Der Stalinismus und der Aufstieg der chauvinistischen Hindu-Partei BJP

Die politische Ausstrahlung der fünf atomaren Sprengsätze, die von der indischen Regierung gezündet worden sind, unterstreicht die Notwendigkeit, daß sich die indischen Arbeiter eine neue Perspektive aneignen, um der chauvinistischen Hindu-Partei BJP und der „neuen Wirtschaftspolitik" der indischen Bourgeoisie entgegenzutreten. Beide zielen darauf ab, die Menschen und Ressourcen in Indien immer direkter der imperialistischen Ausbeutung zur Verfügung zu stellen.

Die regierende BJP hat die Atomtests und die folgenden Auseinandersetzungen mit den USA mit einigem Erfolg benutzt, um Nationalchauvinismus zu schüren, sich mit „anti-imperialistischen" Federn zu schmücken und ihre prekäre Machtstellung zu festigen. Die Zeitschrift „Frontline", die der BJP-Regierung kritisch gegenübersteht, schrieb dazu: „Zu sagen, daß die Tests Euphorie auslösten, wäre noch stark untertrieben."

Unter anderem verfolgt die BJP das Ziel, Unterstützung für das Militär zu mobilisieren, so daß sie der von Pakistan unterstützten Bewegung für die Lostrennung Kaschmirs und verschiedenen separatistischen Bewegungen im Nordosten Indiens mit größerer Härte entgegentreten kann.

Doch in erster Linie richten sich der Militarismus und die Hetztiraden der BJP auf Pakistan gegen die eigene Arbeiterklasse und andere Gegner ihrer rechten Politik. Die Konfrontation mit Pakistan ist ein abgekartetes Spiel, um die gesellschaftlichen Spannungen zu kanalisieren, gegen einen äußeren „Feind" zu richten und von der unpopulären Wirtschaftspolitik im Lande abzulenken. Dennoch kann es blutiger Ernst werden. Darüber hinaus hofft die BJP, in der Pose des Verteidigers der „Nation" jede Opposition gegen ihre Herrschaft als „Landesverrat" zu brandmarken. Schon jetzt beschuldigen Sprecher der BJP die stalinistischen Parteien, nämlich die Kommunistische Partei Indiens (Marxisten) und die Kommunistische Partei Indiens, der Illoyalität, weil sie nicht wie das gesamte übrige politische Establishment Indiens die Nukleartests gefeiert haben.

Der Konflikt mit der Clinton-Regierung versetzte die BJP in die Lage, die anti-imperialistischen Gefühle in der Bevölkerung auf ihre Mühlen zu leiten, um die wahre Geschichte der Hindu-Chauvinisten um so besser zu vertuschen. Unter britischer Kolonialherrschaft hatten sich die wichtigsten Hindu-Organisationen, die Gesamtindische Hindu Mahasabha und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), gegen die Massenmobilisierung der Kongreßpartei gewandt, weil sie fürchteten, daß die Briten im Gegenzug der muslimischen politischen Elite Vorrechte einräumen würden. In den Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit hatten die RSS und die Vorläuferorganisation der BJP, Jana Sangh, vor allem bessere Beziehungen zu Washington und zur Wall Street gefordert.

Während sie in den letzten zwei Wochen ihre neue, gegen die USA gerichtete Pose zur Schau stellte, traf die BJP-Regierung in Wirklichkeit eine ganze Reihe von Entscheidungen, die ausländische Investoren beruhigen sollten. Sie erteilte neue Bohrrechte für Öl- und Mineralgesellschaften und gab Energiekonzernen zusätzliche Garantien. Presseberichten zufolge sieht der neue, in zwei Wochen zu veröffentlichende Haushaltsentwurf der BJP-Regierung vor, daß die Subventionen für Treibstoff und Dünger zusammengestrichen werden und die Privatisierung öffentlicher Unternehmen vorangetrieben wird.

Die indische herrschende Klasse drängt die Regierung unter Vajpayee, ihre neue Popularität für härtere Schläge gegen die Arbeiterklasse und unterdrückten Massen zu nutzen. „Eine Atomwaffe stand schon lange auf dem Programm der BJP", schrieb der Leitartikler der „India Today" am 25. Mai, „aber auch eine Wirtschaft, die dem Geist des freien Unternehmertums verpflichtet ist. Jetzt ist es an der Zeit, auch das zweite Versprechen einzulösen. Dies erfordert zwar einige harte Entscheidungen - aber eine bessere Stütze dafür, als die gegenwärtige Stimmung, kann sich die Regierung nicht wünschen...

Indiens Schwachstellen sind allgemein bekannt: übermäßige bürokratische Kontrolle, eine irrationale Struktur zur Gewinnrückführung, zu wenige Leute zahlen zu viele Steuern, verschwenderische Subventionen, ein kostspieliger öffentlicher Sektor, und so weiter. Wer diese Zustände angeht, weckt den Widerstand eingefleischter Lobbyisten und den Volkszorn. Deswegen haben die bisherigen Regierungen nur mit dem Problem gespielt. Angesichts des guten Willens, der ihm nach dem Nukleartest entgegenschlägt, hat Vajpayee jetzt die Chance, es besser zu machen. Eine weitere Gelegenheit wird er vielleicht nicht bekommen. Und Indien leider vielleicht auch nicht."

Die indische Bourgeoisie ist sich durchaus der Gefahr bewußt, daß der Militarismus der BJP ihr Land in Abenteuer stürzen könnte, und daß ihr Hindu-Chauvinismus - „ein Volk, eine Kultur, eine Nation!" - soziale Unruhen auslösen könnte, die den indischen Staat noch weiter untergraben würden.

Aber da ihr traditionelles politisches Werkzeug, die Kongreßpartei, ihre Massenbasis verloren hat und die indische Politik in eine Unzahl regionalistischer und kastenbezogener Parteien zersplittert ist, rechnen sich einflußreiche Schichten des indischen Kapitals aus, daß die BJP momentan am besten in der Lage ist, mit einer starken Regierung Privatisierungen, Deregulierung, Sozialkürzungen, die Aufhebung von Preiskontrollen und Subventionen sowie der Beschränkungen von Landbesitz durchzusetzen. Zum einen verfügt die BJP mit ihrer hindu-chauvinistischen Ideologie über ein Mittel zur Einigung und Disziplinierung, das den meisten anderen bürgerlichen Organisationen fehlt. Zum anderen verfügt sie mittels ihrer engen Verbindungen zur RSS - einer zentralisierten, aus „Freiwilligen" bestehenden Massenorganisation, die ihre Mitglieder militärisch ausbildet und seit langem mit ethnisch oder rassistisch motivierten Überfällen in Verbindung gebracht wird - über eine Bürgerkriegstruppe, die gegen eine Bewegung der Arbeiterklasse eingesetzt werden kann.

Die Aufhebung aller Beschränkungen für die Ausbeutung Indiens durch transnationale Konzerne wird Dutzende Millionen Arbeiter, Bauern, Landarbeiter, Handwerker und Kleinhändler ins Elend stürzen. Alles hängt davon ab, welche Perspektive die unvermeidliche Bewegung gegen diese Zustände anleiten wird.

Die Rolle der stalinistischen Parteien

Weshalb war die hindu-chauvinistische BJP in der Lage, wenn auch vorübergehend, die anti-imperialistischen Gefühle der Massen auf ihre Mühlen zu lenken? Um das zu verstehen, müssen die indischen Arbeiter sich kritisch mit der Rolle des Stalinismus auseinandersetzen.

Die KPI und die KPI (M) haben Jahrzehnte lang die Theorie verbreitet, daß die imperialistische Unterdrückung die gegensätzlichen Gesellschaftsklassen in Indien zu einem einheitlichen Ganzen verbinde, und daß die Arbeiterklasse die „progressiven" bzw. „anti-imperialistischen" Teile der nationalen Bourgeoisie unterstützen müsse.

Die jüngste Ausgeburt dieser Perspektive war eine Erklärung des Politbüros der KPI (M), in der „alle Teile der Bevölkerung" aufgerufen wurden, „jede Einschüchterungstaktik gegen Indien einmütig zurückzuweisen" - es war im Grunde ein Aufruf zur Einheit mit der BJP-Regierung. Zuvor hatten die KPs das „nationale Projekt" der Kongreßpartei unterstützt, mit dem die Stellung der nationalen Bourgeoisie durch hohe Zollmauern und möglichst große Autarkie geschützt werden sollte. Die KPI ging dabei so weit, die Verhängung des Kriegsrechts zu unterstützen, die Indira Gandhi während des „Notstands" von 1975-77 anordnete.

Die imperialistische Unterdrückung schmiedet die Klassen in Indien nicht zusammen, sondern verschärft den Gegensatz zwischen ihnen. Nach einem halben Jahrhundert der Unabhängigkeit unter bürgerlicher Herrschaft ist die Ungleichheit in Indien größer denn je zuvor, die kapitalistische Ausbeutung hat sich mit dem unterdrückerischen Kastensystem verwoben, mit faktischer Leibeigenschaft und anderen Überresten des Feudalismus. Der indische Nationalismus bringt nicht eine gemeinsame Opposition gegen den Imperialismus zum Ausdruck, der über die Klassengrenzen hinwegginge. Er ist die Ideologie der nationalen Bourgeoisie.

Millionen indische Arbeiter und Bauern kämpften einst gegen die britische Kolonialherrschaft, weil sie erkannten, daß sie ein Ausbeutungssystem darstellte. Die Unabhängigkeit war in ihren Augen der Weg zur Erfüllung ihrer demokratischen und sozialen Forderungen. Selbst heute schlagen sich die anti-imperialistischen Gefühle der Massen bisweilen noch in verzerrter Form im Nationalismus nieder. Historisch gesehen jedoch dient der indische Nationalismus dazu, die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen der Bourgeoisie unterzuordnen. Er verschleiert den wahren Charakter des historischen Gegensatzes zwischen der indischen Bourgeoisie und dem Imperialismus, der einfach darin besteht, daß die nationale Bourgeoisie freie Hand zur Ausbeutung der indischen Massen verlangt.

Wenn die BJP in der Lage war, den indischen Nationalismus auszunutzen, so vor allem deshalb, weil die KPs, geprägt von der stalinistisch-nationalistischen Schule, seit langem die Vorstellung verbreiten, der indische Nationalismus sei eine klassenneutrale Ideologie. Da die Aufgaben der demokratischen Revolution noch ungelöst seien, so besagt diese Theorie, sei die Zeit für den Sozialismus und für den unabhängigen politischen Kampf der Arbeiterklasse noch nicht reif.

Die bittere Geschichte Indiens im zwanzigsten Jahrhundert beweist das genaue Gegenteil. Während die Stalinisten die indische Republik als Bollwerk gegen den Imperialismus feiern, bedeutete ihre Gründung nicht die Verwirklichung, sondern den Verrat an der anti-imperialistischen Bewegung, die Indien in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts erschüttert hatte. In ihrem Bestreben, die Zügel der Macht in ihre eigenen Hände zu bekommen, und zutiefst erschrocken über die Aufstandsbewegungen der Arbeiterklasse unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, schloß die indische Bourgeoisie 1947 ein Abkommen mit dem britischen Imperialismus, nach dem der indische Subkontinent nach Religionen geteilt wurde und die dringenden Aufgaben der demokratischen Revolution - die nationale Einigung und die Abschaffung des Großgrundbesitzes und der Kastenunterdrückung - ungelöst blieben.

Hervorgegangen aus diesem Verrat an den demokratischen Bestrebungen der Massen, diente der indische kapitalistische Staat, nicht weniger als die übrigen 1947-48 in Südasien gegründeten Staaten, als Brutstätte für jede Art von Chauvinismus. Dennoch behaupten die stalinistischen Parteien, man könne den religiös oder ethnisch motivierten Chauvinismus mittels des „säkularen" indischen Staates bekämpfen, durch Bündnisse mit allen möglichen auf Regionen, Kasten oder einfach Gangsterbanden gestützten Politikern, oder durch eigentlich undemokratische Maßnahmen der Verfassung, wie die Präsidialherrschaft. Ihre Opposition gegen die Versuche der BJP, alle Positionen im Staate mit RSS-Mitgliedern zu besetzen und demokratische Rechte zu beschneiden, ist vor diesem Hintergrund völlig ohnmächtig.

Während der letzten zehn Jahre sind die stalinistischen Parteien noch weiter nach rechts gerückt. Sie haben sich für die „neue Wirtschaftspolitik" der Bourgeoisie ausgesprochen und gemeinsam mit deren Vertretern die Regierungspolitik so umgearbeitet, daß das ausländische Kapital möglichst zufriedengestellt wird - sowohl in der Hauptstadt, wo sie als wichtigste Ideologen und Strategen der Regierung dienten, als auch in den Bundesstaaten, wo sie selbst die Regierung stellten - in West-Bengalen, Kerala und Tripura.

Die BJP bildet eine ernste Gefahr für die Arbeiterklasse und die unterdrückten Massen. Wenn die Bourgeoisie sie jetzt direkt zur Einschüchterung der Arbeiterklasse einsetzt, so tun die stalinistischen Gewerkschafts-, Partei- und Staatsfunktionäre dasselbe auf indirekte Weise - sie erzählen den Arbeitern, daß sie, um die extreme Rechte zu bekämpfen, zunächst alle möglichen bürgerlichen Parteien unterstützen müßten und sich nicht gegen die Reorganisierung der indischen Wirtschaft unter den Fittichen des indischen und internationalen Kapitals auflehnen dürften.

Die Auszählung der Stimmen bei den Wahlen für das 12. Nationalparlament im vergangenen März hatte kaum begonnen, da kündigte der Generalsekretär der KPI (M) Harkishen Surjeet auch schon an, daß seine Partei bereit sei, eine Regierung der Kongreßpartei unter Sonja Gandhi zu unterstützen. Zum Verdruß der Stalinisten wollte die Kongreßpartei die Regierungsverantwortung aber gar nicht übernehmen. Entsprechend dem gegenwärtigen Kalkül der Bourgeoisie bot sie statt dessen einer Koalition unter Führung der BJP ihre „konstruktive Unterstützung" an. Direkt beteiligen wollte sie sich nicht, um sich als Ersatzregierung bereitzuhalten, falls die BJP scheitern sollte.

Und was die früheren Verbündeten der Stalinisten in der „Vereinigten Front" angeht, so haben sie die Atompolitik der BJP noch begeisterter gepriesen, als die Kongreßpartei. In einem Presseartikel hieß es: „Die nicht-linken Parteien der Vereinigten Front haben die atomare Aufrüstungspolitik noch stärker unterstützt, als die Kongreßpartei. Der frühere Premierminister Gujral beansprucht für sich und seine Regierung einen bedeutenden Anteil des Ruhmes für die Explosionen..."

Die Stalinisten behaupten, man müsse erst den ethnisch oder religiös motivierten Chauvinismus zurückschlagen, bevor die „neue Wirtschaftspolitik" der Bourgeoisie wirklich greifen könne. In Wirklichkeit ergibt sich der Chauvinismus jedoch unmittelbar aus dieser Politik. Je mehr die nationale Bourgeoisie als direkter Partner des Imperialismus agiert, desto stärker muß sie versuchen, alle möglichen Spaltungen in die Massen hineinzutragen, um ihre Opposition zu zersplittern und zu kanalisieren.

Der Kampf gegen Chauvinismus und Militarismus kann nur auf der Grundlage eines Programms geführt werden, das die Arbeiter und Unterdrückten sämtlicher Religionen und nationaler Gruppen vereint - des anti-kapitalistischen Programms, das soziale Gleichheit zu seinem Grundsatz erhebt. Die indische Socialist Labour League, die in politischer Solidarität mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale zusammenarbeitet, kämpft für den Bruch der Arbeiterklasse von den Parteien der Bourgeoisie. Sie vertritt den Standpunkt, daß sich die Arbeiterklasse an die Spitze der wachsenden Opposition gegen die Unterordnung Indiens unter die Diktate des internationalen Kapitals stellen muß.

Wirkliche Befreiung vom Imperialismus und wahre Demokratie - die Abschaffung des Kastensystems und der Großgrundbesitzer, die demokratische Vereinigung aller Völker Südasiens - kann nur im Kampf gegen die nationale Bourgeoisie erreicht werden. Das bedeutet die Schaffung einer Arbeiterregierung, die sich mit dem sozialistischen Kampf der internationalen Arbeiterklasse verbrüdert. Der wahre Verbündete der indischen Massen im Kampf gegen den Imperialismus ist nicht, wie die Stalinisten stets behauptet haben, die nationale Bourgeoisie, sondern die internationale Arbeiterklasse.

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