Die zweite Stufe der Pflegeversicherung

Die zweite Stufe der Pflegeversicherung

Nachdem mit der ersten Stufe der Pflegeversicherung die Leistungen für Alte und Kranke, die zu Hause gepflegt werden, drastisch gesunken sind, und die Arbeit auf die Familie, meist Töchter oder Ehefrauen, verlagert wurde, sind ab dem 1. Juli 1996, dem Start der zweiten Stufe der Pflegeversicherung, Heimbewohner Ziel der Kürzungen.

Grundlage dieser Kürzungen ist die Neueinteilung der Pflegestufen in Alten-, Behinderten- und Pflegeheimen. Nach Erhebungen des Bundesverbands der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in vier Bundesländern werden zahlreiche Heimbewohner in niedrigere Pflegeklassen eingestuft, was zur faktischen Kürzung der Heimentgelte und somit zu einer weiteren Absenkung der ohnehin niedrigen Qualitätsstandards führt.

AWO-Vorstandsmitglied Hansjörg Seeh erklärte vor der Presse, daß als Finanzier für bisher obligatorische Leistungen, die nach der Pflegeversicherung nicht mehr erbracht werden, auch die Sozialhilfe nicht mehr in Betracht komme. Sozialhilfe würde künftig nur noch in dem Umfang gezahlt, in dem der pflegerische Bedarf durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) im Einzelfall anerkannt sei.

Nach den jetzt vorliegenden Begutachtungsergebnissen des MDK zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen der derzeitigen und der künftigen Eingruppierung von Heimbewohnern. Bisher wurden etwa die Hälfte aller rund 650.000 Heimbewohner als schwere Pflegefälle eingestuft. Nach Feststellung der AWO werden dies demnächst nur noch gut ein Viertel, nämlich 28 Prozent sein. Mehr als jeder Vierte aller Heimbewohner (auch 28 Prozent) wird ab dem 1. Juli überhaupt keine Leistungen aus der Pflegeversicherung mehr beanspruchen können, obwohl sie hilfsbedürftig sind und zum Teil schon sehr lange in Pflegeheimen leben. Da als Finanzier ihrer trotzdem benötigten Pflege das Sozialamt ausfällt, müssen die Bedürftigen selbst, bzw. ihre Familien, die Kosten tragen.

AWO-Sprecher Seeh führt diese Umwälzungen vor allem darauf zurück, daß der Bedürftigkeitsbegriff der Pflegeversicherung fast ausschließlich den grundpflegerischen Bedarf wie Anziehen, Betten, Waschen und die mundgerechte Zubereitung und Gabe von Mahlzeiten umfaßt. Die soziale Betreuung von desorientierten und psychisch gestörten Heimbewohnern gelte dagegen nicht als Kernleistung der Pflegeversicherung, obgleich jeder zweite Pflegebedürftige in Heimen hiervon betroffen sei.

Exemplarisch für die Folgen der neuen Eingruppierung veröffentlichte die AWO die konkreten Begutachtungsergebnisse des MDK aus 14 Heimen. So sind beispielsweise in einem thüringischen Heim mit 102 Betten heute 26 Prozent der Bewohner der Stufe I, 29 Prozent der Stufe II, 32 Prozent der Stufe III und 13 Prozent der Stufe IV zugeordnet. Künftig werden 43 Prozent der 102 Menschen überhaupt keine Leistungen mehr erhalten. 20 Prozent werden in die Stufe I, 13 Prozent in die Stufe II und 22 Prozent in die Stufe III eingruppiert werden. Nur zwei Bewohner werden dann noch als Härtefall (Stufe IV) gelten.

Behinderte werden von dieser Neufassung der Pflegebedürftigkeit besonders stark betroffen sein, denn sie fallen zum Großteil durch dieses Raster. Ein Blinder oder ein Querschnittgelähmter braucht keine Pflege im Sinne der Pflegeversicherung. Essen, Waschen, Anziehen – das ist für sie ein geringes oder gar kein Problem, zumindest, wenn sie sich in behindertengerechten Räumen aufhalten können. Doch Gespräche, Spaziergänge oder Hilfe in der nicht behindertengerechten Umwelt, bei Arztbesuchen oder Amtsgängen – diese Art der Hilfe gibt es ab dem 1. Juli nicht mehr.

"Junge Behinderte sind in diesem Punkt ein echtes Problem", erklärte die Leiterin der pflegerischen Dienste der Caritas in Essen, Hilldebrand, gegenüber der Neuen Arbeiterpresse. Wohlgemerkt, die Behinderten sind "das Problem", nicht die Pflegeversicherung.

Doch nicht nur die Pflegebedürftigen sind die Leidtragenden. Auch die Pflegerinnen und Pfleger bekommen die zweite Stufe der Pflegeversicherung zu spüren. Nach Berechnungen der AWO ist nach dem 1. Juli bundesweit mit einem Rückgang der jetzigen Heimentgelte um 25 Prozent zu rechnen.

Als Folge dieser rigorosen Kürzung wird in erster Linie ein weiterer Arbeitsplatzabbau zu sehen sein: Jeder fünfte Arbeitsplatz ist laut AWO gefährdet. Dies hat wiederum den Effekt, daß die Pflegerinnen und Pfleger nur noch das Allernötigste erledigen können. In der Praxis wird dies dann so aussehen, daß die Pflegekräfte während der gesamten Arbeitszeit nur noch mit Füttern und Saubermachen beschäftigt sind. Am Ende eines Gangs angelangt, müssen sie vorne von neuem beginnen – und die Patienten werden im Fließbandverfahren abgefertigt.

Zweitens werden die Heime gezwungen, verstärkt auf den Einsatz von unausgebildeten und daher billigeren Kräften zurückzugreifen, wollen sie nicht wegen "Unwirtschaftlichkeit" geschlossen werden. Nebenbei wird damit auf diesem Weg ein vom Bundesministerium seit langem verfolgtes Ziel durchgesetzt, nämlich die Abschaffung der heute geltenden Heimpersonalverordnung, die eine fünfzig-prozentige Besetzung der Stellen mit Pflegefachkräften vorschreibt.

Wie immer, wenn sich das "Marktprinzip" Bahn bricht, sind die Leidtragenden die Arbeiter, hier in Person der Pfleger und Gepflegten; die Profiteure sind die Unternehmer, durch den Wegfall der Pflegeleistungen in der gesetzlichen Krankenkasse. Die Pflegeversicherung zahlen zu hundert Prozent die Beschäftigten, wenn nicht – wie in einigen Bundesländern – ganz direkt, dann durch den Wegfall eines Feiertages.

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