Unternehmer und Länderkassen pflegen sich gesund

Kaum waren der entscheidendste Tarifabschluß dieses Jahres in der Metall- und Elektroindustrie unter Dach und Fach und der drohende Streik unterdrückt, ließen SPD und die Bonner Koalition von CDU/CSU und FDP die Katze "Pflegeversicherung" aus dem Sack:

Was von dem Jesuitenzögling Blüm und allen beteiligten Parteien als "Wohltat für unsere armen Alten", als "Liebestat für die Pflegebedürftigen in unserem Lande" gepriesen wird, ist ein ausgekochtes Gaunerstück, mit dem die Kassen der Bundesländer und Unternehmer aufgefüllt werden sollen – auf Kosten der Arbeitnehmer und Pflegebedürftigen.

Bereits Mitte vergangenen Jahres war die SPD mit der Bundesregierung übereingekommen, daß mit der Pflegeversicherung die größtenteils SPD-regierten Kommunen und vor allem Bundesländer entlastet werden sollten. Die Kosten dafür sollten, so die Zusicherung der SPD vom Dezember letzten Jahres, ausschließlich von den Arbeitnehmern getragen werden, um ein Signal für eine umfassende "Kostenentlastung" der Unternehmer im Namen der "Verteidigung des Standorts Deutschland" zu geben.

So ist es jetzt auch verwirklicht worden.

Der 50prozentige Unternehmeranteil an den Beiträgen zur Pflegeversicherung wird durch die Streichung eines Feiertages für die Unternehmer mehr als wettgemacht. In Bundesländern, deren Regierung keinen Feiertag streichen will, müssen die Arbeiter offen und direkt tun, was durch die Feiertagsregelung noch etwas verschleiert wird, nämlich den Pflegeversicherungsbeitrag zu 100% zahlen.

Die Unternehmer freilich fordern mehr. Auf der Tagesordnung ist daher auf Wunsch der FDP immer noch die Streichung eines zweiten Feiertages beim Inkrafttreten der zweiten Stufe der Pflegeversicherung am 1. Juli 1996. Doch soll darüber formal erst nach den Bundestagswahlen entschieden werden, und zwar vom "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung", den sog. "Fünf Weisen".

Als Beitrag müssen alle Arbeitnehmer (mit einem Einkommen von monatlich bis zu 5.400 Mark) ab dem 1. Januar 1995 ein Prozent, vom Juli 1996 an 1,7 Prozent des Bruttoverdienstes zahlen. Doch weit höhere Beiträge sind für die Zukunft nicht ausgeschlossen.

Mit den Vereinbarungen zur häuslichen Pflege, die vom 1.April 1995 an von der Pflegeversicherung bezahlt wird, soll die gesamtgesellschaftliche Aufgabe der Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen aus Kostengründen weitgehend auf die Familie abgewälzt werden. Durch einige Anreize wie die Aufnahme der häuslichen Pflegerinnen in die gesetzliche Unfallversicherung sowie die Beitragszahlung in die Rentenversicherung wird dies schmackhaft gemacht.

Die Leistungen in der häuslichen Pflege, die sich je nach dem Grad der Bedürftigkeit staffeln, sind jedoch so gering, daß sie in keiner Weise dem physischen, psychischen und finanziellen Aufwand entsprechen. Die Deutsche Hausfrauengewerkschaft nannte die Regelung daher "ungerecht und untragbar" und hat eine Verfassungsklage angekündigt. Mütter wrüden mit der Erziehung ihrer Kinder, der Haushaltsführung und der häuslichen Pflege ihrer Angehörigen gleich dreifach belastet werden. Dafür würde in der Versicherung viel zu wenig, nämlich monatlich nur 400 bis 1.300 Mark veranschlagt.

Bei den Sachleistungen wurde ein monatlicher Höchstbetrag vereinbart, 750 Mark für erheblich Pflegebedürftige und 2.800 Mark für Schwerstpflegebedürftige. Falls die Familie die Pflege zeitweilig nicht aufrechterhalten kann, ob aus Krankheit oder aus anderen Gründen, gewährt die Versicherung nur einmal im Jahr für maximal vier (!) Wochen bis zu 2.800 Mark für eine Ersatzpflegekraft. Wird für längere Zeit eine zusätzliche Pflegeperson benötigt, muß die Familie für ihre Bezahlung aufkommen.

In der zweiten Stufe, vom 1. Juli 1996 an, werden Leistungen für die stationäre Pflege übernommen. Die Sachkosten werden bis zu einer Höhe von 2.800 Mark im Monat, im Durchschnitt sogar nur 2.500 Mark monatlich gezahlt. Selbst in Ausnahmefällen für Schwerstbehinderte steigt die Leistung der Pflegeversicherung nicht über 3.300 Mark. Die Kosten eines Pflegeheimplatzes belaufen sich jedoch schon heute in der Regel auf rund 5.000 Mark. Experten befürchten, daß dieser niedrige Höchstsatz unweigerlich zu einer immer stärkeren Einschränkung bei den Leistungen, einer immer mangelhafteren Versorgung der Pflegebedürftigen führen wird.

Im übrigen wird Pflegebedürftigen ein Urlaubsaufenthalt im Ausland praktisch verboten. Die Vereinbarung der Bonner Parteien sieht vor, daß Behinderten die Zuwendungen selbst bei einem eintägigen Aufenthalt im Ausland gestrichen werden. Die Betroffenen sehen dies als ein Ausreiseverbot an, sagte der Sprecher des Arbeitskreises behinderter Juristinnen und Juristen, der Kasseler Richter Andreas Jürgens.

Die Gewinner der Pflegeversicherung sind die Länder, weshalb diese, vertreten z.B. durch die SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis von Schleswig-Holstein, bei den Verhandlungen in Bonn auch den größten Druck ausübten, eine abschließende Regelung durchzusetzen. Zwar werden formal zunächst die Kommunen als Träger der Sozialhilfe in Milliardenhöhe entlastet, da sie nicht mehr die Kosten für die Heimunterbringung von älteren Menschen übernehmen müssen. Doch die Ländervertreter sorgten dafür, daß "die Einsparungen bei den Trägern der Sozialhilfe durch noch zu regelnde Ländergesetze wieder der Pflegeversicherung als Investitionskosten zugeführt werden". Unter dem Begriff "Investitionskosten" fallen alle Kosten, die die Länder bislang für den Bau und Ausbau von Altersheimen, Krankenhäusern, Behindertenwohnheimen usw. aufbringen hatten müssen.

Der Verlierer dieser Einigung ist die Arbeiterklasse – ob in der Person des pflegenden Familienangehörigen, des Pflegebedürftigen oder als Arbeitnehmer, der die Milliardeneinsparungen der Länder mit erneuten Abgaben finanziert und für die Unternehmer pro Jahr auch noch ein oder zwei Tage mehr arbeiten muß.

Abgesehen von diesen unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Arbeiterklasse sind die Vereinbarungen der SPD mit der Koalition zur Pflegeversicherung von weitreichender Bedeutung für die künftige Entwicklung der Klassenauseinandersetzungen in Deutschland. Darauf machen selbst bürgerliche Kommentatoren aufmerksam.

"Die Streichung von Feiertagen – heute bei der Pflegeversicherung, morgen vielleicht schon bei der Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherung – geht ans Eingemachte des Sozialstaates", schreibt die Frankfurter Rundschau in einem Kommentar am 11. März 1994. Und Jürgen Forster kommentiert in der Süddeutschen Zeitung vom gleichen Tag: "Es wird damit auch ein Präjudiz für die übrige Sozialversicherung geschaffen. Schon ist die Rede davon, auch den halben Beitragssatz der Arbeitgeber zur Kranken- und Rentenversicherung den Arbeitnehmern aufzubürden ..."

Die erste Einrichtung des sogenannten "Sozialstaats", die gesetzliche Sozialversicherung, wurde vor mehr als hundert Jahren vom damaligen Reichskanzler Otto von Bismarck als Reaktion auf das Anwachsen der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften eingeführt, um den drohenden Klassenkämpfen die Spitze zu brechen. Wie Rosa Luxemburg schrieb: "Sie betätigt sich nicht als Beschränkung des kapitalistischen Eigentums, sondern umgekehrt als dessen Schutz. Oder, ökonomisch gesprochen, sie bildet nicht einen Eingriff in die kapitalistische Ausbeutung, sondern eine Normierung, Ordnung dieser Ausbeutung." (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke Bd. 1/1, S. 394)

Im Grunde beinhaltete diese "Normierung der Ausbeutung", daß ein kleiner Teil der Unternehmererlöse nicht in den kurzfristigen Profit floß, sondern zusammen mit den Arbeitnehmerbeiträgen für gesellschaftliche Aufgaben wie die Alters- und Krankenversorgung usw. unter dem Bilanzposten "Lohnnebenkosten" abgezweigt wurde. Dies war im langfristigen Interesse der gesamten deutschen Bourgeoisie. Unter dem Druck der Globalisierung der Produktion und der damit verschärften internationalen Konkurrenz, können sich die einzelnen deutschen Unternehmer eine solche nationale "Normierung" indes nicht mehr leisten – auch wenn damit ein bewährtes Mittel zur Dämpfung des Klassenkampfs in Deutschland fortfällt.

Blüm mag daher vor 10 Jahren durchaus die Absicht gehabt haben, die Pflegeversicherung als Krönung des "Sozialstaats" einzuführen, um selbst als "Otto von Blüm" in die Geschichte einzugehen. Herausgekommen ist heute jedoch das Gegenteil: der Einstieg in den vollständigen Ausstieg aus der staatlichen Sozialversicherung.

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