Einmal Darmentleeren: Sieben Mark Achtzig

Mit dem 1. Mai diesen Jahres ist ein neuer Abrechnungsmodus in der ambulanten Pflege eingeführt worden. Die Bundesregierung erklärt, die finanziellen Belastungen der Patienten könnten so gerechter festgestellt werden. In Wirklichkeit ist die ambulante Pflege endgültig und vollständig den Marktprinzipien und der Wirtschaftlichkeit unterworfen worden. Das Modell der Solidargemeinschaft existiert nicht mehr.

Vor dem 1. Mai berechneten die Wohlfahrtsverbände und privaten Pflegedienste pro Besuch pauschal 30 Mark. Dafür wurden alle anfallenden Arbeiten erledigt. Jetzt sind in einer neuen Auflistung der einzelnen Arbeiten alle Leistungen auf's Peinlichste genau katalogisiert. In diesem neuen sogenannten Modulsystem wird jede Lebensäußerung in Mark und Pfennig umgerechnet. In 26 Leistungskomplexen mit durchschnittlich fünf Leistungsinhalten werden nach einem festgelegten Punktesystem die Kosten für die Leistungen im Detail festgelegt, von der Schuhpflege über das Trennen und Entsorgen des Abfalls, Aufrichten des Pflegebedürftigen im Bett, Richten des Bettes, Darmentleerung, Katheterpflege, Nagelpflege, usw.

Der Leistungskomplex 3, Ausscheidungen, ist beispielsweise mit 100 Punkten veranschlagt. Da ein Punkt mit 7,8 Pfennigen zu Buche schlägt, kostet die Hilfe beim Toilettengang 7,80 Mark.

Die pflegebedürftigen Patienten werden vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen eingestuft, erhalten je nach Einstufung Pflegegeld – höchstens jedoch 2.800 Mark – und müssen sich dann aus diesem Katalog ihre benötigten Leistungen aussuchen. Es ist unnötig zu sagen, daß viele der Pflegebedürftigen damit nicht zurecht kommen.

Die Folge dieses neuen Modulsystems ist, daß die geringer Pflegebedürftigen weniger zahlen, Kranke, Alte und Schwerbehinderte umso mehr. Da die Kosten bei letzteren über dem Höchstsatz liegen, müssen sie oder die Familie selbst zahlen. Wenn das nicht finanziert werden kann, muß die Familie eben selbst pflegen – eine weitere Verschiebung der Pflege und Altersfürsorge von der Gesellschaft auf die Familie. Schon jetzt tragen Frauen die Hauptlast der häuslichen Pflege allein. Zwei Drittel sind älter als 60 Jahre. Über die Hälfte der Pflegenden leidet selbst chronisch an Krankheiten oder Beschwerden. Bislang wurde nur ein Fünftel von ihnen durch professionelle ambulante Pflegedienste unterstützt.

Ein zweiter Aspekt der Einführung des Modulsystems wird die weitere Minderung der Pflegestandards sein. Pflegerinnen und Pfleger werden von ihren Vorgesetzten angehalten, alles schnell zu erledigen, um kostendeckend zu arbeiten. Die vorgegebenen Preise sind so knapp bemessen, sodaß z. B. der Einkauf (zweimal wöchentlich) in 15 Minuten erledigt sein muß; Wäschewaschen in 36 Minuten, die Reinigung der Wohnung in 9 Minuten. Das Ergebnis ist eine gesteigerte Arbeitshetze der Pflegekräfte. Sie müssen von Patient zu Patient eilen und dabei alles auch noch genauestens dokumentieren, was sie getan haben – innerhalb von fünf Minuten, denn die Dokumentation der Pflege wird mit 3,– Mark berechnet.

Für die soziale oder psychische Betreuung, die bei vielen Patienten einen sehr wichtigen Teil der Pflege ausmachen müßten, fällt ganz weg. Im neuen Modulsystem – sowie in dem Pflegebedürftigkeitsbegriff der Pflegeversicherung insgesamt – ist dafür auch keinerlei Leistung vorgesehen.

Ein dritter Aspekt der Einführung des Marktprinzips in der Pflege besteht darin, daß eine Vielzahl von Billiglohnjobs im Dienstleistungsbereich geschaffen werden. Hunderte von Kleinstunternehmen im Pflegebereich konkurrieren um die Gelder der Patienten. Um den Zuschlag zu bekommen, haben private Anbieter schon jetzt ihre Leistungen billiger als die Wohlfahrtsverbände angesetzt, nämlich auf sieben Pfennig pro Punkt. Daß in diesen kleinen Firmen eine extreme Ausbeutung und niedrige Löhne die Regel werden, wenn nicht schon sind, ist vorprogrammiert.

Während also täglich Hunderte und Tausende von Industriearbeitsplätzen vernichtet werden, werden neue im Dienstleistungsbereich geschaffen. Deutschland folgt in dieser Hinsicht den USA. Dort sind Jobs, mit denen früher eine ganze Familie ernährt werden konnte rar. Die neuen Jobs im Dienstleistungsbereich reichen häufig nicht einmal einer Person zum Leben, geschweige denn einer gesamten Familie.

Bergarbeiter, Stahlarbeiter, Autoarbeiter; Arbeiter, die früher in Großkonzernen mit allen damit verbundenen Rechten beschäftigt waren, finden sich als Alten- und Krankenpfleger wieder – angestellt von Geschäftemachern, die sich wie die Schmeißfliegen auf die Pflege stürzen, um die schnelle Mark mit dem Leid Alter und Kranker zu machen.

Loading