"Blüms Sprüche sind Realsatire"

Erste Erfahrungen mit der Pflegeversicherung

Seit April ist die erste Stufe der Pflegeversicherung in Kraft. Arbeitern und Angestellten wird dafür eine neue Abgabe abgezogen, während die Unternehmer keinen Beitrag leisten. Gleichzeitig bringt die neue Versicherung deutliche Verschlechterungen für Pflegebedürftige mit sich.

Über die praktischen Auswirkungen der Regelung sprach die neue Arbeiterpresse mit Uwe Heineker vom Verein "Mobile – Selbstbestimmtes Leben Behinderter" in Dortmund. Seit Inkrafttreten der Pflegeversicherung steht bei ihm das Telefon nicht mehr still.

Zur Zeit werden die Hilfsbedürftigen, die einen Antrag auf Pflegeleistungen gestellt haben, vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen befragt und in Stufe I, II oder III nach dem neuen Pflegegesetz eingestuft. Wer in Stufe I fällt, gilt als "erheblich pflegebedürftig", wer in Stufe III eingeordnet wird, als "schwerstpflegebedürftig". Danach richten sich die Leistungen.

Dieses Einsortieren und die dafür vorgesehenen Richtlinien werden von den Betroffenen als willkürlich und entwürdigend empfunden. In etwa einer halben Stunde ordnet der Gutachter anhand eines vorgefertigten Fragebogens den Antragsteller ein.

"Bei der Begutachtung", so Uwe Heineker, "erlebt man horrende Geschichten. Die ärztliche Untersuchung wird äußerst lasch gehandhabt. Ich selbst war bei einem Bekannten dabei und sah, daß der Arzt zwar mit ihm sprach, ihn aber in keiner Weise untersuchte – etwa, daß er ihn einmal hätte gehen lassen. Die Kasse hat ihm dann die Pflegestufe III, die ihm meiner Meinung nach eindeutig zustand, nicht gewährt. Das Ganze läuft im Hauruck-Verfahren, und das Leitmotiv dabei ist Kostenersparnis.

So geht es die ganze Zeit. Nach dem Bundessozialhilfegesetz, das bisher für diese Menschen galt, kamen Leute, die im Rollstuhl sitzen oder beispielsweise keine Arme oder Hände haben, automatisch in die höchste Pflegestufe. Das ist jetzt nicht der Fall. Jetzt fallen sie manchmal sogar ganz raus. Dann müssen wieder die Sozialämter ran.

Es ist auch so, daß Leute, die eine Arbeit haben, automatisch den Anspruch auf Pflegeleistungen verlieren – was absurd ist, denn viele können ja arbeiten, wenn sie Hilfe erhalten oder dem Arbeitgeber Vergünstigungen für besondere Ausstattungen gewährt werden."

Für einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot hält Uwe Heineken die Einzelheiten der sogenannten "Härtefallregelung" im §36 des Gesetzes. Sie gewährt in besonderen Einzelfällen eine Erhöhung der "Pflegesachleistungen" in Stufe III, die ansonsten maximal 2.800 DM betragen. Das Gesetz schreibt aber ausdrücklich vor, daß nur drei Prozent aller Pflegebedürftigen in den Genuß dieser Härtefall-Regelung kommen dürfen. "Und was ist mit denen, die schwer krank werden, nachdem diese Quote erfüllt ist? An diesem Punkt wird am deutlichsten, daß das Gesetz vor allem darauf abzielt, die Leistungen nach oben klar zu beschränken. Deckelung nenne ich das. Aber schließlich zahlt man Beiträge ein und müßte dann auch erwarten können, daß ein Bedarf vollständig gedeckt wird."

Die Tücken des Pflege-Versicherungsgesetzes, so Uwe Heineken weiter, liegen im Detail. "Besonders blödsinnig ist die Bestimmung, daß die Leistungen während Auslandsaufenthalten "ruhen". Das nennen wir ein Reiseverbot für Behinderte. Alles spricht von der EU und von Freizügigkeit, nur wir sollen schön zuhause bleiben."

Die Hochglanz-Werbebroschüren aus Blüms Arbeitsministerium benutzen Uwe Heineken und sein Kollege als Vorlagen für ihr Laien-Kabarett: "Das ist Realsatire." Die vom Ministerium angestrebte Versorgung durch Pflegefirmen laufe auf das Motto hinaus: "Alles muß möglichst fix gehen – Hauptsache die Leute sind satt und sauber. Es geht zu wie in einer Werkstatt, die bestimmte Abrechnungseinheiten für bestimmte Handgriffe hat. Sachen wie Spaziergänge, der Besuch kultureller Veranstaltungen oder ähnliches ist überhaupt nicht abgedeckt."

Hingegen werben die Broschüren mit idyllischen Bildern von betreuten alten Menschen im Park und umsorgten behinderten Kindern auf dem Spielplatz – "Das fällt alles überhaupt nicht unter die Versicherung. In dem ganzen Gerangel zwischen Pflegefirmen und Kassen zeichnet sich im Gegenteil klar ab, daß die neue Regelung nur auf Geldmacherei der Privatfirmen hinauslaufen wird."

Ansonsten ziele das Gesetz darauf ab, möglichst ehrenamtliche und möglichst kostenlose Pflege zu erzwingen: "Es ist wirklich der Gipfel der Heuchelei, wenn dies im Gesetzestext auch noch als ,neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung' bezeichnet wird."

Für besondere Empörung unter den Betroffenen sorgt auch der § 37 des Gesetzes, der das "Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen" betrifft. Das sind meist Familienangehörige oder Freunde, die nach dem Gesetz erbärmlich gering entlohnt werden: Für die Versorgung Schwerstpflegebedürftiger sind für sie monatlich ganze 1.300 DM aus der Pflegeversicherung vorgesehen.

Damit nicht genug, werden diese Kranken oder Behinderten noch zusätzlich zur Kasse gebeten: Es ist bei selbst beschaffter Pflegehilfe gesetzlich vorgeschrieben, je nach Pflegestufe halb- oder vierteljährlich "einen Pflegeeinsatz durch eine Pflegeeinrichtung, mit der die Pflegekasse einen Versorgungsvertrag abgeschlossen hat, abzurufen." Die Kosten dafür muß der Versicherte selbst tragen, was der Gesetzestext so formuliert: "Die Kosten des Pflegeeinsatzes werden dem Pflegebedürftigen von der Pflegekasse auf Nachweis unter Anrechnung auf das Pflegegeld erstattet." (Hervorhebung hinzugefügt)

Daß man von Kostenerstattung spricht, wenn in Wirklichkeit dem Bedürftigen das Geld aus der Tasche gezogen wird, darf wohl als Symbol für die Pflegeversicherung gelten.

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