Lebhafter Protest gegen Kürzungen bei der Altenpflege

An die 10.000 Senioren, Pfleger und andere im Bereich der Altenpflege Beschäftigte demonstrierten am 2. September 1997 in Köln.

Anlaß waren die drastischen Kürzungen, die von den Pflegekassen mit Rückendeckung der Bundesregierung für 1998 geplant werden.

Veranstalter waren die Aktion "Altenpflege wehrt sich" von drei Altenheimen in Gronau, die Gewerkschaft ÖTV und die Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohfahrtspflege in Nordrhein-Westfalen. Aus zahlreichen Altenheimen des Landes waren junge und alte Demonstranten mit Bussen angereist, betroffene alte und kranke Menschen ebenso wie ihre Pfleger und Heimangestellten.

Bereits in den zwei Jahren seit Einführung der Pflegeversicherung ist das Pflegepersonal wegen eingefrorener Pflegesätze schleichend abgebaut worden. Mit der geplanten Einführung eines Standard-Pflegesatz-Modells (SPM) ist nun vorgesehen, die Pflegesätze bundeseinheitlich neu zu regeln, was in Nordrhein-Westfalen eine Absenkung um 30 Prozent bedeuten wird.

Mindestens 20 bis 30 Prozent des Personals müßten dann eingespart werden, ließen die Träger der vollstationären Pflegeeinrichtungen bereits verlauten.

Zahlreiche Sprecher auf der Kundgebung in Köln hoben immer wieder hervor, daß schon unter den jetzigen Bedingungen eine menschenfreundliche Pflege kaum mehr möglich ist. Der Trend zurück zur "Verwahranstalt" werde immer stärker.

Schon jetzt berücksichtigt der Medizinische Dienst der Krankenkasse (MDK) bei der Feststellung der Pflegestufe und damit des monatlichen Finanzaufwands pro Pflegefall Fälle von seelischen Störungen, geistiger Verwirrtheit oder Orientierungsschwächen grundsätzlich nicht! Alte Menschen, die davon betroffen sind, bekommen eine Pflegeversorgung nur dann bezahlt, wenn sie auch einen entsprechenden körperlichen Defekt aufweisen. Mit der gestiegenen Lebenserwartung ist aber der Anteil der Pflegebedürftigen, die geistig verwirrt sind, psychische Hilfen benötigen oder Orientierungshilfen im täglichen Leben, außerordentlich angestiegen, nämlich auf rund 40 Prozent. Ihre Pflege wird seit Einführung der Pflegeversicherung nicht mehr bezahlt oder auf die Verwandten, sofern vorhanden, abgeschoben.

Auch Gespräche, gemeinsame Spaziergänge und andere Arten der menschlichen Kommunikation werden grundsätzlich nicht mehr bezahlt und können daher von dem reduzierten Personal angesichts des Arbeitsdrucks nicht mehr geleistet werden.

Eine Auszubildende einer Altenpflegeschule in Duisburg berichtete in einem Redebeitrag auf der Kundgebung, daß nichts von dem, was sie in der Schule theoretisch über die Ziele der Altenpflege gelernt habe, in der Praxis auch nur annähernd noch verwirklicht werden könne:

"Gespräche und umfassende Betreuung sind nicht mehr vorgesehen und in der Praxis auch nicht realisierbar. Die Pflege muß wieder unter dem Motto ,still, satt und sauber' durchgeführt werden und selbst das entspricht nicht den Tatsachen. Die alten Menschen sind allenfalls noch satt, aber sie sind oftmals nicht sauber und schon gar nicht still; sie sind unzufrieden und äußern ihren Unmut. Sie können sich mit den derzeitigen Verhältnissen am allerwenigsten zufriedengeben."

Als Sprecher der Gewerkschaften trat Harry Fuchs, Sozialexperte und Vorsitzender des Gewerkschaftsausschusses der ÖTV auf. Auch er beklagte ausführlich die immer schlechteren Verhältnisse in der Altenpflege seit Einführung der Pflegeversicherung, insbesondere die Orientierung der Pflegesätze und die Einstufungspraktiken des Medizinischen Dienstes rein nach den Gesichtspunkten der Kostenreduzierung für die Kassen.

Er erinnerte an die Verantwortung des Bundesarbeitsministers Blüm, von dessen Zustimmung fast alle internen Regelungen der Pflegeversicherung, auch die Neufestsetzung der Pflegesätze abhingen. "Wenn es uns trotz aller Proteste und Kundgebungen nicht gelingen sollte, die Absenkung der Pflegesätze zu verhindern, dann wird diese Bundesregierung im nächsten September die Quittung bekommen! Pfleger und Pflegebedürftige werden dann wissen, wo sie ihr Kreuzchen zu machen haben!" rief Harry Fuchs.

Dieser indirekte Wahlaufruf des Sozialdemokraten Harry Fuchs für die SPD baute offensichtlich darauf, daß alle Teilnehmer der Kundgebung eine Tatsache vergessen: der Ausschluß von alten Menschen mit Orientierungsschwächen, geistiger Verwirrtheit oder psychischen Krankheiten von den Leistungen der Pflegeversicherung, der drastische Lohn- und Personalabbau, die Verwandlung der Heime in Verwahranstalten – all diese Folgen der Pflegeversicherung waren schon vor ihrer Einführung bekannt und in Fachzeitschriften und anderen Medien ausführlich dargelegt und heftig debattiert worden. Und dennoch hatte niemand anderes als die SPD 1994 ihre Stimme dem Blümschen Gesetzeswerk gegeben und so die Einführung der Pflegeversicherung ermöglicht.

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