Die 58. Berlinale

Alarmsignale im zeitgenšssischen Film

Teil 1

Dies ist der erste in einer Serie von Artikeln über die 58. Berlinale, die vom 7. bis 17. Februar 2008 in Berlin stattfand. Weitere Berichte folgen in den nächsten Tagen

Das 58. Berliner Filmfestival endete Mitte Februar mit einer Auswahl an Filmen im Wettbewerb und in anderen Kategorien, die viele Kommentatoren (darunter auch ich) als größtenteils schwach und dürftig einschätzten. Nachdem es im letzten Jahr bei den deutschen Filmemachern eine ausgeprägte Hinwendung zu sozialen und historischen Fragen gegeben hatte, wurde die diesjährige Auswahl in der Sektion Perspektive Deutsches Kino von Filmen beherrscht, die sich mit psychologischen Themen und persönlichen Konflikten beschäftigten. Charakteristisch für diesen nach innen gerichteten Trend war der einzige deutsche Film im Wettbewerb Kirschblüten - Hanami. Der Film setzt sich mit dem Thema auseinander, wie ein älterer Mann, der mit dem Tod konfrontiert ist, das Loch in seinem Leben zu füllen versucht, das durch den plötzlichen Tod seiner Frau gerissen wurde.

Die Verleihung des Goldenen Bären an den brasilianischen Film Tropa de Elite (Die Eliteeinheit) durch die Jury der Berlinale war durchaus umstritten und wurde bei der Verkündung von einigen mit Buhrufen quittiert. Tropa de Elite schildert auf drastisch gewalttätige Weise das Eingreifen einer speziellen paramilitärischen Truppe in einem Vorort (Favela) von Rio im Jahr 1997 im Vorfeld eines geplanten Papstbesuchs. Die örtliche Polizei wird für zu korrupt gehalten, um mit den lokalen Drogenbanden fertig zu werden. Deshalb wird eine Sondereinheit der Polizei in das Viertel geschickt, um es in einer Orgie von Gewalt zu "säubern".

Der Erzähler der Geschichte des Films ist der Leiter der Spezialtruppe, Capitao Nascimento. Der Film verfolgt speziell den Werdegang von zwei Polizeirekruten, die neu dort anfangen und im Verlauf ihrer Ausbildung in der Eliteeinheit brutalisiert werden. Mitglieder der Truppe misshandeln und erniedrigen die neuen Rekruten physisch, um die Art von gehorsamen Psychopathen aus ihnen zu machen, die für die Arbeit der Eliteeinheit gebraucht werden. Nur eine Handvoll Rekruten überstehen die brutalen Aufnahmerituale in die Truppe, deren Wappen ein Schädel, durchbohrt von einem Militärdolch, darstellt. Die brasilianischen Eliteeinheiten, erklärt man uns, sind noch stärker ausgewählt und skrupelloser als die israelischen.

Der Film gibt vor, sozusagen dokumentarischen Stellenwert zu haben. Das Manuskript wurde in enger Zusammenarbeit mit einem Mitglied des brasilianischen BOPE-Korps (Spezial-Einsatzeinheit der Polizei) verfasst, die als Vorbild für Die Eliteeinheit diente.

Während ihres Einsatzes in der Favela, ist die Truppe darauf vorbereitet, alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen - ein Jugendlicher wird mit Erstickungsversuchen gefoltert und bedroht mit einem Besenstiel vergewaltigt zu werden. Wir sind Zeuge von blutigen Schießereien zwischen der Einheit und Gangs von Jugendlichen aus dem Viertel. Und in der Schlussszene wird der junge Jurastudent gezwungen, seinen Mut unter Beweis zu stellen, indem er kaltblütig ein wehrloses Opfer ermordet.

Der Film hinterlässt einen durch und durch üblen Nachgeschmack. Die Drogenbarone in den Favelas verdienen sicherlich keine Sympathie, aber es gibt auch keinerlei Bestreben, soziale Gründe für die Ausbreitung von Drogen und Verbrechen in den Vororten von Rio und vielen anderen brasilianischen Städten aufzuzeigen. Stattdessen wird der Zuschauer dazu animiert, indirekte Freude über die Art und Weise zu empfinden, in der diese Banden auf grausamste Weise durch die Spezialeinheit ausgelöscht werden. Gleichzeitig machen die Methoden, die die Einheit anwendet, klar, dass ihre Mitglieder weder die Gelegenheit noch Interesse daran haben, festzustellen, ob das Opfer in ihren Zielfernrohren unschuldig oder einer Straftat schuldig ist.

Wenn Kritik an seinem Film geäußert wird, dann will Regisseur Jose Padilho es beiden Seiten recht machen. Gegen die Anschuldigung, dass sein Film die Arbeit der Eliteeinheiten glorifiziert, verweist er auf die Abschnitte des Films, die die entmenschlichende Ausbildung der Einheit aufdecken und auf die Proteste führender brasilianischer Polizeioffiziere gegen die negative Darstellung ihrer Polizeieinheiten in diesem Film.

Es bleibt jedoch eine Tatsache, dass der Film in erster Linie den Standpunkt vertritt, dass man mit den extremen Formen von Gewaltverbrechen und sozialem Niedergang in den brasilianischen Städten nur durch starke, autoritäre Methoden fertig werden kann. Ein Teil des Problems, argumentiert der Film scheinbar, sind Hasch rauchende, pazifistische, kleinbürgerliche Jugendliche. Die üble Beschimpfung eines jungen Studenten durch einen Vollzugsbeamten, der ihn Abschaum nennt, "wie die Nutten, die Zuhälter, die Abtreiber ..." bleibt im ganzen Film unwidersprochen.

In Berlin bezeichnete Padilho seinen Film als "extrem politisch" und äußerte seine Freude über die Verleihung des Goldenen Bären durch den diesjährigen Präsidenten der Berliner Jury, Regisseur Constantin Costa-Gavras. Es bleibt ein Rätsel, warum ein Regisseur mit einer so bemerkenswerten Karriere wie Costa-Gavras gegen diese Entscheidung der Jury, deren Vorsitzender er war, nicht Einspruch erhoben hat. Costa-Gavras ist einer von Europas hervorragendsten politischen Regisseuren mit einer Reihe von Filmen, die ihm Ehre machen, darunter Das Geständnis (1970), Der unsichtbare Aufstand (1972) und Vermisst (1982).

Ein Interview mit Costa-Gavras mit dem Berliner Tagesspiegel während des Festivals verweist auf die politischen Umstände, die zu der Entscheidung geführt haben könnten, den Hauptpreis an Die Eliteeinheit zu vergeben. Seine Bemerkungen lassen eine erhebliche politische Desorientierung erkennen. Er bestätigt in diesem Interview, dass er nicht nur den französischen Präsidenten Nicholas Sarkozy vor kurzem auf einer Reise nach Algerien begleitet hat (in Zusammenhang mit Plänen für einen neuen Film), sondern dass er auch einige Hoffnungen auf den neuen französischen Präsidenten setzt.

In dem Tagesspiegel -Interview erklärt Costa-Gavras: "Ich habe in der Vergangenheit immer [François] Mitterrand, [Lionel] Jospin und schließlich Ségolène Royal (sämtlich Führer der Sozialistischen Partei) gewählt, aber jetzt ist Sarkozy Präsident, Frankreich ist schlecht dran und ich hoffe, dass er in seiner Amtszeit einige Probleme lösen kann."

Costa-Gavras’ Enttäuschung über die Führung der Sozialistischen Partei ist verständlich, aber seine Hoffnung, dass ein Rechter wie Sarkozy in Frankreich fortschrittliche Veränderungen bewirken werde, sind deplaziert und im besten Fall politisch naiv. Ähnlich den paramilitärischen Truppen in Die Eliteeinheit hegt Sarkozy seine eigenen Pläne, wie er mit widerspenstigen Jugendlichen umgehen will, und erklärte in einem berühmt gewordenen Satz während seiner Wahlkampagne im letzten Jahr, er beabsichtige "die Vororte mit einem Hochdruckreiniger zu säubern".

Erst vor ein paar Tagen rückten französische paramilitärische Einheiten während einer offensichtlich inszenierten Operation in großer Zahl in einen französischen Vorort ein, um Sarkozys Ruf als "starkem Mann" und Führer zu bekräftigen. Costa-Gavras’ unkritische Haltung gegenüber dem Film Die Eliteeinheit zusammen mit seinen vorsichtig geäußerten Hoffnungen in Sarkozy sind ein Zeichen für die gegenwärtige politische Verwirrung bei führenden Künstlern, die traditional mit der politischen Linken in Verbindung gebracht wurden.

Noch einmal zum Film There Will Be Blood

Während es Padilho in Berlin wichtig war den politischen Charakter seines Films zu betonen, hat der Gewinner des Silbernen Bären für das beste Drehbuch - Paul Thomas Anderson - bei jeder Gelegenheit abgestritten, dass sein Film There Will Be Blood irgendetwas mit Politik zu tun hat. Die Schwächen des Films sind in einer ausführlichen Kritik der WSWS behandelt worden (siehe There Will Be Blood: a promising subject, but terribly weak results). Aber es ist lohnenswert, noch einmal näher auf den Film einzugehen - speziell auf die Frage, warum ein derartiger Film einen solch positiven und sogar überschwänglichen Zuspruch in großen Teilen der Medien findet.

Dass Anderson jede politische Absicht bei der Produktion des Films leugnet ist nicht neu. In Deutschland jedoch bemühte er sich außerordentlich, diesen Punkt zu unterstreichen. Nur eine paar Zitate aus einem Interview, das er der Süddeutschen Zeitung gegeben hat: "Ich bin nicht dumm... Selbst die großen Themen, welche die beiden Männer repräsentieren, Öl und Religion, sind aus dem Bewusstsein verschwunden. Es geht nur um grundlegende menschliche Instinkte. Sie können sich nicht ausstehen. Das ist es, was zählt."

Der Journalist stellt daraufhin fest: "Ihr Film basiert auf dem Roman Petroleum, geschrieben von dem Sozialisten und Anarchisten Upton Sinclair. Sie haben jedoch den politischen Aspekt völlig aus ihrem Film ausgeschlossen."

Anderson antwortet: "Wir haben wirklich alles getan, was wir konnten, um keinen politischen Film zu machen."

Und später: "Politische Filme sind langweilig..."

Interessanterweise hat Andersons Leugnung von jeglichem politischen Inhalt in seinem Film die Zustimmung etlicher Kommentatoren bekommen, und sein Film erhielt in Berlin viel Applaus von den Kritikern.

Bezeichnenderweise pries die rechte Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung den Film mit überschwänglichen Worten und erklärte There Will Be Blood besitze die "Kraft und Macht des Alten Testaments". Der Kritiker der Zeitung zieht die Schlussfolgerung: "Anderson kritisiert keineswegs den Kapitalismus... Es geht um Öl, Gott und den Tod. Nicht um den Kapitalismus und die Religion... er handelt nicht von der Logik des Kapitalismus, sondern vielmehr von der Logik der Gefühle."

Man spürt hier einen tiefen Seufzer der Erleichterung auf Seiten des Kritikers, der eine bestimmte soziale Schicht vertritt, die sehr froh darüber ist, dass dieser Film die Beschäftigung mit derart sensiblen Fragen wie Öl und Religion in eine Art und Weise handhabt, dass der Bezug zur Gegenwart dieser Fragen völlig ausblendet wird. Das ist so, als ob die Ölpolitik und die Umtriebe der heutigen christlichen Fundamentalisten nichts mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität und dem amerikanischen politischen Leben zu tun hätten.

Nachdem einige Regisseure, darunter auch amerikanische, sich in begrenztem Maße direkt mit Fragen von aktueller gesellschaftlicher und politischer Bedeutung beschäftigt hatten - darunter auch mit Öl, Religion und dem Krieg im Irak - zieht Anderson jetzt die Bremse. Seht mal, erklärt er, so geht man mit diesen Fragen um und beruhigt sein Gewissen dabei etwas. Gleichzeitig macht man sich keine Gedanken über die zeitgenössische Bedeutung solcher Themen. Denn schließlich kann man das alles durch die Natur des Menschen erklären.

Padilho betont die politische Bedeutung seines Films, Anderson will sie in seinem Film unbedingt herunterspielen. Es sieht so aus, als seien ihre Filme durch Welten voneinander getrennt. In Wirklichkeit haben sie einen gemeinsamen Nenner - ihre menschenverachtende Sicht der Welt. There Will Be Blood endet mit sinnloser Gewalt. Die Hauptfigur, Plainview, hat sich an dem Priester gerächt, der ihn einst erniedrigt hat. Dennoch begeht er in einem Anfall von Wut eine grässliche Gewalttat. Dieselbe Mischung aus Hass und Selbsthass, die auf einer durch und durch pessimistischen Einschätzung der menschlichen Natur basiert, sind der Kern der wiederholten extremen Gewaltszenen in Die Eliteeinheit.

Das ganz normale Prozedere

Ein weiterer Hauptpreis in Berlin ging an einen Film, der sich mit einem sehr politischen und wichtigen Thema beschäftigt. Errol Morris gewann in Berlin den Preis für die beste Regie in dem Film Standard Operating Procedure, der sich mit der Misshandlung irakischer Gefangener im US-Gefängnis Abu Ghraib beschäftigt. Standard Operating Procedure ist ein wichtiger Film, der ein wichtiges Thema aufgreift. Morris versucht den Skandal zu rekonstruieren, der 2004 aufgedeckt wurde, als Fotos an die Öffentlichkeit kamen, die die Art von Folter und Erniedrigung zeigten, die US-Truppen gegen irakische Gefangene einsetzten.

Tausende Fotos und Videos, die zwischen dem 18. Oktober und 30. Dezember 2003 von US-Soldaten gemacht wurden, die in dem Gefängnis arbeiteten, zeigen Folterungen, darunter Gefangene, die gezwungen wurden, sexuelle Akte nachzustellen, den Einsatz von Militärhunden gegen Gefangene, Gefangene mit Kapuzen, Bilder von offensichtlich toten und geschlagenen Häftlingen und andere entsetzliche Bilder.

Nach einigen anfänglichen Berichten in den Medien, ließ die US-Presse das Thema Misshandlungen in Abu Ghraib zum großen Teil fallen. Es ehrt Morris, dass er jetzt die Diskussion über die brutalen und illegalen Methoden des US-Militärs im Irak wiederaufleben lässt.

Der Film beginnt mit einem Interview mit Janis Karpinski, dem US-Befehlshaber, der 2003 die Leitung von Abu Ghraib innehatte. Karpinski stellt klar heraus, dass die furchtbaren Bedingungen im Gefängnis und die Foltermethoden, die CIA-Beamte und US-Soldaten in Abu Ghraib anwandten, von höchster Ebene in Washington gebilligt wurden. Karpinski beschreibt einen Besuch des Verteidigungsministers Donald Rumsfeld in diesem Gefängnis zu Beginn des Krieges, aus dem hervorgeht, dass Rumsfeld umfassende Kenntnis von den brutalen Verhörmethoden in Abu Ghraib hatte und sie genehmigt hat.

Zu dieser Zeit war für die USA von höchster Priorität, den früheren Staatschef des Iraks, Saddam Hussein, zu fangen. Geheimdienstmitarbeiter wurden aufgefordert alle Formen der Einschüchterung zu benutzen, um Informationen über seinen Aufenthaltsort zu bekommen — dazu gehörte auch, irakische Kinder zu entführen, um ihre Eltern unter Druck zu setzen, damit sie Informationen preisgeben. Die brutalen Methoden, die der US-Geheimdienst und das Militär einsetzten waren keineswegs die Ausnahme, sondern einfach nur das "normale Propzedere".

Morris’ Film stützt sich in großem Umfang auf Originalbilder der Misshandlungen in Abu Ghraib, die er mit filmischen Nachstellungen bestimmter Folterszenen sowie mit Interviews mit Beteiligten verbindet. Unter den Interviewten ist die ehemalige Armeeangehörige Lynndie England, die für ihre Rolle bei den Misshandlungen in Abu Ghraib zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. England trat der Mannschaft von Abu Ghraib im Alter von 20 Jahren bei und war offensichtlich eine unreife und leicht beeinflussbare junge Frau. Sie macht deutlich, dass die Folterungen, an denen sie teilgenommen hat, schon ein fester Bestandteil der Abläufe in diesem Gefängnis waren, als sie dort ankam.

Eine Schwäche des Films ist das Fehlen einer zentralen Geschichte. Außerdem verwendet er zu viel Zeit auf die Rationalisierungen und Rechtfertigungen Englands und einer Reihe anderer Soldaten, die an den Misshandlungen beteiligt waren. Obwohl die "Befehlskette" für das normale Prozedere, das in Abu Ghraib befolgt wurde, genau nach verfolgt wurde — angefangen beim Außenminister Donald Rumsfeld bis zu Gen. Geoffrey Miller, Gen. Ricardo Sanchez und anderen — wurde kein hochrangiger Beamter bestraft. Stattdessen wurden neun niedrigrangige Militärreservisten, darunter England, zu Strafen verurteilt, die von der Entlassung aus der Armee bis zu Gefängnishaft reichen. Morris Film ist ein wichtiger Beitrag, um die Aufmerksamkeit wieder auf diesen schwerwiegenden Justizirrtum zu richten.

Siehe auch:
57. Berliner Filmfestspiele - Teil 3: Ein Aufhorchen im deutschen Film
(18. Mai 2007)
San Francisco International Film Festival 2006
( 7. Juni 2006)
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