Nach über 65 Jahren

Lebenslänglich für SS-Mann Heinrich Boere

Am 23. März verurteilte das Landgericht Aachen den inzwischen 88-jährigen ehemaligen SS-Mann Heinrich Boere zu lebenslanger Haft für die Ermordung von drei Zivilisten im Jahr 1944 in den damals von den Nazis besetzten Niederlanden. Die Verurteilung Boeres ist gleichzeitig eine Anklage an die deutsche Justiz, die sich jahrzehntelang geweigert hat, gegen Naziverbrecher vorzugehen.

Das Aachener Gericht sah es als erwiesen an, dass Boere am Abend des 14. Juli 1944 gemeinsam mit Petrus Bestemann, wie Boere Mitglied der Schutzstaffel (SS) den Apotheker Fritz Bicknese im holländischen Breda erschossen hat. Am 3. September desselben Jahres ermordete Boere gemeinsam mit einem anderen SS-Mann kaltblütig den Fahrradhändler Teunis de Groot und anschließend den Prokuristen Frans Willem Kusters in Vorschooten.

Boere und seine beiden Komplizen waren Mitglieder eines 15-köpfigen Sonderkommandos der niederländischen SS, das unter der Leitung von Johannes Hendrik Feldmeijer Aktionen holländischer Widerstandskämpfer mit "Gegenterror" beantwortete. Für jeden von Widerstandskämpfern getöteten Deutschen sollte es drei Holländer ermorden, die im Verdacht standen, dem Widerstand nahe zu stehen. Insgesamt fielen dieser Aktion mit dem Codenamen "Silbertanne" in der Zeit von September 1943 bis Ende 1944 mehr als fünfzig Menschen zum Opfer.

Die Opfer wurden jeweils sorgfältig ausgesucht. Boere und seine Komplizen klingelten an der Haustür und überprüften die Ausweise, bevor sie ihre Opfer kaltblütig ermordeten oder mitnahmen, um sie unterwegs zu erschießen.

Die "Aktion Silbertanne" war Bestandteil des brutalen Besatzungsregimes unter dem von den Nazis eingesetzten Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart. Unter seiner Verantwortung wurden über 100.000 Juden in Vernichtungslager und eine halbe Million niederländische Arbeiter zur Zwangsarbeit nach Deutschland oder in von Deutschland besetzte Gebiete deportiert.

Heinrich Boere war wegen dieser abscheulichen Verbrechen bereits 1949 von einem Amsterdamer Sondergericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Das Urteil wurde später in lebenslange Haft umgewandelt.

Das Urteil konnte damals nicht vollstreckt werden, weil Heinrich Boere sich nach Deutschland absetzte. Nicht weit von der niederländischen Grenze entfernt in Eschweiler bei Aachen nahm er eine Arbeit als Bergmann auf.

Trotz seiner rechtmäßigen Verurteilung in den Niederlanden lebte Boere bis zum Oktober letzten Jahres unter dem Schutz der deutschen Justiz ungestört in Eschweiler. 1980 beantragten die Niederlande seine Auslieferung, woraufhin er zwei Monate in Auslieferungshaft saß. Das Oberlandesgericht in Köln erklärte jedoch seine Auslieferung für unzulässig. Es berief sich auf einen Erlass Adolf Hitlers vom 19. Mai 1943, wonach alle "deutschstämmigen Ausländer" (Boere ist Sohn eines Niederländers und einer Deutschen) durch den freiwilligen Eintritt in die Waffen-SS die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Und ein deutscher Staatsbürger durfte nicht ausgeliefert werden.

Bereits zum damaligen Zeitpunkt nahm die Dortmunder Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Verbrechen das Auslieferungsersuchen zum Anlass, ein Ermittlungsverfahren gegen Boere einzuleiten. Der damalige Leiter der Zentralstelle, Oberstaatsanwalt Hermann Weissing, kam aber zu dem Schluss, dass die "Silbertannen-Aktion" - das heißt, die heimtückischen Morde, die das Kommando Feldmeijer verübte - dem damals geltenden Völkerrecht entsprochen hätten und ihre "Anordnung und Durchführung" deshalb "zulässig und rechtmäßig" gewesen seien.

Boere konnte weitere zwei Jahrzehnte ruhig und unbehelligt in Eschweiler leben, die letzten Jahre in einer Seniorenresidenz. In der gesamten Zeit lebte er unter seinem richtigen Namen und leugnete auch nicht, die ihm zur Last gelegten Verbrechen.

Im Jahr 2003 beantragte dann das niederländische Justizministerium, das Amsterdamer Urteil aus dem Jahr 1949 gegen Heinrich Boere in Deutschland zu vollstrecken. Es dauerte weitere vier Jahre, bis das Landgericht Aachen im Februar 2007 diesem Antrag stattgab. Erneut rettete das Oberlandesgericht Köln Boere davor, seine Strafe antreten zu müssen. Diesmal lautete die Begründung, Boere sei in Amsterdam nicht angemessen verteidigt worden, und er (der sich dem Gerichtsverfahren durch Flucht entzogen hatte) habe auch keine Möglichkeit gehabt, Rechtsmittel einzulegen.

Zwischenzeitlich hatte die Leitung der Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Verbrechen in Dortmund gewechselt. Der neue Leiter, Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß, begann im August 2007 erneut in der Sache Heinrich Boere zu ermitteln. Gemeinsam mit den Nebenklägern, Tuin de Groot, dem inzwischen 76-jährigen Sohn von Teunis de Groot, und zwei Söhnen des Apothekers Fritz Bicknese erreichte er schließlich, dass der Prozess gegen Heinrich Boere im Oktober vergangenen Jahres doch noch eröffnet wurde.

Teun de Groot und Dolf Bicknese waren auch am 23. März 2010 bei der Urteilsverkündung im Landgericht Aachen anwesend. Beide zeigten sich erleichtert, dass es doch noch zu einem Urteil gegen den Mörder ihrer Väter gekommen ist. Teun de Groot sagte, dass er erleichtert sei, dass es doch noch Gerechtigkeit gebe, zwar sehr spät, aber besser als nie. Ähnlich äußerte sich Dolf Bicknese. Beide hatten im Verlauf des Prozesses die lebenslangen Auswirkungen der brutalen Taten auf ihre Familien und ihr Leben geschildert.

Aufgrund des späten Urteils des Landgerichts Aachen zu lebenslanger Haft ist es ungewiss, ob die Strafe gegen Heinrich Boere je vollstreckt wird und er tatsächlich noch ins Gefängnis muss. Der Vorsitzende Richter Günther Noll sagte nach der Urteilsverkündung zu dieser Frage: "Wir gehen, wenn wir ehrlich sind, nicht davon aus."

Die Verteidiger von Boere haben direkt nach der Urteilsverkündung angekündigt in Revision beim Bundesgerichtshof zu gehen. Und falls sich dieser dem Urteil des Landgerichts Aachen anschließen sollte, dass eine Strafverfolgung von Boere möglich ist, haben sie angekündigt, den Fall auch noch dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorzulegen. Bis dahin können noch einmal einige Jahre vergehen. Da kein Haftbefehl gegen Boere erlassen wurde, bleibt er weiter auf freiem Fuß bis das Urteil nach dem Weg durch alle Revisionsinstanzen rechtskräftig ist.

Die Forderung der Verteidiger Boeres‘ nach einer Überprüfung des Urteils durch den Europäischen Gerichtshof stützt sich auf den am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Lissaboner Vertrag und die mit ihm verbundene Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Gemäß Artikel 50 der Charta darf niemand wegen einer Straftat, für die er bereits in einem Mitgliedsstaat der EU rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, erneut verfolgt oder bestraft werden.

Die Verteidigung hatte bereits Anfang Dezember 2009 vergeblich versucht, mit dem Verweis auf die Grundrechte-Charta der EU, eine Einstellung des Prozesses gegen Boere zu erreichen.

In einer Erklärung, die in diesem Zusammenhang von dem Anwalt des Nebenklägers Dolf Bicknese Anfang Dezember im Landgericht Aachen verlesen wurde, heißt es: "Für mich steht die Justiz selbst vor Gericht. Für Deutschland hoffe ich, dass der Verdacht, dass Kriegsverbrecher immer noch die schützende Hand der Justiz über sich wissen können, Lügen gestraft wird."

Das Gericht lehnte den Antrag der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens mit dem Hinweis auf das Schengener Durchführungsabkommen ab. Danach gelte der Rechtsgrundsatz, dass man nicht zweimal für dasselbe verurteilt werden darf, nur dann, wenn die Strafe bereits vollstreckt ist oder aus Rechtsgründen nicht mehr vollstreckt werden kann.

Dennoch könnte eine Revision vor dem Europäischen Gerichtshof erfolgreich sein, da der "Vollstreckungsvorbehalt" in der Grundrechte-Charta nicht mehr enthalten ist. Dort ist nur die Rede von einer "Verurteilung". Es wäre eine bittere Ironie der Rechtssprechung, wenn gerade Boere, der fast ein Leben lang nicht für seine brutalen Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden ist, jetzt von der Grundrechte-Charta des Lissaboner Vertrags profitieren könnte.

Heinrich Boere war bereits im Alter von 18 Jahren freiwillig der Waffen-SS beigetreten und vor den in den Niederlanden begangenen Verbrechen, an der Ostfront im Kaukasus im Einsatz. Bis heute lässt er keine Zweifel an seinen damaligen Taten gelten.

Wie die meisten Naziverbrecher, die sich je für ihre Taten verantworten mussten, beruft er sich darauf, nur Befehle ausgeführt zu haben. Nie habe er in dem Bewusstsein gehandelt, ein Verbrechen zu begehen, lies Boere vor Gericht erklären.

Boere war jedoch alles andere als ein passiver Befehlsempfänger. Dokumente der Nebenkläger beweisen, dass er als überzeugter Nazi gehandelt hat. Boere wurde 1942 Mitglied der niederländischen Nazibewegung NSB und der Landwacht.

Er beteiligte sich nicht nur an den Erschießungskommandos, die unschuldige Zivilisten ermordeten, sondern arbeitete auch als Spitzel für den Sicherheitsdienst (SD) der Nazis, um herauszufinden, wer sich im Widerstand gegen die Nazi-Besetzung befand oder diesen unterstützte. So gab er sich im Mai 1944 in der Gemeinde Helden, unweit der deutsch-niederländischen Grenze, als jemand aus, der untertauchen musste.

"Die Bauern, die ihm zu essen gaben und ihn bei sich übernachten ließen, verriet er dann an die Deutschen. Am 17. Mai 1944 veranstaltete der SD eine Razzia in Helden. Heinrich Boere war dabei, in der Uniform der Landwacht. 52 Männer wurden festgenommen, 20 von ihnen wurden nach Deutschland deportiert. Sieben kamen nicht wieder nach Hause." (Zitiert aus Süddeutsche Zeitung vom 19. März 2010)

Die Tatsache, dass der ehemalige SS-Mann Heinrich Boere, so viele Jahrzehnte den Konsequenzen seiner Verbrechen und seiner Verurteilung entgehen konnte, ist vor allem ein vernichtendes Urteil gegen die deutsche Justiz und ihren Umgang mit den Nazi-Verbrechen.

Eine Strafverfolgung von Naziverbrechern hat in der Bundesrepublik kaum stattgefunden. Seit Kriegsende ermittelte die deutsche Justiz in über 100.000 Fällen, nur 6.500 Beschuldigte wurden verurteilt, meist zu geringen Strafen.

Insbesondere die deutsche Justiz hatte kein Interesse an der Aufarbeitung der Verbrechen der Nazizeit, da fast alle der damaligen verantwortlichen Richter und Staatsanwälte ihre Karrieren in der Bundesrepublik bruchlos fortgesetzt haben.

Nicht ein einziger NS-Richter ist in letzter Instanz verurteilt worden. "Mit der Verurteilung auch nur eines einzigen ehemaligen NS-Richters", schreibt Ingo Müller in seinem Buch Furchtbare Juristen, "wäre eine Lawine losgetreten worden, welche die Mehrheit der Nachkriegsrichter erfasst hätte und die vor Mitgliedern des Bundesgerichtshofes, des Bundesverwaltungsgerichts und sogar des Bundesverfassungsgerichts nur schwer hätte aufgehalten werden können."

So steht auch der Fall von Heinrich Boere exemplarisch dafür, wie Hunderttausende Nazi-Verbrecher mithilfe der deutschen Nachkriegsjustiz ihren Kopf aus der Schlinge ziehen konnten - wenn sie überhaupt vor Gericht gestellt worden sind.

Siehe auch:
The conviction of ex-Nazi Boere and Washington’s war crimes
(26 March 2010)
Prozess gegen John Demjanjuk eröffnet
( 3. Dezember 2009)
NS-Prozess gegen Heinrich Boere eröffnet
( 31. Oktober 2009)
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