Die Angst vor der nächsten Finanzkrise

In den führenden politischen Kreisen Deutschlands wächst die Angst vor einer zweiten internationalen Finanzkrise, die jene vom Herbst 2007 an Intensität und Wirkung noch übertrifft.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) warnten am Wochenende, dass die Wirtschaftskrise noch lange nicht vorbei sei. "Es ist uns zunächst zwar gelungen, die Auswirkungen der Krise auf die Menschen zu begrenzen, aber das Schwierigste steht noch bevor", sagte Merkel auf einer CDU-Veranstaltung.

Schäuble verglich die gegenwärtige Finanzkrise mit dem Mauerfall vor zwanzig Jahren. "Die Finanzkrise wird die Welt so stark verändern wie der Fall der Mauer. Die Gewichte zwischen Amerika, Asien und Europa verschieben sich dramatisch", sagte er der Bild am Sonntag. Er appellierte an die Banker, bei Bonus-Zahlungen Zurückhaltung zu üben, und warnte: "Das Gefühl, dass es in der Welt gerecht zugeht, darf nicht immer schwächer werden."

Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank, fürchtet sogar einen gesellschaftlichen Kollaps, falls es zu einer neuen Runde von Bankenzusammenbrüchen komme. "Es ist sicherlich zu früh, die Krise für beendet zu erklären", erklärte er auf einem Europäischen Bankenkongress in Frankfurt und fügte warnend hinzu: "Unsere Demokratien werden eine so umfangreiche Unterstützung des Finanzsektors mit dem Geld des Steuerzahlers nicht zweimal akzeptieren."

Als größte Gefahrenquelle für einen neuerlichen Crash gilt die gewaltige Spekulationsblase, die sich in den vergangenen acht Monaten an den Börsen gebildet hat. Die wichtigsten Aktienindizes - Dow Jones, Nikkei und Dax - sind seit März um jeweils 50 bis 60 Prozent gestiegen. Auch die Preise für Rohöl, Kupfer und andere Rohstoffe haben sich mehr als verdoppelt. Diesem gewaltigen Anstieg liegt kein entsprechendes Wirtschaftswachstum zugrunde. Im Gegenteil, die Wirtschaftsleistung ist in vielen Ländern um fünf Prozent gesunken und zahlreiche Konzerne schreiben nach wie vor rote Zahlen.

Der Kursanstieg geht ausschließlich auf die gewaltigen Liquiditätsmengen zurück, die Regierungen und Notenbanken in die Wirtschaft gepumpt haben. Die Finanzinstitute können sich praktisch zum Nulltarif unbeschränkte Geldsummen von den Notenbanken leihen und damit hohe Spekulationsgewinne erzielen. Auch die Billionen an Steuergeldern, die zur Ankurbelung der Konjunktur ausgegeben wurden, fließen nicht in Investitionen, sondern in Spekulationsgeschäfte, hohe Gewinnausschüttungen an Aktionäre und exorbitante Bonuszahlungen für Banker.

"Die Kurse steigen, weil das viele Geld irgendwohin muss - nicht, weil Aktien per se attraktiv bewertet wären", schreibt die Wirtschaftswoche in einer Analyse des aktuellen Börsenbooms. Laut Angaben des Magazins hat das Kurs-Gewinn-Verhältnis, das den Aktienkurs ins Verhältnis zum Jahresgewinn des jeweiligen Unternehmens setzt, mit 133 einen historischen Höchstwert erreicht. Ab 14 gelten Aktien als überteuert. Die 500 größten börsennotierten US- Unternehmen werden damit fast zum Zehnfachen ihres realen Werts gehandelt.

Während als Folge der Krise allein in den USA weiterhin jeden Monat 300.000 Beschäftigte ihren Arbeitsplatz verlieren, Arbeiter zum Lohnverzicht gezwungen und Sozialleistungen in großem Stil abgebaut werden, übertrifft die Bereicherungsorgie an der Spitze der Gesellschaft bereits wieder das Niveau, das sie vor der Krise erreicht hatte.

So werden die großen Investmentbanken und Hedgefonds in diesem Jahr über 100 Milliarden Dollar an Boni an ihre Mitarbeiter auszahlen. Allein die US-Bank Goldman Sachs hat zu diesem Zweck 17 Milliarden Dollar zurückgestellt. In Deutschland wollen die 30 größten, im Dax gelisteten Unternehmen im Frühjahr 2010 über 20 Milliarden Euro an ihre Aktionäre überweisen. Das sind 71 Prozent ihrer Nettogewinne. Im bisherigen Rekordjahr 2007 waren es nur 45 Prozent. Für neue Investitionen wird entsprechend wenig übrig bleiben.

Dies ist der Hintergrund der Warnungen von Merkel, Schäuble und Trichet. Sie befürchten, dass die schamlose Bereicherung der Finanzoligarchie in Verbindung mit einer neuerlichen Krise an den Finanzmärkten eine unkontrollierbare gesellschaftliche Rebellion auslöst.

Viele Experten halten einen baldigen Finanzkrach für unausweichlich. Der Spiegel erschien am Montag mit der spektakulär aufgemachten Schlagzeile "Die Billionenbombe". Der dazugehörige zwölfseitige Artikel beginnt mit der Feststellung, die Frage sei nicht ob, sondern wann die derzeitige Spekulationsblase platze.

Es folgt ein vernichtendes Bild des Zustands der kapitalistischen Gesellschaft. "Inmitten einer noch immer kriselnden Weltwirtschaft scheffelt die Finanzelite erneut Milliarden", heißt es in dem Artikel. "Die alte Gier ist wieder da und die alte Hybris auch." Nie zuvor in der modernen Wirtschaftsgeschichte habe "die Finanzindustrie einen derart ungehinderten Zugriff auf die Staatsfinanzen" gehabt. Der Spiegel warnt ausdrücklich vor dem "Risiko einer Hyperinflation - einer rasend schnell fortschreitenden Geldentwertung, wie sie Deutschland Anfang der zwanziger Jahre erlebt hat".

Gleichzeitig weist er, unter Berufung auf den Chef der britischen Finanzaufsicht Adair Turner, auf die ideologischen Auswirkungen der Krise hin. Es handle sich nicht nur um eine Krise einzelner Banken, sondern auch um eine Krise des "intellektuellen Denkens": "Unsere Vorstellung, dass Preise wichtige Informationen transportieren, dass Märkte sich rational verhalten und sich im Fall von Irrationalität selbst korrigieren, all das ist in Frage gestellt." Mit anderen Worten, Kapitalismus und Marktwirtschaft sind gründlich diskreditiert.

Sein Hauptfeuer richtet der Spiegel gegen die amerikanische Regierung. "Die Finanzindustrie in den USA wird von der Finanzindustrie regiert, nicht vom Finanzminister", beklagt er und zählt zahlreiche Karrieren auf, die von den Chefetagen von Banken wie Goldman Sachs in die Chefetagen des Finanzministeriums oder ins engste Umfeld Präsident Obamas und wieder zurück geführt haben. "Wenn man die USA mit der gleichen analytischen Kühle wie Russland betrachten würde", zitiert er den amerikanischen Ökonomen James Galbraith, "würde man nicht umhin kommen, von der Herrschaft eines Oligopols aus Politikern und Bankern zu sprechen. Die Mächtigen an der Wall Street und in Washington seien nicht weniger eng verflochten als Premier Wladimir Putin und die Magnaten des russischen Rohstoffimperiums."

Der Spiegel spricht für jenen Teil der herrschenden Elite, der die staatlich finanzierten Konjunkturprogramme und die Politik des billigen Geldes so schnell wie möglich beenden möchte und stattdessen für eine Senkung der Unternehmenssteuern und starke Einsparungen im Haushalt plädiert. Das hätte zwar einen massiven Abbau von Sozialleistungen und kurzfristig auch eine Zunahme von Firmenzusammenbrüchen und Entlassungen zur Folge, gilt aber als kleineres Übel im Vergleich zu einem plötzlichen Zusammenbruch mit unkalkulierbaren Folgen.

Im Wesentlichen entspricht die Haltung des Spiegels derjenigen der Bundesregierung. Bereits die alte Koalition von Union und SPD hatte kurz vor der Bundestagswahl eine Schuldenbremse in der Verfassung verankert, die die neue Regierung zu einem drastischen Sparkurs zwingt. Sie muss die Neuverschuldung von derzeit 86 Milliarden Euro auf 10 Milliarden im Jahr 2016 zurückfahren. Bundesfinanzminister Schäuble hat wiederholt versichert, dass er die Schuldenbremse ebenso wie den EU-Stabilitätspakt, der die Neuverschuldung auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts beschränkt, strikt einhalten werde.

Mit Rücksicht auf inneren und äußeren Druck wird dieser Sparkurs allerdings um ein Jahr verzögert. Bundeskanzlerin Merkel fürchtet eine weitere Erosion der CDU und den Verlust der Regierungsmehrheit im Bundesrat, wenn sie sofort nach der Bundestagswahl zu heftigen Sozialkürzungen übergeht. Auf internationaler Ebene gibt es vor allem mit Washington und London scharfe Differenzen über den finanzpolitischen Kurs, die bereits im Vorfeld des G20-Gipfels von Pittsburgh im September offen in Erscheinung getreten waren.

Die USA und Großbritannien, die einen großen Teil ihrer Industriebasis dem Finanzsektor geopfert haben, haben weit weniger Interesse an einer restriktiven Währungspolitik als Deutschland, dessen Exportwirtschaft zu den stärksten der Welt zählt und das die Auswirkungen eines schwachen Dollars auf seine Konkurrenzfähigkeit fürchtet. Die Vehemenz, mit der nun der Spiegel den amerikanischen Finanzsektor angreift, bringt die Schärfe der gegenseitigen Spannungen zum Ausdruck, die nur selten offen angesprochen werden.

Für die arbeitende Bevölkerung muss dies eine Warnung sein. Die internationale Krise des Kapitalismus hat ein Ausmaß erreicht, das keine Kompromisslösungen mehr zulässt. Sie muss sich auf heftige gesellschaftliche Kämpfe vorbereiten.

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