Türkei: Abdullah Gül übernimmt das Präsidentenamt

Das türkische Parlament hat am Dienstag den bisherigen Außenminister Abdullah Gül von der regierenden konservativen, islamistischen AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) zum 11. Staatspräsidenten gewählt. Für Gül stimmten 339 der 550 Abgeordneten, 63 mehr als erforderlich. In der dritten Wahlrunde genügte eine absolute Mehrheit zur Wahl. In den ersten beiden Runden hatte Gül die erforderliche Zweidrittelmehrheit verfehlt.

Für den Kandidaten der faschistischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP), Sabahattin Cakmakoglu, stimmten 70 Abgeordnete, für Tayfun Icli von der kemalistischen Partei der Demokratischen Linken (DSP) 13. Die ebenfalls kemalistische, dem Militär nahe stehende Republikanische Volkspartei (CHP) boykottierte die Wahl. Die Abgeordneten der kurdisch-nationalistischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) enthielten sich der Stimme.

Im Frühjahr hatte das kemalistische Establishment Güls Wahl noch verhindert. Die Militärs hatten mit einem Putsch gedroht, falls ein Politiker mit islamistischen Wurzeln in den Präsidentenpalast einziehen sollte, und die Abgeordneten der CHP, der damals größten Oppositionsfraktion, hatten die Abstimmung boykottiert. Daraufhin erklärte das Verfassungsgericht die Wahl in einer juristischen Farce für ungültig.

Die AKP antwortete mit vorgezogenen Parlamentswahlen, die sie im Juli mit einem deutlichen Stimmenzuwachs gewann. Die Militärs und ihrer zivilen Verbündeten, die monatelang eine schrille nationalistische Kampagne gegen Gül geführt hatten, erlitten eine empfindliche Niederlage. Die CHP unter Deniz Baykal, der sich zum Sprachrohr der Generäle aufgeschwungen hatte, wurde von den Wählern deutlich abgestraft.

Trotzdem haben sich die Militärs mit dem neuen Präsidenten, der laut Gesetz auch Oberbefehlshaber der Armee ist, nicht abgefunden. Am Vorabend der Wahl warnte Generalstabschef Yasar Büyükanit auf der Internetseite des Generalstabs, die Streitkräfte seien entschlossen, die Trennung von Staat und Religion zu verteidigen, und machte finstere Andeutungen über kurdische Separatisten, die die Einheit des Staates bedrohten, sowie "Zentren des Bösen", die mit "hinterhältigen Plänen" in "verschiedenen Formen" den laizistischen Charakter der Türkei zu zerstören versuchten - eine deutliche Warnung an die AKP.

Nach der Wahl demonstrierten die führenden Militärs dann, dass sie sich nach wie vor als Herr im Hause fühlen und die Autorität des neuen Oberbefehlshabers nicht akzeptieren. Entgegen den bisherigen Gepflogenheiten erschienen sie nicht zur Amtseinführung des Präsidenten. Am folgenden Tag setzte sich Generalstabschef Büyükanit während einer Zeremonie in einer Militärakademie in offenem Bruch des Protokolls demonstrativ hin, bevor Gül seinen Platz eingenommen hatte. Andere hochrangige Generäle verweigerten Gül bei diesem ersten Zusammentreffen den üblichen militärischen Gruß, obwohl dieser sich bemüht hatte, eine Konfrontation zu vermeiden und ohne seine Kopftuch tragende Ehefrau erschienen war.

Die frisch graduierten jungen Offiziere grüßten Büyükanit statt Gül, und der Kommandant der Militärakademie, Generalleutnant Necati Özbahadir, erklärte laut Turkish Daily News in einer drohenden Anspielung auf den neuen Präsidenten: "Die Türkischen Streitkräfte dienen nur denjenigen, die mit den Prinzipien und Reformen von Atatürk eins sind und sich gegenüber den Grundsätzen der Republik loyal verhalten."1

Der türkische Staatspräsidenten hat in erster Linie repräsentative Funktionen, besitzt aber dennoch beträchtliche Machtmittel und Kontrollbefugnisse. So verfügt er über eine eigene Rechnungsprüfungseinheit und über weitreichende Vollmachten bei der Ernennung hoher Staatsbeamter, Richter, Staatsanwälte sowie Universitätsrektoren. Er kann sein Veto gegen Gesetze einlegen und sie zur erneuten Beratung ans Parlament zurückverweisen. Werden sie ein zweites Mal ohne Änderung angenommen, kann er das Verfassungsgericht anrufen.

Güls Vorgänger, der nominell parteilose Ahmed Necdet Sezer, hatte von den präsidialen Machtbefugnissen umfassend Gebrauch gemacht und praktisch die Rolle einer Oppositionspartei gespielt. Er hatte zahlreiche Gesetzesprojekte der AKP-Regierung blockiert und in Hunderten Fällen von der Regierung vorgeschlagene Beamte nicht ernannt. Im April und Mai hatte er die Massendemonstrationen gegen Gül und die AKP-Regierung unterstützt. Noch nach der Parlamentswahl im Juli hatte er sich geweigert, die neue Regierung zu ernennen, und erklärt, dies solle sein Nachfolger tun.

"Anatolische Bourgeoisie"

Güls reibungslose Amtsübernahme nach dem monatelangen Nervenkrieg mit den Militärs ist von der internationalen Presse als Beginn einer neuen Ära der politischen Stabilität und wirtschaftlichen Prosperität begrüßt worden. Allein schon die Reaktion der Generäle zeigt aber, dass der Eindruck politischer Stabilität trügt.

Hinter dem Konflikt zwischen den Generälen und der AKP verbergen sich außerdem viel grundlegendere Widersprüche: Eine scharfe soziale Polarisierung des Landes und seine Verstrickung in die Machtkämpfe im Mittleren Osten, die mit der Krise der amerikanischen Besatzung des Irak zunehmend heftiger werden.

Die AKP hat sich seit der Übernahme der Regierung vor fünf Jahren das Vertrauen des internationalen Kapitals erworben, indem sie gewissenhaft die wirtschaftlichen Vorgaben des Internationalen Währungsfonds und der Europäische Union erfüllte. Sie vertritt die Interessen der sogenannten "anatolischen Bourgeoisie", d.h. der konservativen, aber ehrgeizigen Geschäftsleuten aus der Provinz, die in den letzten zehn bis 15 Jahren wirtschaftlich aufgestiegen sind, teilweise große, finanzstarke Holdings aufgebut haben, aber vom kemalistischen Establishment von staatlichen Ämtern und den Hebeln der Macht ferngehalten wurden.

Dieses "islamische Kapital" steht in Konkurrenz zu den etablierten, nicht zuletzt durch Korruption und Vetternwirtschaft eng mit der Staatsbürokratie verbundenen Banken und Konzerne und will deren Dominanz brechen. In dieser Zielsetzung stimmt es mit dem IWF, der Weltbank und der EU überein, die die alten Monopole und bürokratischen Verkrustungen als Hindernis für das Eindringen des internationalen Finanzkapitals betrachten.

Die AKP hatte 2002 erstmals die Parlamentswahl gewonnen, nachdem die türkische Wirtschaft 2001 weitgehend zusammengebrochen war. Zuvor hatte sie in der Kommunalpolitik Einfluss gewonnen, wo sie den Bankrott der Gewerkschaften und sozialreformistischen Parteien ausnutzte, um sich als Anwalt der verarmten Bevölkerung darzustellen. Regierungschef Recep Tayip Erdogan war auf diese Weise als Oberbürgermeister von Istanbul populär geworden.

Die Regierungsperiode der AKP fiel dann - eher zufällig - mit einer äußerst günstigen internationalen Konjunkturlage zusammen. Die Finanzmärkte hatten sich 2002 von der Asienkrise von 1997 erholt und die internationalen Kapitalströme begannen wieder zu fließen. Auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten strömten große Kapitalmengen nicht nur in riskante Anlagen wie den amerikanischen Hypothekenmarkt, sondern auch in Schwellenländer wie die Türkei.

Innerhalb von fünf Jahren floss Auslandskapital im Umfang von 114 Milliarden Dollar in das Land am Bosporus. Die Wirtschaft verzeichnete erhebliche Wachstumsraten und verschaffte der AKP-Regierung eine relativ starke Position. Sie beschnitt - in sehr begrenztem Umfang - den Einfluss des Militärs und liberalisierte den Umgang mit religiösen Minderheiten und den Kurden. Auch hier blieben die praktischen Auswirkungen eher gering, was das kemalistische Establishment aber nicht daran hinderte, jedes noch so kleine Zugeständnis erbittert als Vaterlandsverrat zu bekämpfen.

Ähnliches gilt für die Außenpolitik. Die AKP setzte im Umgang mit den irakischen Kurden vorwiegend auf diplomatischen Druck und bremste das Militär, das auf einen groß angelegten Einmarsch in den Nordirak drängte. Eine militärische Konfrontation hätte zu einem Konflikt mit den USA geführt und innenpolitisch die extreme Rechte und das Militär gestärkt. Ebenfalls um den Einfluss dieser Kräfte zurückzudrängen, setzte die AKP-Regierung auf eine Annäherung an die EU.

Der wirtschaftliche Aufschwung verlief alles andere als harmonisch. Das Leistungsbilanzdefizit explodierte und erreichte Ende 2006 acht Prozent des Bruttosozialprodukts, was das Land extrem empfindlich für internationale Konjunkturschwankungen macht. Vor allem aber erfolgte das Wachstum auf Kosten der Arbeiterklasse, die nun mit Nachdruck ihren Anteil fordert.

"Die Türkei durchlebt die größte Streikwelle seit den neunziger Jahren", meldete kürzlich die AKP-nahe Zeitung Zaman unter der Überschrift "Streikwelle bedroht die Wirtschaft". Die Beschäftigten von Turkish Airlines, der Textilindustrie und der Schifffahrt kämpfen zur Zeit um höhere Löhne.

Eine Regierung des internationalen Kapitals

Die AKP ist fest entschlossen, den Ansprüchen der Arbeiter entgegenzutreten. In dieser Frage stimmt die "anatolische Bourgeosie" bei allen sonstigen Differenzen mit dem kemalistischen Establishment und dem Militär überein. In den Schlüsselpositionen von Erdogans neuer Regierungsmannschaft, die von Gül in einer seiner ersten Amtshandlungen bestätigt wurde, finden sich bewährte Vertreter des internationalen Kapitals..

Zum einen hat Erdogan weit weniger Minister ausgetauscht, als allgemein erwartet worden war: 16 der 25 Minister gehörten bereits dem vorangegangenen Kabinett an, elf führen ihr bisheriges Ressort weiter.

Finanzminister bleibt Kemal Unakitan, der bereits weitere Steuersenkungen für Unternehmen angekündigt hat. Er war bisher eine der wichtigsten Zielscheiben der Opposition, weil Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung gegen ihn laufen, die jedoch aufgrund der parlamentarischen Immunität ausgesetzt sind.

Neuer Außenminister wird der 40-jährige bisherige Wirtschaftsminister Ali Babacan. Seine Funktion als Chefunterhändler bei den Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei behält er als Außenminister bei. Seine Ernennung zum Außenminister haben westliche Beobachter als Signal an die Adresse der EU gewertet.

Babacan hat in den USA Betriebswirtschaft studiert. Nach einem Fulbright-Stipendium und einem Management-Studium in den USA blieb er zunächst in Amerika und arbeitete als Finanzberater. Erst Mitte der 90er Jahre kehrte er nach Ankara zurück, um das Textilunternehmen seiner Familie zu übernehmen. Gleichzeitig begann Babacan sein politisches Engagement bei der Stadtverwaltung der türkischen Hauptstadt. Er war einer der Mitbegründer der AKP und wurde mit 35 Jahren jüngstes Mitglied des Kabinetts auf dem Posten des Wirtschaftsministers, wo er die Vorgaben des IWF stets eisern gegen die Bevölkerung durchsetzte.

Neuer Wirtschaftsminister wird Mehmet Simsek, über den die Financial Times Deutschland begeistert schreibt: "Simsek arbeitete während der vergangenen zwei Jahre für die US-Investmentbank Merrill Lynch, als Chefanalyst für die Volkswirtschaften des Nahen Ostens. Seine Karriere begann Simsek als Berater in der amerikanischen Botschaft in Ankara. Nach Stationen bei der Schweizer Großbank UBS und Istanbuler Investmentfirma Bender, die von der Deutschen Bank aufgekauft wurde, wechselte er als Analyst zu Merrill Lynch nach London. (...) Die mögliche Berufung zum Wirtschaftsminister wird in der internationalen Finanzwelt positiv aufgenommen. ‚Simsek hat jahrelang für eine ausländische Bank gearbeitet, daher weiß er genau, was ausländische Investoren verlangen. Er wäre ein guter Botschafter für die türkische Wirtschaft im Ausland’, sagte Kerim Acanal, Anleihehändler von Lehman Brothers in London."

Neuer Industrieminister ist der bisherige Präsident der Industriekammer Ankara, Zafer Caglayan. Neuer Minister für Kultur und Tourismus wird ebenfalls ein Mann der alten Elite: Ertugrul Günay ist erst im Mai in die AKP eingetreten. Günays politische Herkunft ist eigentlich die kemalistische CHP, wo er bis zum Generalsekretär aufstieg, bevor er aus der Partei ausgeschlossen wurde.

Der Türkei stehen bewegte Zeiten bevor. Während die alte Elite und die "anatolische Bourgeoisie" um Macht und Einfluss kämpfen, wird die AKP-Regierung die Arbeiterklasse auch nach der Übernahme des Präsidentenamtes scharf angreifen, um sich das Vertrauen des internationalen Kapitals zu erhalten. Hierbei sind sich alle Fraktionen der türkischen Bourgeoisie einig.

Die Bereitschaft der AKP, den Machtansprüchen der Generäle entgegenzutreten, wird daher äußerst gering sein. Schon bisher war Erdogan im Ernstfall lieber einen Kompromiss mit den Militärs eingegangen, als eine Mobilisierung und Radikalisierung breiterer Schichten zu riskieren. Die politische Liberalisierung ging daher nie sehr weit.

Die wegen ihrer Brutalität und Korruption gefürchtete Polizei, der die Regierung kurz vor den Wahlen neue Vollmachten und Befugnisse eingeräumt hat, wird voraussichtlich weiter gestärkt werden. In seiner Antrittsrede trat Abdullah Gül ausdrücklich dafür ein. Er sprach nur sehr allgemein von der Freiheit und den Rechten des Einzelnen, wobei er insbesondere die Religionsfreiheit erwähnte, und legte ein ausdrückliches Bekenntnis zu Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk ab, sprach sich gegen den Terrorismus aus und lobte die Armee.

Die Krise der amerikanischen Besatzung im Irak löst zudem einen neuen Kampf zwischen den Regionalmächten um die Vorherrschaft im Mittleren Osten aus, in dem die türkische Bourgeoisie - ob "kemalistisch" oder "anatolisch" - auf keinen Fall hinter dem Iran und Saudi-Arabien zurückstehen will. Das wird das Militär unweigerlich wieder stärken.

1 "The TSK serves only those who are integrated with the principles and revolutions of Atatürk and who are loyal to the fundamental rules of the Republic."

Siehe auch:
Finanzmärkte begrüßen Sieg der AKP in türkischen Parlamentswahlen
(25. Juli 2007)
Armee greift immer offener in Politik ein
( 16. Juni 2007)
Der Machtkampf in der Türkei eskaliert
( 1. Mai 2007)
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