Perspektive

Der europäische Fiskalpakt

Die Verabschiedung des europäischen Fiskalpakts durch den EU-Gipfel vom Freitag inmitten einer sich abzeichnenden Rezession ist ein politisches Alarmsignal.

Alle historischen Erfahrungen beweisen, dass die massive Einschränkung öffentlicher Ausgaben eine beginnende Rezession weiter verschärft. Auch aus rein haushaltspolitischer Sicht ergibt der Fiskalpakt keinen Sinn. Wie das Beispiel Griechenlands zeigt, wiegen die durch die Rezession verursachten staatlichen Einnahmeverluste die Einsparungen bei den Ausgaben wieder auf, so dass das Haushaltsdefizit steigt, anstatt zu sinken.

Es wäre naiv zu glauben, die europäischen Staats- und Regierungschefs, die den Fiskalpakt in Brüssel unterzeichnet haben, seien sich dieser Zusammenhänge nicht bewusst. Sie nehmen eine Rezession bewusst in Kauf oder streben sie sogar an, um ein anderes Ziel zu erreichen: die massive Absenkung von Löhnen, Sozialleistungen und öffentlichen Dienstleistungen.

Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Regierung bewusst eine Rezession provoziert, um die Arbeiterklasse anzugreifen. 1981 erhöhte die amerikanische Notenbank den Leitzins auf beispiellose 20 Prozent und würgte damit den Markt für Immobilien, Autos und Konsumgüter ab, provozierte eine Serie von Firmenbankrotten und löste die tiefste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Sie verfolgte damit das Ziel, der Arbeiterbewegung das Rückgrat zu brechen, die ihre Einkommen in einer militanten Streikwelle gegen die hohe Inflation verteidigt hatte. Unter anderem hatten 100.000 Bergarbeiter 111 Tage lang die Arbeit niedergelegt und erfolgreich den Versuchen der Regierung getrotzt, den Streik zu brechen.

Der für die Anhebung des Leitzinses verantwortliche Notenbankchef Paul Volcker war noch vom demokratischen Präsidenten Jimmy Carter eingesetzt worden. Er blieb unter Carters republikanischem Nachfolger Ronald Reagan an der Spitze der Notenbank und zählte zu den Hauptverantwortlichen einer Politik, die große Teile der US-Industrie zerstörte, das Land in ein Eldorado für Spekulanten verwandelte und die Arbeitseinkommen nach unten trieb, während die Spitzeneinkommen und Vermögen explodierten.

Ähnlich wie Volcker und Reagan vor dreißig Jahren nehmen die europäischen Staats- und Regierungschefs heute bewusst eine Rezession in Kauf, um soziale Errungenschaften zu zerschlagen, die sich die Arbeiterklasse über Jahrzehnte erkämpft hat. Vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel, die treibende Kraft hinter dem Fiskalpakt, betont immer wieder, Europa habe keine Zukunft, wenn es nicht gelinge, die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen – d.h. die Lohn- und Sozialkosten weiter zu senken.

Auf den ersten Blick scheint es paradox, dass ausgerechnet Deutschland auf eine weitere Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit drängt, obwohl es in den vergangenen Jahren die Lohnkosten deutlich reduziert, wie kein anderes Land vom Euro profitiert und hohe Außenhandelsüberschüsse erzielt hat. Doch Deutschland geht es nicht nur um Europa, sondern um den Weltmarkt. Hier gelten die Löhne in China, Vietnam oder Bangladesch als Maßstab. Die Investmentbanken, Hedgefonds und sonstigen Spekulanten, die die internationalen Finanzmärkte beherrschen, verlangen Renditen von 20 Prozent und mehr, die sich nur unter Ausbeutungsbedingungen wie im Frühkapitalismus erzielen lassen.

Das deutsche Kapital kann sich auf dem Weltmarkt nur behaupten, wenn ihm einerseits ganz Europa als Werkbank und Binnenmarkt zur Verfügung steht (daher sein Festhalten an der Europäischen Union und dem Euro), und wenn es andererseits die europäischen Löhne und Sozialstandards auf internationales Niveau senkt (daher sein Eintreten für den Fiskalpakt).

Andere europäische Regierungen murren zwar gelegentlich über das deutsche Diktat. Aber angesichts wachsender sozialer Spannungen schließt die herrschende Klasse in ganz Europa ihre Reihen gegen die Arbeiterklasse. Aus diesem Grund haben 25 von 27 EU-Regierungen den Fiskalpakt unterzeichnet. Aus demselben Grund verlangen Länder wie Kroatien, Serbien und die Türkei trotz Eurokrise weiterhin Einlass in die Europäische Union.

Auch der Sinn der verheerenden Sparmaßnahmen in Griechenland ergibt sich aus diesem Zusammenhang. Dass sie das Land nicht vor dem Bankrott retten, sondern erst in diesen hineintreiben, ist mittlerweile offensichtlich. Ihre wirkliche Aufgabe besteht darin, Maßstäbe für ganz Europa zu setzen. Arbeiter sollen sich daran gewöhnen, dass ihre Einkommen halbiert, Sozialleistungen, Bildung und Gesundheit zerschlagen und hunderttausende Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst abgebaut werden.

Eine Rückkehr zu einer Politik des sozialen Ausgleichs ist unter diesen Bedingungen unmöglich. Die Klassengegensätze in Europa haben ein Ausmaß erreicht, dass keine Halbheiten und Kompromisse mehr zulässt. Das beweist unter anderem der Übergang sämtlicher Organisationen, die sich früher für soziale Reformen, Demokratie und Frieden ausgesprochen haben, auf die Seite der Reaktion. Sozialdemokratische Parteien haben die führende Rolle bei der Durchsetzung des Spardiktats übernommen, die Gewerkschaften unterstützen sie dabei, und die pazifistischen Grünen sind zur führenden imperialistischen Kriegspartei geworden.

Wer heute – wie die deutsche Linkspartei und ähnliche Organisationen – noch soziale Reformen predigt, tut dies, um den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen. Die europäische Krise hat revolutionäre Folgen, denen nicht ausgewichen werden kann.

Der Fiskalpakt und seine Folgen lassen sich nicht mit demokratischen Mitteln verwirklichen. Als der deutsche Reichskanzler Heinrich Brüning 1930, mitten in der internationalen Wirtschaftskrise, ähnliche Maßnahmen ergriff, übernahm zwei Jahre später Hitler in Deutschland die Macht.

Selbst die elementarsten demokratischen und sozialen Rechte lassen sich heute nur noch auf der Grundlage eines sozialistischen Programms und der Massenmobilisierung der Arbeiterklasse verteidigen. Arbeiter müssen sich europaweit zusammenschließen, um ihre Grundrechte zu verteidigen – das Recht auf Arbeit, ein gutes Einkommen, eine sichere Rente, auf Bildung, medizinische Versorgung und eine bezahlbare Wohnung – und die Macht der Finanzmärkte und das Diktat der Europäischen Union zu brechen. An die Stelle der bürgerlichen Regierungen müssen Arbeiterregierungen treten, die sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft statt an den Profitinteressen des Finanzkapitals orientieren. Die Europäische Union muss durch Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa ersetzt werden.

Um diese Ziele zu erreichen, muss eine neue internationale Arbeiterpartei aufgebaut werden – das Internationale Komitee der Vierten Internationale und seine Sektionen, die Parteien für Soziale Gleichheit.

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