden von Petrograd sahen die Feiern des ersten Jahrestags der Oktoberrevolution als Gelegenheit, den Anspruch des roten Petrograds auf Führung der weltweiten sozialistischen Revolution gegenüber dem konkurrierenden Anspruch Moskaus zu bekräftigen" (S.371). Viele Berichte bezeugen, dass die Feiern vom 7.-9. November sehr groß, spektakulär und wahrhaft festlich waren. Dann, am Abend des 9./10. November, erreichte Petrograd die Nachricht, Kaiser Wilhelm habe abgedankt und eine Regierung aus Sowjets nach russischem Vorbild habe in Berlin die Macht übernommen. Iljin-Schenewski, der sich in einem Theater in Petrograd aufhielt, erzählt: "Die Ankündigung wurde mit lautem Getöse begrüßt, und stürmischer Applaus erschütterte minutenlang das Theater.... Da war sie also, sie war gekommen, die Unterstützung des westeuropäischen Proletariats... Es schien, alles würde von jetzt an anders verlaufen.... Unsere Gedanken waren weit weg, in Berlin, wo rote Fahnen in den Straßen flatterten, wo ein Sowjet der Arbeiterdeputierten tagte, wo ein weiterer Knoten der proletarischen Weltrevolution geknüpft worden war" (S.400).

Wie in einem Nachsatz bemerkt Rabinowitch abschließend, dass die Aversion gegen den bolschewistischen Extremismus wesentlich zum "gemäßigten Ausgang der deutschen Revolution von 1918" beigetragen habe. Nach dieser schönfärberischen Beschreibung für die damals kurz bevorstehende blutige Niederschlagung der sozialistischen Revolution bemerkt er düster: "Nach ihren fröhlichen Feiern zum ersten Jahrestags der Oktoberrevolution blieben die Bolschewiki von Petrograd auf sich gestellt, weil die Vereinigung mit ihren revolutionären deutschen Brüdern ausblieb. Ihr einsamer und verlustreicher Überlebenskampf setzte fast ohne Atempause wieder ein" (S.401).

Rabinowitch präsentiert in seiner Untersuchung viel neues, bedenkenswertes Material. Er liefert wertvolle Schilderungen, welche Rolle Persönlichkeiten wie Rjasanow, Uritski, Wolodarski, Lunatscharski, Samoilowa und viele andere spielten. Durchgehend hebt er die Orientierung der Bolschewiki auf die sozialistische Weltrevolution hervor und beschreibt anschaulich, welch bedrohlichen Hindernisse zu überwinden waren, um solange zu überleben, bis sich die Revolution nach Europa ausdehnen würde. Er lobt zwar die gemäßigten Sozialisten, aber der Eindruck drängt sich auf, dass Rabinowitch genau weiß, dass die sozialistische Revolution zerstört worden wäre, hätten die Gemäßigten triumphiert. Im Gedächtnis der Petrograder Bolschewiki war die Erinnerung an die Unterdrückung der Pariser Kommune noch frisch, und der im nahen Finnland 1918 wütende Weiße Terror ist in dem Buch Year One of the Revolution von Viktor Serge, den Rabinowitch zitiert, in seiner ganzen Brutalität beschrieben. Wären die Bolschewiki denn besser gefahren, wenn sie einen moderateren Kurs verfolgt hätten?

Immer wieder zeigt Rabinowitch in seinem Buch, dass Lenin und Trotzki weit größeren politischen Scharfsinn besaßen als ihre Gegner innerhalb wie außerhalb der bolschewistischen Partei. Fast reflexartig versucht er jedoch auf ihre realen oder angeblichen Charakterschwächen hinzuweisen. Die Strenge, die er in Trotzkis Verhalten (besonders Schchastny gegenüber) erblickt, lässt die Brutalisierung außer Acht, die sowohl die russische als auch die westeuropäische Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs ergriffen hatte. Obwohl der entschlossene Kampf Rjasanows gegen die Todesstrafe als Überbleibsel der kapitalistischen Barbarei Sympathie verdient, und auch Uritski und Wolodarski wegen ihrer Versuche, die Repression in Petrograd einzudämmen, Anerkennung verdienen, zeigen doch die Fakten, die Rabinowitch vorlegt, dass die Gegner des Bolschewismus alles andere als zimperlich waren. Tragischerweise wurden Uritski und Wolodarski für ihre Menschlichkeit belohnt, indem sie umgebracht wurden.

Trotz der erwähnten Mängel muss man ehrlich hoffen, dass The Bolsheviks in Power eine große Leserschaft findet, und dass das Buch zu einer ernsthaften Beschäftigung mit der Oktoberrevolution und ihren Folgen beitragen wird.

Siehe auch:
Leo Trotzki und die postsowjetische Schule der Geschichtsfälschung: Eine Kritik der beiden Trotzki-Biographien von Geoffrey Swain und Ian Thatcher - Ein Beitrag zur Neubewertung von Vermächtnis und Stellenwert Leo Trotzkis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts
(5.-12. Juni 2007)
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