Dreistündiger Warnstreik bei der Bahn

Chemnitzer Arbeitsgericht greift Streikrecht an

Mit einem dreistündigen Streik hat die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) am Freitagvormittag für erhebliche Beeinträchtigungen des Zugverkehrs gesorgt. Vor allem der Regionalverkehr und der Nahverkehr in den Großstädten waren betroffen. Laut Angaben der GDL, die etwas Dreiviertel aller Lokführer der Deutschen Bahn vertritt, beteiligte sich der Großteil der Mitglieder am Ausstand.

Der Streik war aber weit davon entfernt, den Zugverkehr zum Erliegen zu bringen. Die Bahn hatte die seit Monaten andauernden Verhandlungen genutzt, um sich systematisch auf den Arbeitskampf vorzubereiten. Sie setzte für den ganzen Tag einen Notfallfahrplan in Kraft, der sicherstellen sollte, dass rund zwei Drittel der 750 Züge des Fernverkehrs und bis zur Hälfte der 19.000 Züge des Regional- und Nahverkehrs fahren.

Dies scheint ihr weitgehend gelungen zu sein. Laut einem Sprecher der Bahn sind bundesweit insgesamt nur 15 Züge an Bahnhöfen stehen geblieben, weil sie bei Streikbeginn die Fahrt einstellten. Der Notfallfahrplan hatte allerdings zur Folge, dass der Verkehr während des gesamten Tages eingeschränkt blieb, obwohl der Streik nur drei Stunden dauerte, und dass auch der Fernverkehr betroffen war, obwohl ein Arbeitsgericht den Streik im Fernverkehr kurzfristig untersagt hatte.

Wie bereits bei den Warnstreiks im Sommer, hatte die Bahn auch jetzt wieder versucht, den Streik per Gerichtsbeschluss verbieten zu lassen. Sie wandte sich zu diesem Zweck an das Arbeitsgericht in Chemnitz, dessen Direktor Burghard Houbertz bereits im August zugunsten der Bahn entschieden und einen Streik der GDL verboten hatte. "Genau das war der Grund", bemerkt dazu Die Zeit, "weshalb die Bahn Chemnitz - nicht unbedingt der Nabel der Zug-Welt - als Ort für die gerichtliche Auseinandersetzung wählte, wie die Vertreter des Konzerns hinter vorgehaltener Hand einräumten."

Die Gerichtsverhandlung war auf Donnerstag 15 Uhr festgesetzt. Sie zog sich über acht Stunden hin, da die GDL einen Befangenheitsantrag gegen den Richter stellte und es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Vertretern der Bahn und der GDL kam. Der GDL-Vorsitzende Manfred Schell war persönlich erschienen. Er überschüttete die Bahn-Vertreter mit deftigen Vorwürfen, stellte aber von Anfang an klar, dass sich die Gewerkschaft an das Urteil des Gerichts halten werde.

Nachts um zwei verkündete Richter Houbertz schließlich sein Urteil. Er stellte fest, dass Streiks nicht generell grob rechtswidrig seien, daher könne er den Arbeitskampf nicht gänzlich verbieten. Um den Schaden zu begrenzen und die Verhältnismäßigkeit zu wahren, müssten die Streiks aber auf den Nahverkehr beschränkt bleiben. Streiks im Fern- und im Güterverkehr untersagte er kurzerhand und drohte der GDL bei Zuwiderhandlung mit einem Ordnungsgeld in Höhe von 250.000 Euro.

Da die Bahn ihren Notfallfahrplan zu diesem Zeitpunkt bereits in Kraft gesetzt hatte, fielen am Freitag trotzdem ein Drittel der Fernverkehrszüge aus, obwohl die GDL den Fernverkehr gar nicht bestreikte.

Das willkürliche Urteil des Chemnitzer Gerichts stieß auf beiden Seiten auf Unverständnis. Die GDL meinte, sie könne nicht nachvollziehen, warum der Güter- und Fernverkehr nicht bestreikt werden dürfe, während sich Bahn-Anwalt Thomas Ubber darüber empörte, dass die Streiks im Nahverkehr nicht ebenfalls untersagt wurden. "Ich verstehe nicht ganz, wieso im Fern- und Güterverkehr Streiks verboten wurden, im Nahverkehr aber nicht", sagte er.

Tatsächlich bedeutet das Urteil von Chemnitz einen massiven Angriff auf das Streikrecht. Wenn ein beliebiger Richter einen Streik willkürlich mit der Begründung verbieten kann, er sei "unverhältnismäßig", dann existiert das Streikrecht nur noch auf dem Papier. Zulässig sind dann nur noch rein symbolische Streiks, die keinen größeren wirtschaftlichen Schaden anrichten - also Streiks, die ohne Wirkung bleiben.

Wenn man schon das Kriterium der Verhältnismäßigkeit anführt, so liegt der Nachteil eindeutig auf Seiten der GDL. Die relativ kleine Gewerkschaft mit 34.000 Mitgliedern steht einem milliardenschweren Konzern gegenüber, der nicht nur die gesamte Wirtschaft und die Bundesregierung hinter sich hat, sondern auch die Bahngewerkschaft Transnet sowie den gesamten DGB.

Verdi und Transnet greifen Streik an

Frank Bsirske, Chef der großen Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, nutzte den Bundeskongress seiner Organisation in Leipzig für einen Frontalangriff auf die streikenden Lokführer. Er warf ihnen vor, sie verabschiedeten sich "aus der Solidarität" und versuchten, "im Alleingang für sich das Maximale herauszuholen". Er verglich sie mit dem Ärzteverband Marburger Bund und der Pilotenvereinigung Cockpit, die ebenfalls "durch ihre Alleingänge der Mehrheit die Solidarität aufgekündigt" hätten.

Eine Erklärung von Transnet bezeichnet das Vorgehen der GDL als "unverständlich": "Mit ihren Aktionen betreibt die Führung dieser Organisation die Spaltung der Belegschaft. Hier sind Tarif-Brecher am Werk." Und Transnet-Chef Norbert Hansen rief seine Mitglieder öffentlich dazu auf, während des Streiks ihren Dienst zu tun und damit den streikenden Lokführern in den Rücken zu fallen.

Verdi und Transnet verurteilen das Urteil von Chemnitz zwar ebenfalls. Bsirske sprach von inakzeptabler "Klassenjustiz" und einem "Angriff auf das verfassungsmäßige Grundrecht des Streiks", während ein Vorstandsmitglied von Transnet erklärte, die GDL sei eine Gewerkschaft, "die sehr wohl einen Arbeitskampf führen darf, wie wir das auch dürfen". Doch angesichts der Hetze beider Organisationen gegen den Streik ist dies pure Heuchelei.

Auch der Vorwurf, die GDL verstoße mit ihrer Forderung nach massiven Lohnerhöhungen für das Fahrpersonal gegen die "Solidarität" mit den restlichen Bahnbeschäftigten ist verlogen. Sowohl Verdi als auch Transnet unterzeichnen seit langem Sondertarifverträge, die die Belegschaften spalten. Nur liegen solche Verträge stets unter dem bisherigen Tarifniveau und nicht darüber.

So hat Verdi im Land Berlin Tarifverträge für den öffentlichen Dienst abgeschlossen, die weit unter dem Niveau der übrigen Bundesländer liegen und nun als Hebel dienen, um auch anderswo die Löhne zu drücken. Transnet wollte 2002 einen Ergänzungsvertrag-Tarifvertrag für den Regionalverkehr abschließen, der eine massive Verschlechterung bei Einkommen, Arbeitszeiten und Dienstplangestaltung vorsah. Das hatte damals zum Austritt der GDL aus der Tarifgemeinschaft mit Transnet und GDBA geführt.

Sobald dagegen eine Gruppe von Beschäftigten - wie die Piloten, die Klinikärzte und jetzt die Lokführer - gegen das Lohndiktat der Gewerkschaften rebellieren und höhere Abschlüsse fordern, brüllen letztere "Spaltung" und fordern "Solidarität". In Wirklichkeit fürchten Bsirske und Hansen, dass das Beispiel der Lokführer Schule macht. Nach übereinstimmenden Angaben beider Gewerkschaften sollen seit Beginn der Tarifauseinandersetzung bereits 800 Lokführer von Transnet zur GDL übergetreten sein. Auch in der Öffentlichkeit gibt es viel Zustimmung zu den Forderungen der GDL.

Die Rolle der GDL

Die GDL ist allerdings nicht in der Lage, die in sie gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Die kessen Sprüche, mit denen GDL-Chef Manfred Schell seinen Widersacher im Bahnvorstand angreift, stehen in krassem Gegensatz zu seinem zaghaften Vorgehen im Arbeitskampf. Obwohl bereits Anfang August 96 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder für einen unbefristeten Arbeitskampf votierten, hat er den Streikbeginn immer wieder hinausgezögert. Das letzte, was das CDU-Mitglied Schell möchte, ist eine breite Mobilisierung, die sich nicht nur gegen den Bahnvorstand, sondern auch gegen die Bundesregierung und die Interessen der Wirtschaftselite richtet.

Schell hat für das Wochenende alle weiteren Streiks ausgeschlossen und hofft inständig darauf, dass ihm der Vorstand am Montag ein neues Verhandlungsangebot unterbreitet.

Momentan sieht es allerdings nicht danach aus, als sei Bahn-Chef Mehdorn an einer Verhandlungslösung interessiert. Ihm geht es nicht nur um die Löhne und Arbeitsbedingungen der Lokführer, sondern um die Privatisierungspläne der Bahn. Und hier ist die GDL, auch wenn sie sich noch so kompromissbereit gibt, ein Hindernis.

Zu diesem Schluss ist mittlerweile auch Die Zeit gekommen. Mehdorn könne seinen potentiellen Investoren keinen Konzern mit drei Gewerkschaften zumuten, "die sich gegenseitig hochschaukeln in ihren Forderungen und sich wechselseitig in Stellung bringen mit ihrem Personal", schreibt das Wochenblatt in der Ausgabe vom 4. Oktober. Ein Sieg der Lokführergewerkschaft hätte zur Folge, "dass der anteilige Verkauf der Deutschen Bahn an private Investoren in Gefahr geriete. Welcher Anleger investiert schon gern in einen Konzern mit drei konkurrierenden, miteinander um Macht und Einfluss kämpfenden Gewerkschaften?"

Mehdorn hat die volle Unterstützung von Transnet und der GDBA, die seine Privatisierungspläne voll unterstützen und die Lokführergewerkschaft als unliebsame Konkurrenz betrachten.

Für die GDL wiederum könnte eine Niederlage das organisatorische Ende bedeuten. Sie kann sich daher nicht einfach ergeben. Dennoch sollte man sich keine falschen Hoffnungen machen. Der GDL geht es vorrangig darum, ihre Rolle als "Tarifpartner" zu sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, ist sie bereit, die Forderungen der Lokführer zu opfern.

"Pro forma hielt GDL-Chef Schell an der Forderung nach Gehaltssteigerungen um bis zu 31 Prozent fest - signalisierte in Hintergrundgesprächen aber durchaus, dass er im Ergebnis natürlich mit deutlich weniger rechne," berichtet Die Zeit. "Als unverhandelbar allerdings erscheint aus seiner Sicht die Forderung nach einem eigenen Tarifvertrag. Alles andere käme einer Existenzgefährdung seiner Gewerkschaft gleich."

Stimmen von Streikenden

Mitarbeiter der World Socialist Web Site sprachen in Berlin und Frankfurt mit streikenden Arbeitern und verteilten Flugblätter, in denen es heißt: "Die Verteidigung von Einkommen sowie von sozialen und demokratischen Rechten erfordert eine grundlegend neue politische Strategie, die nicht die Profitinteressen der Wirtschaft zum Maßstab aller Dinge macht, sondern die Bedürfnisse der arbeitenden Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt und damit eine sozialistische Zielsetzung verfolgt. Die Produktion im allgemeinen und derart wichtige Unternehmen wie die Bahn AG müssen der Kontrolle der Finanzaristokratie entrissen und in den Dienst der Gesellschaft als ganzer gestellt werden."

Am Frankfurter Hauptbahnhof versammelten sich die streikenden Lokführer in der Bahnhofshalle um ein Transparent mit der Losung "Für familiengerechte Arbeitsbedingungen". Nach einer guten Stunde, kurz nach neun, ließ die Frankfurter Bahnhofsdirektion die Streikenden durch Ordnungskräfte aus dem Bahnhof werfen, auch den anwesenden GDL-Vositzenden Manfred Schell. Die GDL sprach hinterher von "Hausverbot".

Einige der streikenden Lokführer waren unzufrieden mit der Art und Weise, wie der Arbeitskampf geführt wurde. Sie kritisierten, dass man der Bahn derart lange Zeit zur Vorbereitung eingeräumt hatte.

Marco S., ein junger Lokführer, sagte: "Man darf so einen Streik doch nicht derart großartig ankündigen, sondern es muss einfach heißen: So, heute fällt ab acht Uhr der Hammer. Es wird alles dicht gemacht und nichts geht mehr - und zwar bundesweit. Und zwar nicht nur die S-Bahn und der Nahverkehr, sondern alle Geschäftsbereiche, damit das beim Vorstand überhaupt mal ankommt!"

Marco berichtete der WSWS, er hätte eigentlich heute nach Hamburg fahren müssen: "Für mich wurde kurzfristig ein Beamter eingesetzt, der jetzt meinen Zug fährt, und mich hat man in die Bereitschaft versetzt, weil man Angst hatte, dass ich streiken würde. Bei der S-Bahn läuft’s genauso: Da fahren die Züge im Halbstundentakt mit Beamten. Es war ja lange genug im Voraus bekannt, dass heute morgen Streik ist, da konnte man reagieren und hat die Beamten oder andere Kollegen eingesetzt, die noch in der Transnet sind, davon gibt’s ja noch einige. Die müssen jetzt fahren."

Er erklärte, die Bahn habe in mehreren Zeitungen neue Lokführerstellen ausgeschrieben, sie wolle offenbar im Hinblick auf die bevorstehende Privatisierung die organisierten Lokführer loswerden: "Die Firma muss für die Privatisierung ‚geschmückt’ werden", sagte er.

Ein älterer Kollege erklärte: "Es wurden in mehreren Zeitungen Lokführer, offenbar als Streikbrecher, angeworben. Das ist vom Gesetz her überhaupt nicht zulässig. Die Arbeit kann nur jemand machen, der mit dem Streckennetz vertraut ist. Wir müssen das im Zusammenhang mit dem geplanten Arbeitskampf sehen: Die Bahn hat Anzeigen in großen Zeitungen geschaltet.

In einer Anzeige war sogar die Rede von einem Einstiegsgehalt von 32.000 Euro brutto - das hat uns wirklich überrascht, und es hat die Kollegen richtig erbost. Das ist ja ungefähr die Summe, die wir erhalten würden, wenn wir unser Ziel voll erreichen würden. Für uns ist es vollkommen fern der Realität, dass ein Lokführer bei der Einstellung 32.000 brutto Gehalt bekommt. Das ist hart, eine gewaltige Provokation.

Lokführer - das war immer ein gewerblich-technischer Beruf, der ein anspruchsvolles Ausbildungsniveau voraussetzt. Man hat das offenbar ganz bewusst fallengelassen, um uns zu provozieren. Dazu ist zu sagen, dass die bisherigen Erfahrungen bei Privatbahnen, wo heute schon Leute nach einer Kurzausbildung beschäftigt werden, alles andere als positiv sind. Man kann von Glück reden, wenn es nicht zu schweren Unfällen kommt."

Siehe auch:
Lokführer brauchen eine neue Perspektive
(3. Oktober 2007)
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