Buchbesprechung:

"Schläge im Namen des Herrn"

"Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik" von Peter Wensierski, erschienen in der Deutschen Verlags-Anstalt, München, 207 Seiten

Seit einigen Jahren erst werden die grauenvollen Zustände in den Kinder- und Erziehungsheimen der frühen Bundesrepublik in der Öffentlichkeit diskutiert. Viele Betroffene haben erst spät den Mut gefunden, über ihre Misshandlungen zu sprechen. Kirchen und staatliche Einrichtungen der Jugendhilfe haben lange gezögert und sich erst unter dem Druck der öffentlichen Debatte bereiterklärt, ihre Archive zu öffnen und historische Studien zu dem Thema in Auftrag zu geben. Das Buch von Peter Wensierski hat viel dazu beigetragen, um diesen Prozess in Gang zu bringen.

An diese Zustände zu erinnern, ist heute nicht nur notwendig, um für die Betroffenen endlich einen Anspruch auf Entschädigung und Rehabilitation durchzusetzen, sondern auch im Hinblick auf die Aktuelle Debatte über die Neueinrichtung geschlossener Heime oder Bootcamps für "kriminelle" Kinder und Jugendliche.

Der seit 1993 im Deutschland-Ressort des Spiegel arbeitende Journalist Peter Wensierski beschäftigt sich in seinem Buch mit dieser so lange verdrängten Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik.

Schläge im Namen des Herrn zeigt ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte. Es spielte sich nicht etwa während der Nazidiktatur ab, sondern in der angeblichen Musterdemokratie, der Bundesrepublik Deutschland, in den fünfziger, sechziger und sogar noch den siebziger Jahren. Kinder, die auffällig waren, traumatisiert durch Kriegs- und Nachkriegszeit, deren Mütter und Väter mit der Erziehung überlastet waren, wurden kurzerhand ins Heim gesteckt und so zu Verlierern des so genannten deutschen Wirtschaftswunders.

Unter heute unvorstellbaren Bedingungen wurden diese Kinder und Jugendlichen im Abseits der Gesellschaft jahrelang gedemütigt, zur Strafe eingesperrt, geschlagen und durch Zwangsarbeit ausgebeutet. Ihre Heimeinweisung geschah angeblich "zum Schutz vor Verwahrlosung" und manchmal nur deshalb, weil sie nicht der damaligen Moralvorstellung ihrer Erziehungsberechtigten oder der amtlichen Vormünde entsprachen.

Stellt man die Frage, wie das Geschehene überhaupt möglich war, so kommt man nicht umhin, an die Kriegsleiden und das sich in Agonie befindende Deutsche Reich zu erinnern.

Kriegs- und Nachkriegszeit mit Bomben, Flucht, Vertreibung, Hunger und dem Verlust von Angehörigen waren Hinterlassenschaften, die eine ganze Generation zu tragen und zu verkraften hatte. In erster Linie waren es Kinder, die als schwächstes Glied der Gesellschaft besonders betroffen und mit überlebten autoritären Strukturen im Sinne von "Zucht und Ordnung" konfrontiert waren.

Peter Brosch, der selber 18 Jahre lang in Fürsorgeerziehung verbracht hat, schrieb in seinem Buch "Fürsorgeerziehung, Heimterror und Gegenwehr" über "abweichendes Verhalten" in den sechziger Jahren Folgendes: "Allgemeine Verhaltensstörungen sind bei ca. 1,7 Millionen Kindern zu finden, das sind acht Prozent aller unter 25-Jährigen in der Bundesrepublik. Die meisten davon sind lern-, körper- oder sprachbehindert; zwei Prozent, also ca. 400.000, gelten als ‚schwer erziehbar’. Über 800.000 Kinder stehen unter Vormundschaft, 67 Prozent davon haben einen Amtsvormund. Über 520.000 leben in Pflegeaufsicht, davon 94.000 (18 Prozent) als Pflegekinder in fremden Familien." (S. 30/31)

"Die Jugendgerichtshilfe bearbeitet pro Jahr ca. 225.000 Fälle. Für 120.000 Delikte, die von Kindern und Jugendlichen begangen worden sind, sind Strafen ausgesprochen worden. 9.000 Kinder und Jugendliche sitzen im Jugendknast." (S. 31)

Stellvertretend für viele ehemalige Heimkinder wird Gerald Hartford in Wensierskis Buch zitiert, der im Leben wenig Aufmerksamkeit bekam und rein zufällig auf dem Bildschirm seines Fernsehers den ehemaligen "Peiniger seiner Jugendjahre" - Pater Vincens - wieder erkannte. Dieser, mittlerweile "regionaler Medienstar, der am liebsten in Talkshows sitzt," (S. 37)1und seit 30 Jahren als Salvatorianerpriester im Berliner Knast Tegel "schwere Jungs" betreut, will beim Besuch Hartfords nur zögerlich zugeben, vor seiner Berliner Zeit in einem Erziehungsheim gearbeitet zu haben. Auf die Frage, ob er sich an das Einsperren Hartfords erinnere, räumt der Mönch schließlich ein, dass er schon mal gelegentlich Störenfriede in einen "Besinnungsraum" gesteckt habe.

"Besinnungsraum? Oder Bunker? Gerald Hartford erinnerte sein Gegenüber daran, dass er wochenlang in dieser Zelle, auf einer Holzpritsche ohne Matratze, in der Ecke ein Eimer für die Notdurft, zubringen musste. Der Jugendliche hatte vergeblich versucht, dem Arbeitszwang, den ständigen Schlägen und Demütigungen der Salvatorianerbrüder durch Flucht zu entkommen. Er will endlich über diese Zeit mit den Verantwortlichen sprechen. Er hofft auf eine kleine Geste der Entschuldigung." (S. 38) Jedoch umsonst! Pater Vincens betonte: Das habe er nicht zu verantworten gehabt, beendete das Gespräch und forderte Hartford auf, das Grundstück zu verlassen.

Hartford hatte sich bereits vor dieser schmerzhaften Erinnerung zum ersten Mal seit 33 Jahren in sein ehemaliges Kinderheim im westfälischen Örtchen Hövelhof hineingetraut und tatsächlich die Möglichkeit gehabt, im Archiv zu wühlen. Auf einem dort gefundenen Beobachtungsbogen in vergilbter Schrift erfuhr er den Grund seiner damaligen Heimeinweisung. Arbeitsbummelei, war da zu lesen. Ein Gutachten seines ehemaligen Lehrers sagte etwas Anderes aus: "Wenn Gerald nun in ein gutes Milieuumfeld hineinkommt, hat er alle Chancen, ein gutes und erfolgreiches Leben zu führen." (S. 39)

Der Heimleiter, der unvorsichtigerweise den Zugang zum Archiv gestattet hatte, verlangte dann von Hartford einen "ordentlichen" Antrag auf Akteneinsicht für weiteres Einsehen und wurde am nächsten Tag vom Hausjuristen der Caritas in Paderborn dafür gerüffelt. "Die Einsicht in die Akte ‚hätte nicht geschehen dürfen’, sagte der Kirchenadvokat, ‚es könnte ja Negatives für die Erzieher drinstehen’." (S. 39) Die Herausgabe der Papiere wurde Herrn Hartford einige Tage später verweigert, und es begann für ihn eine lange Zeit im Kampf um seine Akte.

So ähnlich wird es Tausenden von Gleichaltrigen aus den Gründerjahren der Bundesrepublik ergehen oder ergangen sein, wenn sie sich auf diesen Weg der Vergangenheit begeben oder begeben haben. Davon zeugen auch zahlreiche Diskussionsforen und Webseiten im Internet. Damals "trimmten staatliche, katholische wie evangelische Erzieher Kinder und Jugendliche in rund 3000 Heimen mit mehr als 200.000 Plätzen". (S. 39) Sie wurden erst, wenn sie das 21. Lebensjahr erreicht hatten, in die Gesellschaft entlassen und verbrachten so ihre Kindheit und Jugend in von Mauern mit Stacheldraht und Glasscherben versehenen, oft hermetisch abgeschlossenen Häusern.

Gisela Nurthen wurde 1961 von einem Richter als 15-Jährige in ein geschlossenes Heim der Vincentinerinnen in Dortmund eingewiesen, "weil sonst weitere Verwahrlosung droht" (S. 20). Ihre "Verfehlungen" waren, dass sie unehelich geboren und ihre Mutter alleinerziehend war, dass sie gerne enge Nietenhosen trug, Musik von Elvis Presley hörte, mit Jungen auf Mopeds in der Gegend herumfuhr und schließlich ohne Erlaubnis einen Tanzabend besuchte. Auch noch im Heim brachte ihr das Singen eines Elvis-Songs einen Tag Aufenthalt im Karzer, der so genannten "Klabause", bei Wasser und Brot ein.

Besonders brutal war die Behandlung der Kinder und Jugendlichen im Kalmenhof in Idstein, einem Heim des Landeswohlfahrtsverbandes Kassel, in dem in der NS-Zeit massenweise Kinder umgebracht worden waren. "Nach 1945 machten die Erzieher weiter, als sei nichts geschehen" (S. 121). Erst in den sechziger Jahren, als eine junge Psychologin im Kalmenhof ihre Arbeit aufnahm, und dann noch später die Heimleitung ausgewechselt wurde, war man entsetzt über die "autoritären und demagogischen Praktiken" (S. 141), denn die Prügelstrafe war immer noch Bestandteil des Erziehungssystems. Die meisten "Erzieher", so der neue Nachfolger im Amt, "waren ohne entsprechende Qualifikation auf die Kinder losgelassen worden. Von 90 Angestellten im Gruppendienst hatten nur vier eine pädagogische Ausbildung." (S. 141)

Dieses sind lediglich einige Schilderungen von damaligen, mittlerweile überlebten autoritären Strukturen, die massenhafte Ausgrenzungen von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsanstalten nach sich zogen. Damals jedoch war es gang und gäbe, dass Jugendbehörden, Gerichte, Eltern, Lehrer und vor allem die sehr einflussreichen Kirchen "Störenfriede" in Heime abschoben. Vom Wirtschaftsaufschwung dieser Jahre bekamen die Betroffenen nichts mit.

Der Spiegeljournalist Wensierski schlägt sich mit seinem Buch auf die Seite der Opfer der damaligen Zeit und erklärt, dass dies ein Buch über Menschenrechtsverletzungen in Westdeutschland ist. Er betont im Weiteren: "Wer bisher geglaubt hat, nur im Osten, in der DDR, seien Menschen gequält, misshandelt, gedemütigt, erniedrigt und ihrer Chancen beraubt worden, der kann aus den Opferberichten dieses Buches lernen, dass der Westen so viel besser auch nicht mit jenen umgesprungen ist, die sich der verordneten gesellschaftlichen Norm nicht fügen mochten." (S. 10)

Wie scheinheilig in der damaligen Zeit gedacht und gehandelt wurde, geht aus einer Tagung im Jahr 1959 zum Thema "Katholische Heimerziehung in unserer Zeit" hervor. Damals "begrüßte Monsignore Alois Hennerfeind, ein Münchner Heimdirektor, die Teilnehmer mit dem Hinweis, dass nach einer Statistik des Deutschen Caritasverbandes 11.261 katholische Ordensfrauen und 11.127 katholische Laien in den Heimen ‚aus innerer Berufung und mit der ganzen seelischen Hingabe der erziehungsbedürftigen Jugend dienen wollen’. Der Prälat stolz: ‚Welch unendlicher Wert an Liebe ist in den 22.400 Personen dargestellt, die in unseren 1.500 Heimen Tag für Tag erzieherisch wirken!’" (S. 41)

Die gesellschaftlichen Produkte dieses verachtenswerten Umgangs mit Schutzbefohlenen bezeichnen sich durch ihre langjährige Erfahrung der Unterdrückung mitunter selbst als "Abschaum der menschlichen Gesellschaft". "Die damals gemachten Erfahrungen bestimmten nachhaltig Selbstbild und Lebenseinstellung Tausender. Sie blieben für immer seelisch verletzt" (S. 71) und in der psychosozialen Lebensqualität eingeschränkt. "Viele verloren später den Halt und rutschten an den Rand der Gesellschaft ab." (S. 71)

Fragt man heute nach den Verantwortlichen der damaligen Zeit, so ist festzustellen, dass in erster Linie die Institution Heim von Reformen profitierte, während das Leid von Abertausenden jungen Menschen im Schatten blieb.

Die Zustände in den Heimen griff auch die Journalistin und spätere RAF-Angehörige Ulrike Meinhof auf und schilderte sie 1970 in ihrem Film Bambule. Sie begriff die Heime als Parabel auf die Gesellschaft der Bundesrepublik und ihren gleichnamigen Film als Appell zum verschärften Klassenkampf.

Die schlimmsten Pädagogikvorstellungen der Nazi-Zeit wurden vor allem von 1945 bis etwa 1970 in der kasernierten Fürsorgeerziehung nahezu ungebrochen fortgesetzt. Erst die heute wenig bekannten "Heim-Kampagnen" der späteren RAF-Gruppe Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und deren Mitstreiter lösten einige der entscheidenden Anstöße für Reformen in der Heimerziehung aus.

Von den ehemals 3000 Heimen sind einige Hundert übrig geblieben, die so gut wie nichts mehr mit den Erziehungsanstalten der damaligen Zeit zu tun haben, und mancher Heimleiter fürchtet um den Ruf seines Hauses, falls die Vergangenheit seiner Einrichtung ans Licht der Öffentlichkeit kommt. Akten oder sonstige Unterlagen der damaligen Zeit wurden fast gänzlich vernichtet oder werden "hinter den Mauern der ‚Mutterhäuser’ und Ordenszentralen strenger gehütet als der Heilige Gral" (S. 77).

Die Kirchen drückten sich fast gänzlich vor dem Eingestehen ihrer Schuld und formulieren nur sehr gewunden Eingeständnisse. Betroffene haben den "Verein ehemaliger Heimkinder e.V." gegründet und sich an die obersten Kirchenvertreter gewandt. Ihre Bemühungen blieben jedoch weitgehend ergebnislos.

Für die Betroffenen sind die "verlorenen Jahre" heute nicht nur psychisch, sondern auch finanziell ein Debakel. Die Zeiten fehlen ihnen bei der Rente, und die Frage nach Wiedergutmachung für Arbeit und Misshandlungen, etwa nach dem "Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten", (dieses Gesetz beinhaltet eine Einstandspflicht des Staates für unschuldige Opfer von vorsätzlichen, rechtswidrigen Gewalttaten) scheint einstweilen noch in weite Ferne gerückt zu sein.

Erst im Dezember 2008 fasste der Bundestag einen Beschluss zur Aufarbeitung und Wiedergutmachung des lange verdrängten Unrechts an Tausenden von Heimkindern und forderte einen nationalen Runden Tisch, der auf Anweisung der Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) zur Makulatur zu werden droht. Dieser nationale Runde Tisch soll nach von der Leyen nur in abgespeckter Form arbeiten. Das Familienministerium schreibt ihm lediglich eine "Erörterungs- und Abklärungsfunktion zu". Das Gremium soll eine dürftig ausgestattete Geschäftsstelle bekommen. Eine geplante Beratungsstelle wie eine Hotline für ehemalige Heimkinder ist nicht mehr vorgesehen, und einen Fonds zur finanziellen Entschädigung lehnt das Ministerium strikt ab.

Diese Behandlung wirft ein Licht auf die Debatte, wie heute mit jungen "Störenfrieden" der Gesellschaft umzugehen ist: Polizei und Politiker fordern erneut geschlossene "harte" Heime und Erziehungscamps.

Die Zahl der auffällig werdenden Kinder und Jugendlichen nimmt aufgrund der wachsenden sozialen Krise zu. Damals wie heute rekrutiert sie sich aus den ärmsten Schichten der Bevölkerung. Und es sind wiederum sie, die arbeitslos sind oder mit gering bezahlter Arbeit abgespeist werden.

1"Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik" von Peter Wensierski. Die folgenden Seitenzahlen im Text geben Zitate aus diesem Buch an.

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