Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben

Urabstimmung: Wie weiter?

Seit bekannt wurde, wie schlecht der Tarif-Abschluss ist, den Verdi Anfang des Monats, nach fast acht Wochen Streik unterschrieben hat, wächst unter den BVG-Beschäftigten der Widerstand.

Viele haben bereits angekündigt, bei der Urabstimmung am kommenden Montag mit "Nein" zu stimmen. Gleichzeitig ist aber die Befürchtung weit verbreitet, dass Verdi die notwendigen 25 Prozent Ja-Stimmen bekommen wird und damit eine neue Runde von Verschlechterungen und Reallohnsenkung in Kraft tritt.

Verdi-Funktionäre versuchen auf Mitgliederversammlungen in den einzelnen Betriebshöfen, Depots und Abteilungen den Abschluss zu rechtfertigen und schönzureden. Doch alle Zahlenspiele können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die angebliche Einkommenssteigerung von durchschnittlich 4,6 Prozent eine üble Mogelpackung oder, genauer gesagt, eine gezielte Irreführung und Täuschung ist.

Die große Mehrheit der Altbeschäftigten mit langer Betriebszugehörigkeit bekommt nur 60 Euro mehr im Monat und zwar erst ab August. Bei einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen in diesem Bereich von 2.400 Euro sind das nur 2,5 Prozent. Rechnet man die 500 Euro Einmahlzahlung für die Monate Januar bis Juli hinzu, ergibt sich eine durchschnittliche Nominallohnerhöhung von etwa 2,7 Prozent für das laufende Jahr. Im nächsten Jahr kommt ab August noch mal ein Prozent hinzu - im Jahresdurchschnitt also etwa 0,4 Prozent, so dass für die Laufzeit von zwei Jahren eine jährliche Einkommenssteigerung von weniger als 1,6 Prozent vereinbart wurde.

Angesichts einer offiziellen Preissteigerungsrate von jährlich über drei Prozent bedeutet das drastische Reallohnsenkung. Gleichzeitig ermutigt die Kompromissbereitschaft von Verdi den Senat zu noch schärferen Angriffen. In Vorbereitung ist bereits der Abbau des so genannten Sicherungsbetrages, mit dem die Einkommensverluste der Langzeitbeschäftigten bisher teilweise ausgeglichen, beziehungsweise abgemildert wurden.

Die Kaltschnäuzigkeit, mit der Verdi-Funktionäre den Abschluss rechtfertigen und behaupten, mehr sei angesichts der Blockadehaltung des rot-roten Senats auch dann nicht drin, wenn der Streik fortgesetzt würde, führte bereits auf einigen Veranstaltungen zu erbosten Reaktionen der Mitglieder, die ihren Gewerkschaftsaustritt angekündigt haben. Doch auch hier hat Verdi vorgesorgt. Obwohl die Satzung nur eine dreimonatige Kündigungsfrist vorsieht, behaupten Verdi-Funktionäre, wer in Jahresfrist nach Inkrafttreten des neuen Tarifvertrags die Gewerkschaft verlasse, müsse die erhaltene Streikunterstützung in voller Höhe zurückzahlen.

Arbeiter sitzen regelrecht in der Falle. Während Verdi mit TVöD, TV-N und dem jetzigen Abschluss einen Lohnsenkungs-Vertrag nach dem anderen abschließt, halten die Funktionäre die Türe zu und lassen die Mitglieder nicht aus einer Organisation raus, die nachweislich als Agentur des Senats und der öffentlichen Arbeitgeber fungiert. Um Anspruch auf Streikgeld zu bekommen, sind einige Arbeiter Anfang des Jahres Verdi-Mitglied - oder Wieder-Mitglied - geworden, nachdem sie aus Protest gegen den TV-N ausgetreten waren, und müssen nun im Endeffekt mehr Mitgliedsbeitrag (ein Prozent des Brutto-Einkommens) bezahlen, als sie an Streikunterstützung bekommen haben.

Trotz der berechtigten Wut und Empörung vieler Arbeiter ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Die weit verbreitete Opposition gegen den Abschluss kann und muss in eine bewusste Bewegung verwandelt werden, die darauf abzielt, die gewerkschaftliche Zwangsjacke zu sprengen und daraus auszubrechen. Dazu ist es wichtig, die kommende Urabstimmung zum Ausgangspunkt zu machen, um den Verdi-Gremien auf allen Ebenen das Misstrauen auszusprechen. Es muss überprüft werden, wer die Kontrolle über die Auszählung der Stimmen ausübt, und es muss sichergestellt werden, dass Kollegen, die das uneingeschränkte Vertrauen der Beschäftigten genießen, die Abstimmung überwachen.

Auf außerordentlichen Mitarbeiterversammlungen in den Betriebshöfen, Werkstätten, Depots und BVG-Verwaltungen muss der Verdi-Tarifkommission und der Verhandlungskommission das Mandat entzogen werden. Dort wo derartige Versammlungen nicht möglich sind, sollten Unterschriften für eine Resolution gesammelt werden, die dasselbe Ziel vertritt. Gleichzeitig sollte aus den Reihen der Belegschaft eine neue zuverlässige Streikleitung gewählt werden, die den Arbeitskampf reorganisiert und die ursprüngliche Forderung nach mindestens 250 Euro mehr im Monat für alle ins Zentrum stellt.

Diese Forderung war Ende vergangenen Jahres nicht zufällig entstanden. Sie war darauf ausgerichtet die hohen finanziellen Verluste, die durch den TV-N seit drei Jahren bestehen, zumindest teilweise aufzufangen. Außerdem sollten damit die Niedriglöhne der Neueingestellten angehoben werden, die mit dem TV-N um 30 Prozent abgruppiert wurden.

Die Behauptung von Verdi, für die Durchsetzung dieser Forderung fehlten die finanziellen Mittel, denn die öffentlichen Kassen seien leer, stimmt nicht. Eine der ersten Amthandlungen des Senats bestand darin, die privaten Fonds-Besitzer und Anteilseigner der Bankgesellschaft durch eine Landesbürgschaft in Höhe von 21,6 Milliarden Euro finanziell abzusichern. Statt die Spekulationsgeschäfte der Reichen und Superreichen zu sichern, müssen diese Milliarden für soziale Programme im Interesse der Bevölkerung und für menschenwürdige Löhne und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten eingesetzt werden. Das aber erfordert einen politischen Kampf gegen die unsoziale Politik des Senats.

Eine neue Streikleitung muss daher von Anfang an enge Beziehungen zu allen anderen Beschäftigten im öffentlichen Dienst und auch in der Privatindustrie aufbauen, um gemeinsame Kampfmaßnahmen gegen den Senat vorzubereiten und durchzuführen. Es ist bekannt, dass gegenwärtig 60.000 Mitarbeiter der Berliner Behörden, der Senatsverwaltung, der Polizei und einiger anderer öffentlicher Einrichtungen eigene Streikaktivitäten vorbereiten, wobei auch hier Verdi alles versucht, um die Auseinandersetzungen auf symbolische Proteste zu beschränken und voneinander getrennt zu halten, um einen ernsthaften Kampf gegen den Senat zu verhindern.

Hinter der Kaltschnäuzigkeit und Arroganz, mit der Verdi-Funktionäre den bisherigen BVG-Streik ausverkauft und abgewürgt haben, verbirgt sich die Angst, der Streik der Verkehrsarbeiter könnte zum Ausgangspunkt für eine massive Widerstandsbewegung gegen den Wowereit-Sarrazin-Senat werden, der in der Berliner Bevölkerung zutiefst verhasst ist.

In den knapp sieben Jahren, seit der Senat aus SPD und Linkspartei an die Macht kam, setzte er ein aggressives Sparprogramm mit einer drastischen Sozialkürzung nach der anderen durch.

Bereits 2001 begann der Abbau von 15.000 Stellen im öffentlichen Dienst. Dann ging es Schlag auf Schlag weiter: Austritt aus dem kommunalen Arbeitgeberverband, um den geltenden Tarifvertrag zu umgehen und die Gehälter um zehn Prozent zu senken; 3.000 Stellenstreichungen und 10 Prozent Lohnsenkung bei den Berliner Verkehrsbetrieben; massive Gehalts- und Stellenkürzungen bei den Krankenhäusern; Einsatz von 34.000 Ein-Euro-Jobbern, die teilweise reguläre Arbeitsplätze ersetzen; drastische Erhöhung von Gebühren und Personalschlüssel bei Horten und Kitas; Streichung der Lehrmittelfreiheit und Abbau von Lehrkräften an den Schulen; Kürzung der Landeszuschüsse an die drei Universitäten um 75 Millionen Euro, was dem Wegfall von 10.000 Studienplätzen und über 200 Professorenstellen entspricht; Verkauf der städtischen Wohnungsbaugesellschaft GSW mit 65.000 Wohnungen an den US-Investor und Spekulanten Cerberus - das sind nur die wichtigsten Punkte in der langen Liste asozialer Maßnahmen, für die die rot-rote Koalition verantwortlich ist.

An allen Ecken und Enden regt sich Widerstand. Vor wenigen Wochen unterschrieben 40.000 Berliner Wahlberechtigte einen Antrag auf Volksbegehren gegen die Privatisierung der Berliner Wasserwerke. Der Senat weigert sich, die Geheimverträge bekannt zu machen, mit denen er privaten Energiekonzernen hohe Renditegarantien zugesichert und Bedingungen geschaffen hat, dass die Wasserpreise in Berlin um 40 Prozent höher liegen als in München oder Köln.

Die Stadt gleicht einem Pulverfass, in dem sich eine soziale Explosion zusammenbraut. Verdi bemüht sich krampfhaft, alle sozialen Konflikte voneinander isoliert zu halten und zu unterdrücken.

Der Widerstand gegen den Verdi-Ausverkauf bei der BVG muss folglich damit verbunden werden, den Streik aus den engen gewerkschaftlichen Grenzen zu lösen und zum Zentrum einer breiten Bewegung gegen den Senat zu machen. Das stellt politische Anforderungen und erfordert ein politisches Programm, das SPD und Linkspartei diametral entgegensteht.

Beide Senatsparteien, denen auch die Mehrheit der Verdi-Funktionäre angehört, sind Teil einer herrschenden Elite, die entschlossen ist, ihr kapitalistisches System auf Kosten der Bevölkerung zu retten. Der Kampf dagegen erfordert den Aufbau einer neuen Partei, die nicht um Almosen bettelt, sondern den Kapitalismus durch ein System ersetzt, in dem die Wirtschaft den Bedürfnissen der arbeitenden Bevölkerung dient und nicht den Profitinteressen einer Finanzoligarchie und der Habgier von Konzernchefs, Politikern und Gewerkschaftsbürokraten.

Das gilt auch dann, wenn Verdi 25 Prozent Ja-Stimmen erreicht und den bisherigen Streik abwürgt. Denn der Kampf gegen den Senat ist auch dann nicht zu Ende, sondern wird sich weiterentwickeln und verschärfen.

Wir fordern daher alle BVG-Arbeiter auf, mit der WSWS-Redaktion und der Partei für Soziale Gleichheit (PSG) Kontakt aufzunehmen.

Kommt zur heutigen Diskussions-Veranstaltung: Do. 15. Mai, 19:00 Uhr, Centre Français, Müllerstrasse 74, Berlin-Wedding.

Siehe auch:
Verdi unterschreibt Ausverkauf des Verkehrsarbeiterstreiks in Berlin - Stimmt in der Urabstimmung mit Nein!
(7. Mai 2008)
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