Studie der Hand-Böckler-Stiftung beweist:

Aufschwung nur für Reiche

Ende Mai dieses Jahres stellte Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung vor, der auf Daten basiert, die bis zum Jahr 2006 erhoben wurden, und ein deutliches Ansteigen der Armut ausweist. Scholz behauptete damals, der im Jahr 2006 begonnene wirtschaftliche Aufschwung sei inzwischen bei allen Teilen der Bevölkerung angekommen. Eine Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, die sich auf Zahlen bis Ende März 2008 stützt, beweist nun das Gegenteil. Die Studie belegt, dass die Früchte des Aufschwungs ausschließlich in die Taschen der Kapitalbesitzer geflossen sind. Die Reallöhne der Beschäftigten hingegen sind gesunken.

Die Studie macht dafür mehrere Faktoren verantwortlich: die Verschiebung von Arbeitsplätzen von der Industrie zum Dienstleistungsbereich, die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer, die Deregulierung - sprich Privatisierung - der ehemals öffentlichen Großkonzerne (Telekom, Post, Energie, Bahn etc.), sowie die Gesetzgebung der rot-grünen Bundesregierung und der gegenwärtigen Großen Koalition

Die Studie ist nicht nur eine Anklage gegen diese Regierungen, sondern auch gegen die Gewerkschaften, die die Studie in Auftrag gegeben haben. Denn immer wieder weisen die Autoren - Dr. Camille Logeay und Dr. Rudolf Zwiener vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung - indirekt darauf hin, dass die Gewerkschaften einen nicht zu unterschätzenden Anteil an dieser Entwicklung haben.

So etwa, wenn sie erklären, dass sich der "Verzicht auf angemessene, an Inflationsziel und Produktivitätssteigerung orientierte Lohnsteigerungen" um der Schaffung neuer Arbeitsplätze willen, "nicht gelohnt" habe. Es waren ja vor allem die Gewerkschaften, die ihren Mitgliedern immer wieder die Mär von der Arbeitsplatzsicherung und -schaffung durch magere Lohnabschlüsse oder Lohnkürzungen gepredigt haben.

Und wenn die beiden IMK-Autoren die erzwungene Flexibilisierung der Arbeit bemängeln und darunter die "sehr niedrigen tariflichen Stundenlöhne, die Erhöhung der geregelten Arbeitszeit, die Ausweitung der Arbeitszeitkonten und die Zunahme der Öffnungsklauseln" verstehen, dann muss man hinzufügen: Unter all diesen Vereinbarungen stehen die Unterschriften der Gewerkschaften, ob öffentlicher Dienst, Telekom, Post, Bahn oder Privatindustrie.

Schaffung von Billiglohnarbeit als Hebel, die Löhne insgesamt zu drücken

Die Autoren belegen, dass die rot-grünen Arbeitsmarktreformen, die Hartz-Reformen, "gemessen an den Absichten insoweit erfolgreich gewesen sind, als sich die atypische Beschäftigung dynamisch entwickelt hat, insbesondere während der letzten Jahre". Mit "atypischer Beschäftigung" meinen die beiden Forscher die zahlreichen Formen von Billiglohnarbeit: Mini- und Midijobs, Ich-AGs, Ein-Euro- und Zeitarbeitjobs.

So hat sich der Anteil der schlecht bezahlten Zeitarbeiter an allen Beschäftigten zwischen 1994 und 2006 vervierfacht. Mitte 2007 arbeiteten nach offiziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit bereits 730.000 Menschen in Zeitarbeit.

Beim Anteil der befristet Beschäftigten gab es seit 2002 ebenfalls einen Anstieg von 12 auf 14,6 Prozent im Jahr 2007. Ihnen wird nicht nur eine mittel- bis langfristige Planung ihres Lebens unmöglich gemacht, sondern sie sind aufgrund ihrer ständigen Existenzangst durch drohende Arbeitslosigkeit auch leichter unter Druck zu setzen, was Löhne und Arbeitsbedingungen betrifft.

Der Anteil der Teilzeitarbeiter nahm ebenfalls stetig zu, von 13,4 Prozent 1999 auf 17,7 Prozent 2007. Diese Zahlen beziehen noch nicht die Beschäftigten in Mini- und Midi- sowie Ein-Euro-Jobs mit ein. Allein in Minijobs (bis 400 Euro im Monat, Midi-Jobs bis 800 Euro im Monat) arbeiten inzwischen fast 5 Millionen Menschen. Weitere Millionen arbeiten in den anderen Niedriglohnbereichen.

Da die Unternehmen für diese Niedriglohnjobs zusätzlich reduzierte Sozialversicherungspauschalen zahlen, "kann angenommen werden, das die Beitragsreduzierungen letztendlich den Arbeitgebern in Form von niedrigen Bruttolöhnen zugute kamen".

Auch die bei ihrer Einführung viel gepriesene Möglichkeit, staatliche Sozialleistungen zusätzlich zum Erwerbseinkommen zu beziehen (so genannte "Aufstocker"), wenn der Lohn nicht zum Leben reicht, "geben den Unternehmen faktisch uneingeschränkte Gelegenheiten, die Löhne auf Kosten der Steuerzahler nach unten zu drücken". Davon machen diese zunehmend Gebrauch. Im Januar 2008 bezogen über 1,2 Millionen arbeitende Menschen aufstockende Sozialleistungen.

Lohndumping

Der durch die Hartz-Reformen geschaffene Lohndruck hat tief greifende Veränderungen des deutschen Arbeitsmarktes geschaffen. "Mit dem Lohndruck nach unten öffnet sich auch die Lohnschere immer weiter." Dass dies für die letzten Jahre zutrifft, sei "ausreichend belegt".

Erst kurz zuvor hatte eine Studie des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen nachgewiesen, dass die wachsende Zahl der Niedriglohnbeschäftigten in den letzten elf Jahren fast 14 Prozent an Realeinkommen verlor. Seit 2000 sanken sogar die Nominallöhne. 2006 bezogen Niedriglohnbezieher 4,8 Prozent weniger Stundenlohn als sechs Jahre zuvor. In den oberen Einkommensgruppen legten laut IAQ-Studie die Löhne dagegen im gleichen Zeitraum nominal über 10 Prozent zu.

Die IMK-Forscher Logeay und Zwiener nahmen sich neueste Zahlen vor. Sie wollten überprüfen, ob die Behauptung der Bundesregierung, dass der wirtschaftliche Aufschwung "bei allen ankommt", stimmt, oder ob das "Gefühl" großer Bevölkerungsteile, dass sie nicht vom Aufschwung profitieren, der Realität entspricht. Wie zu erwarten, trügt das Gefühl der Bevölkerung nicht.

Im betrachteten Aufschwungzyklus von Ende 2004 bis Anfang 2008 sanken die Nettoreallöhne je Arbeitnehmer um 3,5 Prozent. Nach Auskunft des Bundesfinanzministeriums sank das reale Nettoeinkommen eines Ein-Personen-Haushalts in den vergangenen drei Jahren um 2,6 Prozent, das Einkommen eines Vier-Personen-Haushalts mit Alleinverdiener um 3,5 Prozent.

Um der Frage nachzugehen, ob die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts und die Lohnzurückhaltung seitens der Gewerkschaften überdurchschnittlich zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen haben, vergleichen die beiden IMK-Wissenschaftler den Aufschwung von Mitte 1998 bis Anfang 2001 und den aktuellen Aufschwung von Ende 2004 bis Anfang 2008. Die Vergleichbarkeit sei hoch, da in beiden Wirtschaftszyklen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 7,5 Prozent wuchs. Beim Vergleich der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung aber "zeigen sich insgesamt keine positiven Wirkungen der Arbeitsmarktreformen", resümieren die beiden Autoren der Studie. Beschäftigungszuwachs und Abgang aus Arbeitslosigkeit in Beschäftigung seien in etwa gleich, also nicht mit den Arbeitsmarktreformen (Hartz I bis IV) zu erklären.

Im vorherigen Zyklus war der private Konsum um den gleichen Prozentwert wie das BIP, um 7,5 Prozent gewachsen. Im aktuellen Aufschwung stagnierte er im gesamten Zeitraum und nahm weniger als 1 Prozent zu.

Verantwortlich dafür sei vor allem "die Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte im Januar 2007". Die von der Hans-Böckler-Stiftung bezahlten Wissenschaftler vergessen zu erwähnen, dass die Mehrwertsteuererhöhung vom damaligen SPD-Sozialminister Franz Müntefering gegen alle Wahlversprechen vehement gefordert und schließlich durchgesetzt wurde.

Doch noch weitere Gründe haben dazu geführt, dass das real verfügbare Einkommen aller privaten Haushalte trotz eines leichten Beschäftigungsanstiegs von 3,3 Prozent im betrachteten Zeitraum von Ende 2004 bis Anfang 2008 leicht gesunken ist, während es im letzten Aufschwung um über 8 Prozent stieg. Neben der Mehrwertsteuererhöhung trugen die niedrigen Lohnabschlüsse (der Gewerkschaften) ihren Teil dazu bei.

Für die Empfänger von staatlicher Unterstützung waren die Folgen der Gesetzgebung noch gravierender. Die realen Sozialtransfers an die privaten Haushalte sind im derzeitigen Aufschwung um 6 Prozent zurückgegangen, im vorigen waren sie noch um 4 Prozent gewachsen. Dahinter verbergen sich die Nullrunden bei den Renten, aber auch die seit langem nicht erhöhten Beiträge bei Kindergeld, Bafög und anderen staatlichen Leistungen.

"Stetig steigender Strom an Einnahmen für Kapitalbesitzer"

Während die arbeitende Bevölkerung durch steigende Ausgaben und fallende oder stagnierende Löhne und Sozialleistungen geschröpft wurde, "konnten sich Unternehmer, Selbständige, Aktienbesitzer und andere Kapitaleigner über einen stetig steigenden Strom an Einnahmen freuen", heißt es in der Studie weiter. Allein die real "entnommenen" Gewinne und Vermögenseinkommen wuchsen um 10 Prozent. Die Gewinne und Vermögenseinkommen (z. B. aus Aktienkapital) stiegen sogar um 25 Prozent. Zum Vergleich: Im vorherigen Wirtschaftsaufschwung wuchsen sie nur um 5 Prozent, weniger als die Zunahme der Einkommen der privaten Haushalte.

Entsprechend sank der Anteil der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen. Die so genannte Lohnquote sank von etwa 71 Prozent im Zyklus von 1998 bis 2001 auf nunmehr 64 Prozent.

Die Autoren konstatieren im derzeitigen Aufschwung "eine neue Qualität eines Konjunkturaufschwungs". So etwas habe es früher nicht gegeben: "Die wirtschaftliche Leistung wächst deutlich, doch bei der Mehrzahl der privaten Haushalte kommt davon überhaupt nichts an."

Sie schließen: "Die Fakten und Analysen dieses Beitrags wie auch die anderer Studien sind eindeutig: Es ist nicht nur ein mehrheitliches Gefühl der Bevölkerung, dass sie vom Aufschwung nicht profitiert. Es ist Realität."

Trotz eines gut dreijährigen Konjunkturaufschwungs sei die reale Einkommenssituation vieler Haushalte heute schlechter als zuvor. Und dank der Reformen der letzten beiden Bundesregierungen müssten sie heute auch mehr privat für das Alter und andere Lebensrisiken vorsorgen. "Wer also hat vom Aufschwung profitiert? Nicht die Masse der Arbeitnehmer und nicht die Transfereinkommensbezieher. Wohl aber die Unternehmensvorstände, die Vermögensbesitzer und viele Selbstständige."

Dem ist nur hinzuzufügen, dass dies nicht das Ergebnis eines "zügellosen Kapitalismus" ist, wie dies stellvertretend für viele die Frankfurter Rundschau formulierte, sondern das Ergebnis der Politik der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (1998 bis 2005), der Großen Koalition aus SPD und CDU/CSU unter Angela Merkel (seit 2005) sowie der Lohn- und Tarifpolitik der Gewerkschaften.

Siehe auch:
Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung - Schere zwischen Arm und Reich erneut gewachsen
(23. Mai 2008)
Managergehälter und Mindestlohn
(19. Dezember 2007)
Das Resultat langjähriger Gewerkschaftspolitik: Arbeiterlöhne sinken Managergehälter steigen
(13. April 2007)
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